Mal wieder zu posten vergessen. Dann als Riesending...
Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Amerikanische Mythen, Letzter Ronin, Gottes Monster, Sonderkommando Auschwitz, Hungerspiele 1-3, Songbirds and Snakes
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –
Bücher
Eine der großen Überraschungen des TV-Jahres 2023 war die Apple-Serie "Silo". Wie ich im Podcast mit Sean T. Collins ausführlich besprochen habe, überzeugt die Serie durch großartiges Worldbuilding, starke Charaktere und großartige Schauspielleistungen. Auch die Struktur der Geschichte und ihr Pacing sind großartig, kurz: unbedingte Sehempfehlung. Ich erfuhr erst nachdem ich die Serie gesehen hatte, dass diese auf einem Buch basiert (man sollte die Credits aufmerksamer verfolgen). Dieses Buch hat eine ähnliche Geschichte wie "The Martian" hingelegt: ursprünglich hatte es seine Karriere als Onlineroman begonnen, wurde dann von einem Publisher entdeckt und mauserte sich zum Bestseller. In Howeys Fall war es das erste Kapitel, das nur als Kurzgeschichte konzipiert war (und das die erste Folge der Serie bildet), das online veröffentlicht wurde und aus dem dann der Rest des Buches entstand. Wie es sich im Gegensatz zur Serie verhält und ob es als eigenständiges Werk überzeugen kann, soll die folgende Rezension zeigen. Warnung: ich spoilere die Geschichte und damit auch große Teile der Serie.
Die Handlung beginnt mit dem Sheriff (Holston) des unterirdischen Silos. Nach dem Verlust seiner Frau vor drei Jahren ist er psychisch angegriffen und erklärt, er wolle nach draußen. Das ist für die Silobewohnenden ein Kapitalverbrechen: die Welt draußen ist giftig und tödlich. Wer nach draußen will, wird zum "Putzen" nach draußen geschickt: die durch die Umweltbelastung ständig verschmutzenden Linsen der Außenkameras des Silos werden von Todeskandidat*innen geputzt, die kurz darauf an der Außenwelt versterben. Holston aber glaubt nicht daran, dass die Außenwelt tatsächlich so tödlich ist. Tatsächlich sieht er draußen eine blühende Landschaft - ehe er unter heftigen Krämpfen stirbt.
Das Silo braucht daher einen neuen Sheriff. In seinen Unterlagen hat Holston die Mechanikerin Juliette (genannt Jules) für den Posten ausersehen. Die Präsidentin des Silos, Joan, unternimmt mit Holstons Deputy Marnes eine Wanderung von der Spitze des Silos, in dem die administrative Elite lebt, bis ganz nach unten, wo die Mechaniker*innen den Laden am Laufen halten. Jules akzeptiert den Job unter der Bedingung, dass Joan einem "Energieurlaub" zustimmt: einer Teilabschaltung des Generators, um diesen endlich zu reparieren. Bisher hatte die Regierung dies aus Furcht vor Unruhen nicht zugelassen. Die Unruhen treten denn auch nicht ein und der Generator wird repariert, so dass Jules alsbald ihren Job antreten kann. Sie hat allerdings von Beginn an einen Gegner im Chef der IT-Abteilung, Bernard, der einerseits böse auf sie ist, weil sie vor einigen Jahren Hitzeschutzband aus den Beständen der IT stahl (weil die für Mechanik vorgesehenen Bestände minderwertig sind) und ihr nicht vertraut, der andererseits aber keine Abschaltung der Serverinfrastruktur akzeptieren möchte. Jules ihrerseits ist keine Freundin von IT, die zwei Drittel der Energie des Silos verbraucht.
In der Folgezeit beginnt Jules mit Ermittlungen zum Tod Holstons - und einer geheimgehaltenen Affäre vor einigen Jahren. Immer wieder sind Menschen der Überzeugung, dass die Wirklichkeit nicht die ist, die ihnen die Silo-Regierung vorgaukelt. Dass die Präsidentin einem Giftanschlag zum Opfer fällt und Marnes kurz darauf ebenfalls ermordet wird, löst den Eindruck einer Verschwörung nicht unbedingt. Während sie versucht, Licht in das Dunkel zu bringen und diverse Klassenantagonismen zu bewältigen hat, freundet sich Jules mit Lucas an, einem IT-Techniker, der in seiner Freizeit versucht, das Geheimnis der hellen Punke am Himmel zu lösen und Sternenkarten zeichnet. Als Jules zu hinterfragen beginnt, was eigentlich in IT alles passiert und ob es nicht vielleicht doch eine Verschwörung gibt, hat Bernard genug. Der mittlerweile amtsführende Präsident zwingt sie zum Rücktritt und lässt sie kurz darauf verhaften und zum Putzen verurteilen. Ihre starken Beziehungen zu den Leuten in der Versorgung und den Freundschaften in Mechanik verdankt Jules denn aber ihr Leben: sie ersetzen das absichtlich schlechte Material der Schutzanzüge mit vernünftigem, so dass Jules die Welt draußen überleben kann.
Dabei zeigt sich, dass die Helme der "Putzenden" ein Hologramm enthalten, das eine unzerstörte Welt vorgaukelt. In Wahrheit aber ist die Welt tatsächlich so tödlich und zerstört, wie die Siloführung behauptet. Das Geheimnis ist ein anderes: es gibt noch viel mehr andere Silos. Jules dringt am Ende ihres Sauerstoffs und ihrer Kräfte in ein benachbartes ein, nur um festzustellen, dass dort niemand mehr lebt. Die Struktur ist dieselbe wie in ihrer Heimat, aber es gab einen Aufstand, dem die ganze Population zum Opfer fiel - zumindest fast. Auf ihrem Streifzug durch die Dunkelheit begegnet sie Jimmy, dem scheinbar einzigen Überlebenden, der seit über einem Jahrzehnt im Silo überlebt. Mit ihm versucht sie, den Generator freizulegen - was zum Angriff einigerer weiterer Überlebender führt.
Gleichzeitig bricht in ihrem Heimatsilo beginnend in der Mechanik ein Aufstand los. Da Jules sich als erste geweigert hat, die Kameralinsen zu putzen, wurde der fragile gesellschaftliche Konsens des Silos bloßgelegt. Die starre hierarchische Ordnung steht plötzlich in Frage; das Tabu, die Außenwelt aktiv zu ignorieren, bricht zusammen. Unter Führung von Jules' altem Vorarbeiter plant Mechanik den Aufstand und rekrutiert viele weitere Leute. Die Aufständischen schaffen es unbemerkt in die Versorgungsabteilung, die zu rekrutieren ihnen gelingt. Der Plan ist, bis zur IT vorzudringen, diese auszuschalten und Bernard zum Rücktritt zu zwingen und dann die Geheimnisse offenzulegen, so dass das Silo informiert und demokratisch entscheiden kann, wie es weitergehen soll.
In der Zwischenzeit hat Bernard Lucas rekrutiert, der als sein Nachfolger dienen soll, und in die Geheimnisse des Silos eingeweiht. Bernard steht in Kontakt mit den Anführer*innen anderer Silos und erhält die Ordnung aufrecht, die auf einer Art Taktikhandbuch basiert, dem die Silos seit mittlerweile deutlich einem Jahrhundert folgen, um Aufstände zu vermeiden (wie sie Jules' neues Silo zerstört haben). Dabei wird auch die Antwort offengelegt, warum die Welt eigentlich zerstört ist: eine im Niedergang befindliche Großmacht (impliziert werden die USA) baute die Silos, um die eigene Gesellschaft zu retten, und zerstörte den Rest der Welt. Seither sind die Silobewohnenden gezwungen, wie Saatgut in einem Silo (daher der Name) auszuharren, bis sie die Welt einstmals wieder bevölkern können. Bernard erklärt, die Gründungsgeneration des Silos zu hassen, aber keine Wahl zu haben, als ihren Plan auszuführen, weil die Alternative der Untergang sei.
Die technische Überlegenheit von IT, die das Silo künstlich auf einem niedrigeren Stand hielten, wird für alle offenkundig, als die Aufständischen die Abteilung erreichen. Mit ihren improvisierten Waffen und einschüssigen Gewehren haben sie keine Chance gegen die militärische Organisation und automatischen Waffen von IT. Über Wochen erobern die Truppen von IT Stockwerk um Stockwerk zurück. In dieser Zeit kommuniziert Jules zuerst mit Bernard, später dann heimlich mit Lucas. Als die Truppen von IT die letzten Widerstandsnester ausräumen, gelingt es den Mechaniker*innen, über ein improvisiertes Funkgerät Kontakt zu Jules aufzunehmen und dadurch an alle Informationen zu kommen.
Als der Kontakt abbricht, entschließt sich Jules, mit einem konstruierten Anzug zurückzukehren. Die bevorstehende Hinrichtung Lucas', der sich gegen Bernard wandte, will sie als Anlass nehmen, um durch die sich öffnenden Türen ins Silo einzudringen. Der gefährliche Plan gelingt ihr, doch sie muss feststellen, dass nicht Lucas hingerichtet wird, sondern Bernard. Seine eigenen Untergebenen haben sich angesichts des Massakers und der Lügen gegen ihn gewandt. Der Roman endet mit Jules als Interimspräsidentin, die eine schonungslose Aufklärung und eine neue Ära im Geist von Transparenz und Offenheit ankündigt.
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Mit einer der besten Aspekte des Romans (und sogar noch mehr der Serie) ist das Worldbuilding. Das Silo ist ein ungemein glaubhafter und in Details lebendiger Ort. Das Fehlen eines Aufzugs etwa zwingt alle Bewohner*innen, eine zentrale Wendeltreppe zu benutzen (eine mehrtätige Reise, wenn man das komplette Silo durchqueren will!). Das wiederum bedeutet, dass die Geschosse wenig Kontakt miteinander haben und die Macht von IT durch die Informationshoheit gewaltig ist. Auch viele andere Details sind gut durchdacht, was sowohl die technische Funktionsweise (Energie, Nahrung, Fortpflanzung, etc.) als auch die politische Organisation angeht. Das gilt erst Recht für die gesellschaftlich-mentalen Folgen; die Konsequenzen eines generationenlangen Lebens unter Tage mit der höchsten Priorität der Ressourcenkonservation werden in der Stagnation der Gesellschaft und den eingeschränkten Informationen mehr als deutlich.
Es ist nicht sonderlich schwierig, zwischen den Sektionen des Silos ("Deep Down", "Up Top") die Klassenmetapher herauszulesen. Der Aufstand der Mechaniker*innen ist unschwer als Allegorie auf Arbeiteraufstände zu erkennen, die soziale Stratifizierung wird von den Charakteren explizit gemacht. Die Struktur des Silos führt zu einer Überbetonung dieser Klassenunterschiede, da kaum Kontakte zwischen den Ebenen bestehen und die sozialen Schichten sich weitgehend selbst reproduzieren, obwohl ostentativ eine soziale Mobilität möglich ist. All diese Aspekte machen Roman wie Serie für politisch Interessierte zu einem besonderen Vergnügen; dass Howey sich allzu direkter politischer Parallelen enthält, erlaubt ein großes Spektrum möglicher Interpretationen und Lesarten sowohl aus progressiver wie aus konservativer Sicht.
Als Fan der Serie war ich vom Roman jedoch enttäuscht. Die Serie ist tatsächlich wesentlich besser als das Buch. Trotz aller Kreativität Howeys gelingt es ihm nicht, einen guten Roman zu schreiben. Das liegt einerseits an den Figuren. Diese sind meist kaum mehr als Gefäße für Plotfunktionen und agieren nicht als sonderlich interessante Personen. Die Dialoge sind zweckmäßig, die Charakterisierung holzschnittartig. Wesentlich schlimmer aber ist die Offensichtlichkeit, mit der das alles passiert. Während in der Serie das Mysterium über eine komplette Staffel bewahrt wird, erfährt man im Roman bereits direkt zu Beginn, was Holston wiederfährt, und Bernard tritt von Beginn an mit der Subtilität eines besonders weichen Vorschlaghammers auf (was übrigens durch das Hörbuch nicht verbessert wird, in dem er mit schnarrender Bösewichtstimme spricht). Der Charakter Robert Sims aus der Serie fehlt komplett, und mit ihm ein kompletter Plotfaden, der Jules' Nachforschungen überhaupt erst interessant machte.
Viele Plotentwicklungen geschehen zudem quasi off-page oder im Vorbeigehen, ob das die Reparatur des Generators oder das Platzen der Nachforschungen ist. Der Versuch, dem ganzen intertextuelle Relevanz zu geben, indem Jules' Name auf einer Aufführung von Romeo und Julia und der (irgendwie halb verbotenen) Beschäftigung mit Shakespare ist, ist so platt, dass er völlig flach fällt. Die Intelligenz eines unterschätzten Charakters zu zeigen, indem er Shakespeare liest, und die Bösen gleichzeitig dagegen operieren zu lassen, ist nicht eben Zeichen großer Kunstfertigkeit.
Die Handlung im fast verlassenen Silo und der Aufstand leiden umso mehr daran, dass es keine Charaktere gibt, zu denen man als lesende Person einen Bezug aufbauen könnte. Öfter hat man das Gefühl, ein Sachbuch würde dem Ganzen mehr helfen als die Romanstruktur, mit der Howey nicht allzuviel anfängt. Die ganzen Stärken seines Werkes sind in der Welt des Silos, und jemand bei Apple muss das erkannt haben, denn die Serie baut die Charaktere und die Handlung deutlich aus und verwandelt sie in ein kleines Meisterwerk, während der Roman mich zwar durch das "ich will wissen, was dahintersteckt und wie es ausgeht" durch die Lektüre zu ziehen vermag - aber eben nicht mehr.
Suzanne Collins – The Ballad of Songbirds and Snakes (Hörbuch)
Suzanne Collins – Das Lied von Vogel und Schlange (Hörbuch)
The Ballad of Songbirds and Snakes Blueray
Prequels sind ein beliebtes Genre, besonders in Hollywood. Sie bauen auf einer etablierten IP auf und bringen die begehrte „brand recognition“ und damit ein garantiertes Publikum mit. Gleichwohl sehen vor allem Kritiker*innen mit großen Vorbehalten auf diese Produkte: allzu oft sind sie nicht in der Lage, Relevantes zur ursprünglichen Geschichte beizusteuern und leiden unter der Last der Ursprungsgeschichte. Wie spannend schließlich kann es sein, der origin story des Antagonisten der „Tribute von Panem“-Reihe, Präsident Snow, zu folgen? Die Antwort auf die Frage „Warum wurde der Antagonist böse?“ treibt zwar mittlerweile zahllose mehr oder minder gelungene Projekte an, führt aber allzu oft zu übermäßig banalen Ergebnissen. Wurde Darth Vader wirklich eine interessantere Figur, seit wir wissen, dass er den Tod seiner Geliebten fürchtete? Die verhaltenen Reaktionen auf J. K. Rowlings origin story Dumbledores sprechen auch eine deutliche Sprache. Entsprechend skeptisch war ich gegenüber Collins‘ neuem Werk, das – quasi sofort mit Filmdeal – zu erklären ansetzt, warum der Bösewicht der Serie böse wurde.
Es ist das Jahr der zehnten Hungerspiele, 64 Jahre vor den Geschehnissen der „Die Tribute von Panem“-Romanreihe, die Suzanne Collins berühmt gemacht hat und die mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle verfilmt wurde. Die Wunden der „dunklen Tage“ und des mörderischen Kriegs zwischen den Distrikten und dem Kapitol sind noch immer frisch. In Reaktion auf die Rebellion hat das Kapitol verfügt, dass jedes Jahr zwei Jugendliche aus jedem Distrikt bis zum Tod gegeneinander zu kämpfen haben, als rituelle Erinnerung an die dunklen Tage und Garantie, dass die Distrikte nicht erneut einen Aufstand beginnen. Doch die „Hungerspiele“ sind in der Krise: die Einschaltquoten sinken beharrlich, und nach zehn Jahren steht immer mehr in Frage, ob Personen, die zum Zeitpunkt der Rebellion zwischen zwei und acht Jahren alt waren, wirklich für die Vergehen ihrer Eltern in den Tod geschickt werden sollten. Es ist in dieser Dynamik, in der oberste Spielmacherin Volumnia Gaul eine radikale Innovation einführt: der Abschlussjahrgang der Akademie soll als Mentoren für die Tribute fungieren und dafür sorgen, dass diese ein Spektakel bereiten, anstatt sich wie bislang binnen Minuten einfach nur abzuschlachten.
Einer dieser Absolvent*innen ist Coriolanus Snow. Snow entstammt einer altehrwürdigen Familie des Kapitols, doch diese verlor im Krieg ihr Vermögen. Der Tod des Vaters sorgte dafür, dass Coriolanus und seine Cousine Tigris Waisen wurden. Die einzige Chance, den Stand in der Gesellschaft zu erhalten, sieht Coriolanus im Plynth-Preis, einer Auszeichnung für den Jahrgangsbesten – die durch Gauls neuen Einfall nun mit dem Erfolg der Hungerspiele verknüpft ist. Leider besitzt Snow die erbitterte Feindschaft des Rektors, Casca Highbottom, der alles daran setzt, ihn scheitern zu sehen. Deswegen bekommt Coriolanus als Tribut das Mädchen aus Distrikt 12 zugewiesen – traditionell einen der Tribute mit den schlechtesten Chancen. Doch dieses Jahr ist das anders: wegen einer Intrige im Distrikt wurde die Covey (eine Art Sinti-Gemeinschaft) Lucie Gray Baird ausgewählt, deren Talent für Auftritte eine Chance zu offenbaren scheint.
Während Snow versucht, seinen Tribut im experimentellen Umfeld der Spiele fit zu machen, beginnt sich zwischen den beiden eine immer intimere Beziehung zu entwickeln. Bald befindet sich Coriolanus im offenen Regelverstoß gegen die Spiele, um Lucy Grays Leben zu retten. Gleichzeitig entwickelt er eine engere Beziehung zu seinem unbeliebten Klassenkameraden Sejanus Plynth, dessen Vater als Kriegsgewinnler den Aufstieg aus Distrikt 2 ins Kapitol schaffte – wo er beständig mit dem Snobismus der Elite und seinen eigenen Schuldgefühlen zurechtkommen muss. Sejanus protestiert als einziger offen gegen die unmenschlichen Spiele und kritisiert das Kapitol und seine Menschenverachtung.
Als Lucy Gray wider Erwarten die Spiele gewinnt, wird Coriolanus als Friedenswächter zwangsverpflichtet. Er lässt sich nach Distrikt 12 versetzen, in der Hoffnung, dort Lucy Gray wiederzubegegnen. Auch Sejanus hat sich zu den Friedenswächtern gemeldet, um so dem sozialen Druck des Kapitols zu entkommen. In seiner Naivität lässt er sich mit der Widerstandsbewegung in Distrikt 12 ein und droht, auch Coriolanus und Lucy Gray ins Verderben zu reißen. Coriolanus verrät seinen „Freund“, der prompt hingerichtet wird, doch ein Mord an der Tochter des Bürgermeisters, die drohte, seine Verwicklungen öffentlich zu machen, zwingt ihn zur Flucht mit Lucy Gray: würden die Tatwaffen gefunden, ließe ihm die DNA-Analyse keine Chance. Als er mit Lucy Gray zufällig auf die Waffen stößt, bietet sich ihm die Chance zur Rückkehr und zum Aufstieg als Offizier der Friedenswächter. Doch Lucy Gray ist das einzige lose Ende dieser Gleichung…
Coriolanus Snow beginnt die Geschichte in einem Zustand, der eher unerwartet sein dürfte: er ist der Sympathieträger und Protagonist der Geschichte. Dass Collins dieses Kunststück gelingt, liegt an zwei zentralen Faktoren. Der eine ist eine kluge strukturelle Entscheidung: Snow ist ein Underdog. Der Armut der Familie und der Kampf gegen den sozialen Abstieg bilden einen ebenso verständlichen wie empathiefördernden Rahmen. Wer schließlich möchte nicht, dass er sich gegen seine blasierten und affektierten Klassenkamerad*innen durchsetzt? Sein Verhältnis zu Großmutter und Cousine ist gut, er hat keine offensichtlich bösartigen Charaktereigenschaften. Das ist der eine Punkt.
Der andere ist Collins‘ unbestreitbar größte Fähigkeit als Schriftstellerin, ihr Talent für personale Erzählstrukturen. Die „Tribute von Panem“-Bücher funktionieren ja vor allem deswegen so viel besser als die Filme, weil der unnachgiebige Fokus auf der Hauptperson Katniss Everdeen liegt, deren Ich-Perspektive die einzige ist, die Collins den Lesenden zugesteht. Da Katniss aber eine zutiefst mit Fehlern ausgestattete Person ist (sie ist unempathisch und hat keinerlei Gefühl für die Politik um sie herum), werden die Lesenden konstant mit ihr in die Irre geführt und sind emotional dicht an ihr; da sie (erneut: kluge Struktur) als Fremde im Kapitol und in den Spielen alles neu erlebt, haben wir als Lesende dieselben Erfahrungen wie sie.
Diesen Kniff wendet Collins in ihrem Prequel erneut an. Sie verzichtet auf die Ich-Perspektive, aber Coriolanus bleibt unser einziger Bezugspunkt. Die personale Erzählperspektive enthebt sich jeglicher Wertung, was es notwendig macht, dass wir unser eigenes Verhältnis zu Snow entwickeln. Anders als Katniss mangelt es ihm nicht an Selbstbewusstsein oder Ambition; er konstruiert seine eigene Geschichte, auch vor sich selbst – und damit vor den Lesenden. Das macht die Lektüre so ungemein attraktiv und bereichernd.
Der Abstieg des Protagonisten ist daher auch eher subtil als mit einem Donnerschlag wie das berühmt-berüchtigte „Neeeeeein!“ Darth Vaders. Coriolanus ist von Beginn an kein guter Mensch. Zwar ist er von aufrichtiger Liebe zu seiner Großmutter und Cousine erfüllt, aber er hat keinerlei Empathie für die ärmeren Einwohnenden des Kapitols, von den Einwohnenden der Distrikte ganz zu schweigen. Selbst für seine eigene Klasse empfindet er so gut wie nichts. Seine Welt besteht aus ihm selbst und seinen Aspirationen, denen sich alles unterzuordnen hat. Dass seine Familie genau dies tut – Tigris und seine Großmutter opfern alles für den Erfolg des Jungen – wird von ihm zwar grundsätzlich gewertschätzt, aber auch als natürlicher Zustand wahrgenommen. Die „Ungerechtigkeit“, dass die Snows von ihrer Spitzenposition verdrängt wurden, brennt in ihm wie ein Feuer.
Da wir aber nur seine Perspektive wahrnehmen, ist es verführerisch leicht, diese Sicht zu teilen. Casca Highbottom, der einer der schärfsten Kritiker der Hungerspiele ist, wird so spielend leicht zum bösartigen Antagonisten – weil er genau weiß, wen er vor sich hat. Zum Ende der Handlung wird Highbottoms Befürchtung auf tödliche Weise bekräftigt – nicht, dass es irgendjemandem noch etwas helfen würde. Dabei gibt es durchaus eine Alternative für Coriolanus. Seine Liebe zu Lucy Gray ist durchaus aufrichtig (auch wenn er lange braucht, sie sich einzugestehen), und als er in Distrikt 12 stationiert ist, opfert er ohne zu zögern alles für sie. Es ist Collins’s grandiosem Narrativ zu verdanken, dass der Fall eher ein unbewusster Abstieg ist: solange Coriolanus keine Wahl hat – und seine analytischen Fähigkeiten und zweifellos vorhandene Selbstbeherrschung und taktisches Verständnis ihm dies deutlich machen – tut er das Richtige. Er rettet Sejanus aus der Arena, indem er empathisch die richtigen Knöpfe drückt; er bringt Lucy Gray zum Sieg, indem er clevere Entscheidungen trifft; er gewinnt ihr Vertrauen durch menschliche Zuneigung; und so weiter. Doch sobald er die Wahl hat zwischen dem Glück mit Lucy Gray und dem immer erträumten Zugang zu Macht und Status bricht alles sofort in sich zusammen; mit geringstem Zögern entscheidet er sich für den Zugang zu Macht und Status.
Es ist Lucy Gray, die dies zuerst bemerkt – und die Flucht ergreift. Natürlich gibt Coriolanus ihr die Schuld, ohne sich je einzugestehen, was Lucy Gray in nur einem einzigen, empathischen Moment bemerkte: dass er ein Meister der Selbstrechtfertigung ist. Als sie beinahe spielerisch anmerkt, dass sie das letzte lose Ende ist, protestiert Coriolanus in wohl aufrichtiger Empörung – eine Aufrichtigkeit, die er in diesem Moment real empfindet und die bereits Minuten später nur noch fahle Erinnerung ist, eine dünne Schale normaler menschlicher Emotion, die er jahrelang so überzeugend gespielt hat, dass er sie selbst glaubte.
Am Ende der Geschichte ist dieses Lügengebäude in sich zusammengebrochen, aber Coriolanus Snow geht nur gestärkt darunter hervor. Die schützende Hand Volumnia Gauls über sich und das Plynth-Erbe als finanzielles Polster gibt es keine Notwendigkeit mehr, sich irgendetwas vorzumachen. Die Opferung seines „Freundes“ Sejanus brachte ihm beides, ohne dass ihm den Schlaf rauben würde. Freundschaft ist ohnehin ein Konzept, von dem er sich geistig stets distanzierte; niemals erlaubte er sich vollständig, Freundschaft oder die Liebe zu Lucy Gray zu 100% zu empfinden. Seine eigene Person hinter den Bedürfnissen einer anderen anzustellen, ist für Snow völlig undenkbar.
Es ist Volumnia Gaul, die wie der Imperator in Darth Vaders Werdegang über allem schwebt, wenngleich dies in Collins‘ Erzählung subtiler vonstatten geht. Sie ermutigt Snow über die Frage, wozu die Hungerspiele gut sind, über die Natur der Menschheit nachzudenken. Die psychopathische Spielmacherin erweist sich als prägender Einfluss, der den ideologischen Grundstein für Coriolanus‘ ganzes Weltbild legt, das sich wie das i-Tüpfelchen in seine Persönlichkeit einfasst: Zivilisation, menschliche Beziehungen, Rücksicht, Solidarität, all diese Werte sind nur ein dünner Firnis, der unter dem geringsten Druck zerreißt und ein wildes Biest zum Vorschein bringt. Es ist eine vulgäre Version von Hobbes‘ Menschenbild, das den Leviathan des Kapitols erfordert, der mit eiserner Hand für Ordnung sorgt, weil die Alternative umso schlimmer wäre. Der permanente Krieg lässt sich nicht vermeiden; deswegen müssen die Distrikte in permanenter Armut gehalten werden, müssen die Hungerspiele veranstaltet werden, um sie permanent zu schwächen.
Collins begeht niemals den Fehler, diese Sicht direkt zu verdammen. Es ist eher die subtile Tatsache, dass eine offensichtlich bösartige Person wie Gaul und der spätere Antagonist der „Tribute von Panem“-Serie diese Positionen vertreten – abgesehen vom hoffentlich funktionierenden moralischen Kompass der Lesenden -, der diese auf die andere Spur bringt. Dass die Kritik unartikuliert bleibt, weil Sejanus auf der einen Seite seine moralisch richtige Position mit undurchdachter Naivität vertritt und Highbottom auf der anderen die Vorherrschaft des Kapitols nicht anzuzweifeln vermag und vor allem an seiner persönlichen Schuld leidet, macht es uns leicht, der ausformulierten Variante zu folgen. Collins schafft es so, die Lesenden zu Mittättern zu machen, sie durch Snows Radikalisierungsprozess zu führen und am Ende mit dem flauen Gefühl in der Magengrube stehen zu lassen, dass man gerade mit der Schaffung der „modernen“ Hungerspiele mitfieberte. Man versteht den Gedankengang, die Mentalität der Täter*innen dieses Systems – keine leichte Aufgabe, aber Collins meistert sie mit Bravour.
Ihr gelingt es neben diesem Kern relevanter Ideen, die der Geschichte Bedeutung und Tiefe geben, auch viele Fallen solcher Prequels zu vermeiden. Lucy Gray ist keine Katniss 2.0. Dass sie ebenfalls aus Distrikt 12 stammt, ist eher ein Täuschungsmanöver der Autorin, um mit den Erwartungen des Publikums zu spielen. Gleiches gilt für die Hungerspiele selbst: ihre Genese und Gestalt wird organisch in die Handlung eingepflegt und gleichzeitig glaubhaft gemacht, auf eine Art, die elegant sämtliche Lücken im world building beseitigt, die ich in meiner ursprünglichen Handlungskritik von 2012 beklagt hatte. Genauso wie ihre anderen Romane ist auch die Ballade von Singvögeln und Schlangen unbedingt empfehlenswert.
Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom
Ende der 1960er Jahre begann eine der größten Verwerfungen seit der Industriellen Revolution, die häufig unter „Strukturwandel“ gefasst wird: die Deindustrialisierung Europas zugunsten eines stark anwachsenden Dienstleistungssektors. Der Typus des „Malochers“, der so lange das Bild des Arbeiters bestimmte und der für das Selbstbild der Nachkriegs-Wachstums-Ära so entscheidend war, begann an Strahlkraft zu verlieren. Stattdessen rutschten die westlichen Industriegesellschaften in eine Strukturwandelskrise, aus der sie als Dienstleistungsgesellschaften wieder auftauchten sollten. Lutz Raphael legt mit „Jenseits von Kohle und Stahl“ eine vergleichende Sozialgeschichte, die die Entwicklung ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er Jahre hinein in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nebeneinderstellt. Forschungsansätze verschiedener Art, die den Umbruch „von unten“, aus der Perspektive der Betroffenen, erklären sollen, verknüpft er dabei mit einer klassischen Ereignisgeschichte, die gleichwohl stets die große Thematik im Blick haben soll. Inwieweit dieser Forschungsansatz aufgeht, soll die Rezension klären.
Der erste Abschnitt, „Die Vogelperspektive: Drei nationale Arbeitsordnungen im Umbruch„, beginnt in Kapitel 1, „Industriearbeit in Westeuropa nach dem Boom: Die politökonomische Perspektive„, erst einmal mit Raphaels Versuch, die wirtschaftlichen Grundzüge der Epoche quasi noch aus der Vogelperspektive zu beschreiben. Er sieht einen grundlegenden Prozess der Deindustrialisierung in Westeuropa ab den 1960er Jahren, der aber regional höchst unterschiedlich verlief. Der grundsätzliche Trend der Tertiärisierung, also des Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen, verlief in Großbritannien mit der stärksten Intensität, während in Frankreich und Großbritannien die meisten der neu entstehenden Dienstleistungssektoren an den industriellen Kern gekoppelt blieben. Dieser Prozess lässt sich nur global verstehen, denn er ging Hand in Hand mit der gleichzeitigen Industrialisierung Südostasiens (die gleichwohl außerhalb von Raphaels Studie liegt und daher hier nur referenziert wird). Rapahel bezeichnet dies als eine grundlegende „Neuverteilung“ der industriellen Substanz in globalem Maßstab.
Dies hatte Arbeitsplatzverluste von rund 10% im industriellen Sektor zur Folge, die allerdings zu 20-25% ein Statistikeffekt waren, da die Unternehmen viele Jobs in Tochterfirmen auslagerten, die offiziell Dienstleiter sind. Die grundsätzliche Qualität und Anforderungsprofile dieser Jobs blieben weitgehend erhalten. Rund 50% der Jobverluste entsprachen Verlagerungen in die Billiglohnländer und waren unwiderbringlich verloren, weitere 25% stellten Rationalisierungsopfer dar, die der steigenden Effizienz und dem Siegeszug der Mikroprozessoren geschuldet waren (dazu später mehr).
Die Globalisierung ab den 1980er, besonders aber den 1990er Jahren war hierbei der größte Treiber der strukturellen Verschiebungen, und in diesen beiden Dekaden fand auch der Großteil der Arbeitsplatzverluste statt. In Großbritannien startete der Trend bereits in den 1970er Jahren und hatte wie bereits erwähnt wesentlich durchschlagenderen Effekt. Dagegen entstanden in Frankreich die relativ geringsten Verluste an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. In der BRD waren die absoluten Zahlen wegen der großen Ausgangsbasis – kein Land im Westen war so stark industrialisiert wie Westdeutschland – hoch, aber nur wenige Sektoren (vor allem Textil- und Schwerindustrie) verschwanden vollständig, die meisten blieben erhalten. Das betraf in allen Ländern Schlüsselsektoren (man denke nur an die Autoproduktion in der BRD!) blieben. Vereinfachend gesagt: Für den Binnenmarkt produzierende Branchen blieben, für den Weltmarkt produzierende Branchen gingen. Eine westdeutsche Besonderheit war der weitgehende Bestandserhalt der Werkzeugmaschinenhersteller, die nur hier als Sektor erhalten blieben, weil sie einen Prozess der Hyper-Spezialisierung unterliefen, der ihnen Marktnischen als Weltmarktführer sicherte. Eine Gemeinsamkeit aller drei Länder dagegen war der Bedeutungszuwachs kleiner und mittlerer Unternehmen, was den Anteil an der Industrie anbelangte. Dieser Zuwachs allerdings wurde durch den gleichzeitigen Prozess der Kapitalkonzentration konterkariert, der den Großunternehmen relativ mehr Macht als je zuvor zugestand.
Dazu kam, dass der Bedeutungsgewinn von Mikroprozessoren und Robotern eine riesige Investitionswelle bedeutete, die gewaltige Kapitalmengen erforderte, was wiederum die Großunternehmen begünstigte. In jedem Fall sorgte dieser Modernisierungstrend für massive Produktivitätsgewinne auf Kosten der Beschäftigung. Damit ging auch eine Komplexitätssteigerung der Arbeit einher, die unqualifizierten und niedrigqualifizierten Arbeitskräften ihren unsicheren Aufstieg in die untere Mittelschicht abrupt beendete und in vielen Fällen existenziell gefährdete. Die Adaption dieser neuen Technologien fiel in der Produktion sehr unterschiedlich und wurde nach dem Prinzip trial and error durchgeführt. Wesentlich klarer waren Effekt und Umsetzung in den Unternehmensorganisationen: die Hierarchien wurden flacher, es wurden bestehende Tätigkeiten outgesourced, was zu Arbeitsplatzverlusten führte. Auch dieser Trend aber wurde konterkariert, in dem Fall durch den Bedarf an zusätzlicher, neuer Verwaltung für die komplexer werdenden Lieferketten, die allerdings auch größere Fertigkeitsniveaus erforderten.
Auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik spielten eine wichtige Rolle, weil sie die Profitmargen der Unternehmen veränderte. Die Stagflation, der 1970er Jahre und die Rezession der frühen 1980er Jahre etwa hatte große Auswirkungen auf die Unternehmensbilanzen. Der Umschwung in der Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er Jahre (Thatcher, Mitterand, Kohl) veränderte die Struktur der Wirtschaft ebenfalls grundlegend. In allen drei Nationen führte er zu einer Privatisierungswelle, deren Ausmaß allerdings sehr unterschiedlich war. In Großbritannien waren sie naturgemäß wieder am stärksten, aber hier hatten auch große nationale Unternehmen bestanden, wie es sie etwa in der BRD gar nicht gab. Das Land trieb daher die Entindustrialisierung politisch voran und riss dabei Lücken in die Wirtschaftsstruktur, die durch Importe geschlossen wurden, und setzte auf die Finanzindustrie und den Standort London als neue Wirtschaftstreiber, mit all den bekannten Folgen. Im Gegensatz dazu reagierten die BRD und Frankreich mit Erhaltungssubventionen auf den Prozess und bremsen ihn so sozialverträglich (wenngleich zu hohen Kosten) ab.
Die Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus mochte zwar in Großbritannien ihren Vorreiter gefunden haben, fand aber grundsätzlich in ganz Westeuropa statt. Die Bedeutung des Kapitals wuchs wie bereits beschrieben massiv an und führte zu einer Unterwerfung der Wirtschaft unter den Primat des Shareholder Value und der Banken. Damit ging ein anderes Mindset einher, das ich als Aufstieg der Manager (gegenüber den Unternehmern) beschreiben würde. Auch bei der Internationalisierung der Unternehmensstrukturen war Großbritannien Vorreiter, während Frankreich und Deutschland erst in den 2000er Jahren diesen Prozess nachvollzogen, da vorher starke Verknüpfungen der Unternehmen mit den nationalen Banken bestanden hatten („Deutschland-AG“). Dieser Prozess brachte auch ein deutlich gesteigertes Innovationstempo hervor; Raphael geht darauf nicht ein, aber es ist kein Zufall, dass der Ostblock gerade in dieser Epoche wirtschaftlich abgehängt wurde.
Die beschriebenen Trends bedeuteten für viele Arbeiter*innen das Ende des (möglichen) Aufstiegs in die Mittelschicht und für viele andere den Absturz in die Prekarität. Die Jahre waren von einer deutlichen Zunahme instabiler Erwerbsverläufe gekennzeichnet. In Großbritannien und Frankreich litten besonders die Jugendlichen unter hoher Arbeitslosigkeit; das deutsche duale System integrierte diese im Gegensatz dazu viel besser und hatte daher eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Auch die Lage der Frauen ist bemerkenswert: die Textilarbeiterinnen, die den Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachten, verschwanden weitgehend geräuschlos (ganz anders als die männlich dominierte Montanindustrie). Viele der Opfer dieser Arbeitsplatzverluste fanden sich im deutlich schlechter bezahlten und wesentlich weniger angesehenen Dienstleistungssektor wieder. Dieser etablierte sich in allen drei Ländern für alle Gruppen, aber eben besonders für Frauen.
Zusammengefasst: der Niedergang der traditionellen Industrien schaffte eine Beschäftigungskrise; die Deindustrialisierung war verknüpft mit einer weltweiten Neuverteilung von industriellen Ressourcen; der Finanzmarktkapitalismus übernahm vor allem in Großbritannien das Ruder, während in Frankreich und Deutschland Spielräume und Idiosynkratien erhalten blieben; ein genereller Rückzug der Rolle des Staates in der Wirtschaft war zu beobachten; und Deutungskämpfe um all diese Geschehnisse brachen aus – die Raphael in Kapitel 2 näher untersucht.
Kapitel 2, „Der Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen„, schaut dann näher darauf, wie die Deutungskämpfe um die in Kapitel 1 geschilderten Prozesse abliefen. Grundsätzlich postuliert Raphael eine Problematik, das „Meinungswissen“ (also das Wissen der Menschen darüber, wie sie Meinungen bilden, wobei dieses Wissen unterbewusst abgespeichert und abrufbar ist) über lange Zeiträume klar zu erfassen. Das macht jede Untersuchung dieses Gegenstands zwangsläufig schwierig.
Er rät in jedem Fall zu Vorsicht bei klaren Siegesnarrativen, etwa für den Neoliberalismus; die reale Lage war viel differenzierter und lässt sich nicht so leicht vereinfachen. Der Neoliberalismus war zwar ab den 1970er Jahren im Aufschwung, aufbauend auf der Idee, dass ein jede*r des eigenen Glückes Schmied*in sei, wurde aber in jenen Jahren vor allem durch das allgemein verbreitete Krisengefühl befeuert. Er bot aber keine klaren Handlungsanweisungen, weswegen die mit ihm verbundenen Schlagworte eher diffus waren („Modernisierung“, „Dienstleistungsgesellschaft“).
Nach diesen grundlegenden Überlegungen wechselt Raphael in die nationalen Perspektiven. Die Analysen waren in Großbritannien immer klassenzentriert, mit einer entsprechenden Sprache. In Deutschland (Ost wie West) dagegen zog man aus Weimar die Lektion, keinen Gegensatz von Nation und Proletariat mehr zuzulassen und vermied daher größtenteils solche Sprache in der Mobilisierung der Arbeiterklasse. Die Idee vom „Industriebürger“ ersetzte die des „Industriearbeiters“. In Frankreich schließlich waren jahrzehntelang Kleinbürger der zentrale Bezugspunkt gewesen. Die Arbeiter rückten nur kurz in der Boomphase in die öffentliche Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit ruhte stets auf einem prekären Kompromiss der Konservativen und der „Klassenparteien“, der mit dem Ende des Booms wieder aufgekündigt wurde.
Daher sind die amtlichen Sozialdaten nur schwer vergleichbar. In Frankreich wurden die Arbeiter durch kommunistische Wahlerfolge aufgewertet, so dass die Gesellschaft ab 1947 in fünf Klassen eingeteilt wurde: cadres (die Elite), professions intermédiaires (höhere Angestellte), employés (Angestellte), ouvriers (Arbeiter), agriculteur/artisans/indépendants (Bauern/Künstler/Unabhängige, oder auch schlicht: Sonstige). Diese Anerkennung einer klaren Klassenstruktur macht die französische Taxonomie der britischen ähnlicher als der westdeutschen. Hier hab es die professional occupations, intermediate occupations, skilled occupations, partly skilled occupations und unskilled occupations. Versuche unter New Labour, diese Struktur zu modernisieren, fanden in der Öffentlichkeit wenig Anklang, weswegen das System grundsätzlich immer noch in Nutzung ist. Die BRD nutzte nur die drei Großkategorien, die bereits Bismarcks Sozialversicherungssystem gestaltet hatten: Arbeiter, Angestellte, Beamte. Die amtlichen Statistiken verfolgten stets das politische Ziel, Klassengegensätze zu negieren („Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“).
Wenig überraschend interpretierte die BRD die Deindustrialisierung auch als eine Auflösung von Klassen und Schichten. Es gab zahlreiche Versuche, Deutungsmuster zu funden („Risikogesellschaft“ (Beck), „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), „Informationsgesellschaft“ (Bell). Beliebt in der bundesdeutschen Soziologie ist auch die Konstruktion der Sinus-Milieus. Diese Entwicklungen untergruben die alte Mobilisierungssprache nachhaltig. In Frankreich und Großbritannien dominierten amerikanische Deutungsmuster, die in der Deindustrialisierung vor allem eine Individualisierung betrachteten. Alle drei Länder erlebten einen Aufschwung kritischer Berichterstattung über „Problemgruppen“, die sich diesem neuen Trend zu verweigern schienen (Arbeitslose, das Prekariat, etc.). Die alte Arbeitsgesellschaft verschwand fast völlig aus dem Blickfeld. Stattdessen entstand das Bild einer Gesellschaft, die die Kontrolle über ihre Ränder verloren hatte. Andere Scheidungslinien wie Rassismus und Sexismus wurden immer bedeutsamer. In der Soziologie breitete sich eine generelle Skepsis aus, inwieweit man überhaupt noch Kollektive fassen könne.
Zu diesem Prozess gehörte auch die Veränderung der politischen Kommunikation. Die Auflösung der traditionellen Milieus einerseits und der Siegeszug des nivellierenden Fernsehens andererseits erzwangen eine Anpassung der Parteien an die neuen Kommunikationsformen, die die alten Mobilisierungssprachen weitgehend verdrängte. In einer gewissen Weise war dem aber ein falscher Frühling der Klassensprachen vorausgegangen, der durch die günstige Beschäftigungssituation und das links-sozialistische Meinungsklima der 1960er Jahre geschaffen worden war. In Frankreich und Großbritannien war dieser Trend aber dank der stärkeren Klassenstrukturen wesentlich weniger ausgeprägt als in Deutschland.
In Frankreich verloren die sozialistischen Kampfbegriffe angesichts der Repression des Ostblocks 1956/68 massiv an Attraktivität, während umgekehrt die Mittelschicht ins Zentrum sozialdemokratischer Rhetorik zu rücken begann, ein Prozess, den auch New Labour und Schröders SPD rapide nachvollzogen. Die Sozialdemokratie wurde zunehmend zu einer Partei des Öffentlichen Dienstes und der Angestellten, was sich in ihrer Sprache deutlich abzeichnete. Auch hier sticht die deutsche Situation heraus, da der DGB bereits nach 1945 die Klassenrhetorik Weimars abgelegt und sich auf den Catch-All-Begriff „Arbeitnehmer“ festgelegt hatte. Um den Bedeutungsverlust der Arbeiter zu kompensieren bemühten sich die Gewerkschaften um die Aufhebung der alten Trennlinie, was final 2003 gelang.
Mit ihrem Verschwinden wurde die Arbeiterklasse immer zu einem Gegenstand von Kunst und Kultur. Die Produkte von Arbeiter*innen selbst hatten dabei keinen Erfolg; es waren Arbeiten von aus der Mittelschicht stammenden Intellektuellen ÜBER die Arbeiterklasse, die reüssierten. Dadurch wurde sie zunehmend exotisiert. Zwar wurde sie romantisiert; dies führte aber gleichzeitig zu einem Schein des Gestrigen und Vergangenen, was durch die offizielle Erinnerungspolitik (die vielen Zechenmonumente im Ruhrgebiet etwa) noch verstärkt wurde. In Großbritannien entwickelte sich ein eigenes Genre von Spielfilmen, vor allem im komödiantischen Genre, die die Arbeiterklasse thematisierten. Üblicherweise wurde, wie etwa in „Billy Elliot“, der Ausbruch aus diesem dem Untergang geweihten Milieu als erstrebenswert dargestellt.
Zum Abschluss des Kapitels fasst Raphael noch einmal seine wichtigsten Befunde zusammen. (1) Die Sprachen, die Arbeitern eine kollektive Existenz gegeben hatten, wurden leiser. (2) Ihre politischen Repräsentationsformate lösten sich auf. (3) Gesellschaftliche Ungleichheit wurde zwar im Diskurs nur noch als „Kaleidoskop feiner Unterschiede“ thematisiert, von den unteren Schichten aber durchgehend als „wir gegen die“ wahrgenommen. Raphael wendet sich daher entschieden dagegen, die Arbeiterklasse als verschwunden anzusehen, nur weil dies im öffentlichen Diskurs postuliert wird.
Kapitel 3, „Politikgeschichte von „unten“: Arbeitskämpfe und neue soziale Bewegungen„, beginnt Raphael mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung bis in die 1970er Jahre ein aktivistisches, progressives Geschichtsverständnis stetigen Fortschritts durch Protest hatte, das sich danach nachhaltig zerschlug. Neue Bewegungen dockten an die Protestmethoden an und machten sich sicht- und hörbar. Da Arbeiter*innen üblicherweise keinen Zugang zu materiellen oder kulturellen Ressourcen haben, bleiben sie ohne schlagkräftige Organisationen wie die Gewerkschaften ungehört. Raphael will deswegen betriebliche Auseinandersetzungen stärker unter die Lupe nehmen, spiegelbildlich zu Kapitel 1 ihren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik untersuchen und die „Ereignisse“ (große Streiks etc.) betrachten.
Streiks wurden in den drei Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Großbritannien waren sie rechtlich praktisch unreguliert und oblagen einem „anything goes“, während die BRD das Streikrecht am schärfsten begrenzte. Frankreich bildete hier den Mittelweg. Gleichwohl betrachteten während des Booms 1948-1973 die Gewerkschaften Frankreichs den Streik als ein regelmäßig anzuwendendes Mittel der Klassenbildung, während die britischen und westdeutschen Gewerkschaften auf Kooperation mit der Sozialdemokratie setzten (und im deutschen Fall auf die Tarifpartnerschaft).
Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gelang es den Gewerkschaften Anfang der 1970er Jahre, gewaltige Erfolge durchzusetzen. Sie erlangten Inflationsausgleiche und andere monetäre Ergebnisse, aber anders als in der Bundesrepublik, wo die Löhne ebenso (und ohne riesige Streiks) stiegen wurden die Streiks von beiden Seiten auch als Kampf um die Wirtschaftsordnung wahrgenommen und geführt. Der britische Bergbaugewerkschaftsführer Arthur Scargill etwa brachte den Konservativen 1972 und 1974 vernichtende Niederlagen bei, die bei den Tories zur Erstellung einer neuen Strategie absoluter Härte und totalen Kampfes führten, die dann 1984 exerziert wurde – mit durchschlagendem Effekt. Auch in Frankreich gelang es den Gewerkschaften zu Beginn der 1980er Jahre nicht, ihre Erfolge zu wiederholen. Zwar versuchte die Regierung Mitterand kurzzeitig, Nationalisierungen durchzusetzen. Jedoch mussten sie unter dem Druck der wirtschaftspolitischen Wende (Neoliberalismus, Monetarismus, Kapitalisierung, siehe Kapitel 1) schnell eine Kehrtwende hinlegen.
In der Bundesrepublik brach 1987 eine Welle militanterer Streiks im Ruhrgebiet aus, als unerwartete Betriebsschließungen auch junge Arbeitnehmende betrafen. Vor allem die ausgleichende Politik der SPD-Regierung im Land entschärfte den Konflikt. Am relevantesten aber war die beginnende Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Diese Forderung war hochumstritten und sollte von Seiten der Gewerkschaften Arbeitsplatzverluste reduzieren. Die Arbeitgeber lehnten sie vehement ab. Auffällig war die starke Politisierung; die CDU/CSU stellten sich emphatisch auf die Seite der Arbeitgeber, und mit Dehnungen und Übertretungen des Streikrechts wurde versucht, die Streikkassen der IG Metall überzustrapazieren. Der resultierende Kompromiss der 38.5-Stunden-Woche ist für Raphael vor allem darin bedeutsam, dass er einerseits einen Trend zur Flexibilisierung von Tarifverträgen begründete, andererseits aber die Wirtschaft auf den Pfad der Produktivitätssteigerung und Rationalisierung festlegte.
Das Zeitalter der großen Streiks aber war vorüber. Ein Gefühl der Machtlosigkeit machte sich breit, das zusammen mit der demobilisierenden und entmündigenden Massenarbeitslosigkeit die politische Aktion „von unten“ drastisch unattraktiver machte. Dazu kam die beschriebene Entwicklung, dass die Schuld für die Deindustrialisierung den arbeitslosen Arbeiter*innen selbst aufgebürdet und so individualisiert wurde; das Thema wurde in den Medien zudem banalisiert und kaum mehr berichtet. Der letzte Faktor war eine Entpolitisierung: die Wende der Linksparteien zu marktbasierten Konzepten ab den 1980er Jahren nahm den Staat als Adressat von Forderungen aus dem Spiel, da die etablierten Alternativen von Verstaatlichung und direkten wirtschaftlichen Eingriffen nicht zur Verfügung standen. Gleichzeitig gab die Politik viel Geld aus, um die Folgen abzudämpfen und das Thema so weiter aus den Schlagzeilen zu halten, mit entsprechenden Folgen für die Schuldenstände.
Kapitel 4, „Von Industriebürgern und Lohnarbeitern: Arbeitsbeziehungen, Sozialleistungen und Löhne„, geht wesentlich tiefer auf das Konzept des Industriebürgers ein. Raphael konstatiert, dass ein ganzes Bündel von Gesetzen, Sozialleistungen und vertraglichen Vereinbarungen über den eigentlichen Arbeitsvertrag hinaus die Lebensrealität bestimmten. Die Boomphase mit ihrer Stärkung der Gewerkschaften hatte zu einer mehrfachen Absicherung des Lohnarbeitsverhältnisses geführt, die synonym mit „guter Arbeit“ geworden war. Das bedeutete für Arbeiter*innen konkret die kollektiv-tarifrechtliche Absicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, Instanzen für die Durchsetzung dieser Rechte und Schlichtung, Mindestlöhne, individuelle Schutzrechte und zuletzt arbeitsbasierte Ansprüche auf Sozialleistungen.
Raphael weist darauf hin, dass die oft gehörte Lesart, dass dieses Paket fordistischen Produktionsweisen entsprungen sei, in die Irre führe. Es war ein europäisches Unikum, wurde erst in der postfordistischen Ära geschaffen und kam erst nur Facharbeiter*innen und erst später auch Ungelernten zugute. Zwar durchbrach dieses Paket auf der einen Seite die Statusgruppen des 19. Jahrhunderts, schuf aber auf der anderen Seite neue, vor allem im Bereich der Geschlechter (männliches Einernährermodell, Frau als Hausfrau) und des Migrationshintergrunds (ungelernte und Hilfstätigkeiten bei Menschen mit Migrationshintergrund).
Ab 1975 geriet das Tarifrecht, die wichtigste Stütze des Systems, immer mehr unter Beschuss. Interessanterweise war dieser von konservativer Seite vorgebrachte Angriff mit einer Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Erfolge verbunden: eine neue konservative Sozialpartnerschaft nach dem deutschen Modell wurde auch nach Frankreich und Großbritannien übertragen. Die Arbeiter*innen gaben gewissermaßen ihre Macht zugunsten einer Verrechtlichung ab, die den Spielraum der Gewerkschaften massiv einschränkte, gleichzeitig aber den Status Quo sicherte. Dieses interessengeleitete Arrangement erlaubte er der aufstrebenen „new economy„, sich weitgehend außerhalb der Strukturen der Industriegesellschaft zu entwickeln.
An dieser Stelle legt Raphael einen kurzen Exkurs zu gewerkschaftlicher Organisationsmacht ein. In Großbritannien schwand die gewerkschaftliche Macht in den 1970er und 1980er Jahren massiv; die Gewerkschaften verloren über die Hälfte ihrer Mitglieder. In neuen Unternehmen konnten sie sich kaum etablieren. In Frankreich ist eine ähnliche Krise zu beobachten. Die BRD stellt hier die Ausnahme dar; ihre Gewerkschaften kamen glimpflich davon, besaßen allerdings auch ein niedrigeres Ausgangsniveau. Wie in Großbritannien etablierten sie sich in den neuen Bundesländern niemals. Ähnlich sieht die Lage für die Mitbestimmung aus: in Großbritannien wurde sie praktisch pulverisiert, in Frankreich nahm ihr Wirkungsgrad immer weiter ab, während er in der BRD ab 1972 eher ausgebaut und institutionalisiert wurde.
Als nächstes wendet sich Raphael dem System der Löhne und Entgeltsysteme zu. Bis in die 1970er Jahre waren Akkordlöhne der Normalfall, wurden jedoch zunehmend durch Gruppensysteme abgelöst, die die Rolle von Maschinen und Teamwork stärker einbezogen. Die Gewerkschaftsmacht sorgte in Deutschland dafür, dass die Tariflöhne stets mit der allgemeinen Entwicklung mithielten (und zogen auch den Öffentlichen Dienst mit). Einbrüche erlebte das System erst mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und der Wiedervereinigung ab 1990, die für die dortigen Beschäftigten wesentlich schlechter waren. In Großbritannien dagegen war das System nie so flächendeckend gewesen und löste sich ab den 1970er Jahren immer mehr zugunsten des von Liberalen vertretenen Systems individueller Aushandlungen auf, so dass Durchschnittslöhne wenig aussagekräftig sind, weil innerhalb von Branchen starke Variationen bestehen. Zudem machen Überstundenregelungen in Großbritannien einen größeren Teil des Lohns aus (bis zu 40%). Frankreich beschritt hier den Mittelweg: das Lohngefälle war wegen der schlechteren gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht viel größer als in der BRD, aber insgesamt gab es mehr branchenweite Regelungen und Mindestlöhne als in Großbritannien.
Was das Kündigungsrecht anbelangte verbesserte sich die Position der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich: in Deutschland und Frankreich durch klare Kündigungsschutzregeln, die in Deutschland zudem in das System der betrieblichen Mitbestimmung eingebunden waren, in Großbritannien durch Schlichtungs- und Abfindungsverfahren. Der Vergleich bleibt aber laut Raphael schwierig; das deutsche und britische System sind etwa viel flexibler als das französische. Der Schutz vor Kündigungen blieb aber in Großbritannien am schlechtesten ausgeprägt.
Trendsetter war Großbritannien dagegen in seiner Gesetzgebung gegen geschlechtliche und rassistische Diskriminierung, die bereits in den 1960er Jahren begonnen und in den 1970er Jahren kodifiziert wurde; bis heute funktioniert diese Gesetzgebung auf Basis ihrer ursprünglichen Form weiter. Frankreich begann erst Ende der 1970er Jahre mit ähnlichen Schutzwirkungen und fügte gegenüber Großbritannien starke Regelungen in der Begrenzung der Wochenarbeitszeit hinzu. Die BRD hielt sich hier lange zurück, so dass die 48-Stunden-Woche dominierte (sie galt bis 1994!). Zu Beginn der 1980er Jahre lag durch Tarifverträge in der tonangebenden Metallindustrie die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden, sank dann bis zum Ende des Jahrzehnts auf 38,5 und dann bis 1995 auf 35 Stunden. Gleichzeitig verlängerte sich der Jahresurlaub deutlich. Solche Maßnahmen fehlten in Großbritannien völlig. Die auf europäischer Ebene in den 1980er Jahren eingeführten Sicherheitsstandards wurden in Großbritannien notorisch gebrochen, wo der Staat sie auch praktisch kaum kontrollierte; nicht viel besser sah das Bild in Frankreich aus. In Deutschland war die Lage dank der gesetzlichen Mitbestimmung etwas besser, blieb aber ein Problem.
Die Sozialpakete waren ebenfalls sehr unterschiedlich konstruiert. Die britischen Lohnnebenkosten waren niedrig, weil die Sozialleistungen steuerfinanziert waren, wodurch die Arbeiter*innen bei Arbeitslosigkeit stark abstürzten (rund 41% des letzten Lohns). Deutschland (etwa 61%) und Frankreich (60-70%) waren deutlich mehr am Modell der Lebensstandardsicherung hin ausgerichtet und banden die Sozialleistungen deswegen direkt an die Löhne. In allen drei Ländern begann in den 1980er Jahren der Sozialabbau, in dem die Regierungen politisch alle gleich vorgingen: sie „kauften sich Zeit“, indem sie die bisher abgesicherten Arbeiter*innen massiv im Strukturwandel unterstützten und gleichzeitig neue Beschäftigungsverhältnisse aus den Sozialpaketen heraushielten. Dadurch trat auch das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit auf, bei dem dieses Schleifen der Sozialstandards am deutlichsten sichtbar wurde, weil die Anwartschaften verringert wurden (gleichzeitig aber hoch genug blieben, um das System auf Dauer zu überlasten).
Dementsprechend veränderte sich auch die Tonlage. Am stärksten war dies wiederum in Großbritannien zu sehen, wo means tests und andere entwürdigende Maßnahmen die Regel wurden, die zu einer deutlichen Erniedrigung von Sozialleistungsempfangenden führten. Auch in Deutschland und Frankreich schwenkten Regierungen in den 2000er Jahren auf diese Linie ein. Die Folge war „eine Rückkehr elementarer Lebensrisiken in den Erfahrungsraum vieler Arbeiterhaushalte“, die allerdings sehr ungleich verteilt war: manche Gruppen erlebten sie wesentlich schärfer als andere (vor allem Frauen, Ungelernte und Migrant*innen), während andere Gruppen sie eher als Wetterleuchten am Horizont wahrnahmen.
Zum Abschluss des Kapitels kommt Raphael auf drei Arbeitswelten. In der ersten besteht das Prinzip der Sozialbürgerschaft weiter, mit all den Absicherungen, die das mit sich bringt. In der BRD findet sich diese Welt noch in großen Teilen der alten Industriebranchen, in Frankreich fast nur in Großunternehmen und in Großbritannien nur in „Inseln“. In der zweiten Welt gelten Teile des Systems noch, aber die kollektive Interessenvertretung ist allenfalls noch dysfunktional vorhanden. Klein- und Mittelbetriebe, Investoren aus den USA oder Japan und Neugründungen gehören zu dieser Welt. Die dritte Welt schließlich umfasst alle Betriebe, in denen das System auch de jure aufgekündigt worden war, vor allem Kleinunternehmen und der Dienstleistungsbereich.
Kapitel 5, „Facharbeit, Produktionswissen und Bildungskapital: Deutungskämpfe und Neuarrangements„, wendet sich dann der Deutung dieser Entwicklungen zu. Im Zentrum steht der viel zitierte „Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“, da in allen drei Ländern in dieser Zeit „Bildung“ und „Wissen“ zu zentralen Begriffen der Debatte wurden und eine immer größere Rolle spielten. Visionen von der Automatisierung hielten überall Einzug. Die Abwertung von manuellen Tätigkeiten gegenüber geistigen war dabei kein neues Phänomen; schon Karl Marx hatte sie untersucht. Die größte Trennung der Sphären hatte das kapitalistische System des 19. Jahrhundert, in dem alles Wissen beim Fabrikbesitzer lag, während die Arbeiter*innen rein ausführende Tätigkeiten hatten. Die spezialisierte Facharbeit entwickelte sich aus dem Wissen der Handwerker, das diese in die Industrie mitbrachten. Im Verlauf der Industrialisierung nahm die Bedeutung von Wissenstiteln dann immer mehr zu.
Dadurch stieg die Bedeutung der Facharbeiter*innen, deren Anteil konstant zunahm. In Großbritannien blieb dieser Prozess privat, zwischen Betrieb und Auszubildenden. In Frankreich, das ab 1789 die handwerklichen Traditionen geschliffen hatte, übernahm der Staat die Rolle der Zertifizierung, während Deutschland im Kaiserreich das bis heute gerühmte duale Ausbildungssystem entwickelte, in dem die berufliche Seite bei den Unternehmen und die schulische Seite beim Staat lag.
In den 1970er Jahren entwickelte sich nun die neue „Bildungsideologie“, die Raphael als „Herrschaftswissen“ qualifiziert: die Vorstellung, dass man sich in eine „Wissensgesellschaft“ bewege, in der „Kompetenzen“ statt Bildungstiteln und dazu lebenslanges Lernen dominieren würden, galt als Fakt. Theoretische Grundlage war Gary S. Beckers Theorie vom „Humankapital“ (das heute glaube ich nur als Pejorativ vorkommt). Obwohl die Empirie bereits damals gegen diese Vorstellungen sprach, wurden sie aus ideologischen Gründen übernommen und propagierten eine Kombination von öffentlichen Bildungansgeboten mit privaten Zusatzinvestments. Die meinungsbildende Elite modellierte quasi ihren eigenen Status Quo für alle, was angesichts des Fehlens „einfacher“ oder „mittlerer“ Jobs in den Dienstleistungsbranchen in dieser Ideologie umso augenfälliger ist. Sie galten schlicht als veraltet und unattraktiv.
Die Bildungssysteme aller drei Länder widersprachen diesen Vorstellungen in den 1960er Jahren massiv. Ihre „Demokratisierung“ stand deswegen weit oben auf der Agenda, womit neben einem verbreiterten Zugang auch ein wesentlich größerer Praxisbezug gemeint war. Die prophezeite Neuordnung blieb aber aus: formalisierte Bildungstitel blieben zentral, auch wegen des starken Widerstands der Wirtschaft, die das duale System, die Doktortitel etc. beibehalten wollte. Die „Tertiärisierung“ des Bildungssystems war in Frankreich ein großer und eher problematischer Kraftakt, während Großbritannien überhaupt erst in den 1990er Jahren nachzog. Raphael untersucht alle drei Systeme systematisch.
In Deutschland wurden die Fundamente der Expansion noch in der Großen Koalition gelegt, die noch zur Absicherung des industriellen Booms das korporatistische System zementierte. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Bedeutungsverschiebung hin zum sekundären Bildungssektor, vor allem Realschule und Gymnasium, wurde von einer immer größeren Durchlässigkeit des dualen Systems begleitet. Dem stand als Negativum ein immer schwerer Zugang von Hauptschüler*innen und Schulabbrecher*innen gegenüber. Insgesamt bewies das System eine „Modernität des Unmodernen“ (Greinert).
Das britische Lehrlingssystem mit bis zu fünf Jahre währenden Ausbildungszeiten erreichte selbst zu seinen Hochzeiten kaum ein Drittel der Jugendlichen und war in den 1960er Jahren in einer tiefen Krise. Dazu kam, dass die Gewerkschaften das System mit dazu benutzten, ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugänge kontrollierten. Die Thatcher-Regierung zerschlug die Macht der Gewerkschaften und reduzierte die Jugendarbeitslosigkeit durch die Einführung eines ein- bis zweijähirgen „Youth Training Schemes“, der die Jugendlichen aber nur auf die Wartebank schob und nichts leistete. Die Übertragung der Ausbildung an die Privatwirtschaft scheiterte ebenfalls, weil nur rund ein Fünftel der Betriebe überhaupt ausbildeten. Selbst der unter New Labour betriebene Fokus auf Bildung blieb weitgehend Illusion. Angesichts dieser Lage kam Großbritannien dem bildungsideologischen Ideal einer kompetenzbasierten Gesellschaft am nächsten, in der die Arbeitgebenden bestimmten, welche Fähigkeiten jemand formell besaß. All das hatte den Nebeneffekt, in der Arbeitendenschaft eine Anti-Intellektualität und Ablehnung von Schule festzuschreiben, die das deutsche duale System deutlich verwässern konnte, und so gesellschaftliche Standesgrenzen zu reproduzieren und festzuschreiben.
Das französische System brachte Schulabgänger*innen mit wesentlich höheren und mit der BRD vergleichbaren Standards an Bildung hervor, was dazu führte, dass die Vermittlung von Wissen und Titeln immer mehr auf die Schulen überging und zu einem Bedeutungsverlust der Facharbeitendenschaft führte. Branche um Branche wurden die alten Ausbildungsgänge komplett abgeschafft und durch neue Strukturen mit eigenen Zugangshürden ersetzt.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Öffnung des Bildungssystems paraxoderweise die Lage der Arbeiterklasse als Ganzer verschlechterte, weil sie zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Abschlüsse führte. Am schlechtesten schnitt das britische System ab, wo der Ausbildungsgrad aller Arbeitenden durch die Fiktion eines Erwerbs im Beruf am geringsten blieb. In Frankreich war der Bildungserwerb durch die Fokussierung auf das staatliche Schulsystem am größten, aber auch praxisfernsten und hatte wegen der auch rechtlich deutlichen Trennung der verschiedenen Klassen einen wenig durchlässigen Effekt; gleichzeitig war das System aber für die dadurch gebildeten Schichten (wie auch in Deutschland) deutlich besser auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt, weswegen diese Länder anders als Großbritannien auch eher auf exportorientierte Qualitätsproduktion setzten, während die Insel eher versuchte, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigeres Lohnlevel zu erhalten.
Die Arbeit selbst veränderte sich ebenfalls massiv: von einer tayloristischen Organisation ging der Trend zu flexibleren, aber auch fordernderen Arbeitsorganisationen, in denen das Idealbild angestrebt wurde, nachdem jede*r Arbeiter*in bis zu fünf verschiedene Jobs beherrschte (multiskilling). In der Praxis wurde dieses Ideal wegen der Fluktuation und fehlender Ausbildung im Betrieb vor allem in Großbritannien selten erreicht, aber wo es gelang, entstanden große Produktivitätsgewinne.
Raphael beschließt das Kapitel mit sieben Feststellungen. Erstens nahmen die fachlichen Anforderungen an ALLE Arbeitenden zu; zweitens wurden Weiterbildung und -qualifikation für ALLE Arbeitenden zu essenziellen Identitäsmerkmalen; drittens die bereits erwähnte Flexibilisierung; viertens die Herausforderung, die darin vor allem für ältere Arbeitnehmende bestand; fünftens der Generationenbruch („Abschied vom Malocher“); sechstens die Disziplinierung durch eine Null-Fehler-Toleranz und größere Disziplin am Arbeitsplatz; siebtens die Reproduktion von Geschlechterrollen durch die Entindustrialisierung, da die Frauen von den Weiterbildungsangeboten weitgehend ausgeschlossen waren. Zuletzt erinnert Raphael noch einmal an die Bedeutungszunahme der Subjektivierung: was Kompetenzen wert waren und wie Arbeit konkret entlohnt wurde, war immer mehr bilateralen Abkommen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern unterworfen.
Abschnitt 2, „Nahaufnahmen: Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Wandel„, beginnt mit Kapitel 6, „Lebensläufe, Berufskarriere und Jobsuche in Umbruchzeiten„. In diesem kombiniert Raphael quantitative Biographieforschung mit direkten Lebensdokumenten, um ein möglichst exaktes Bild zu erlangen. In der Epoche des Booms war der Einstieg in das Arbeitsleben oft unqualifizierte Arbeit, der dann eine Nachqualifizierung und beruflicher Aufstieg folgte. Raphael untersucht zuerst die 1935-1949 Geborenen, die direkt in die Nachkriegszeit hinein erwachsen wurden und dort Arbeit finden mussten. Prekäre, wechselnde Beschäftigung in den 20ern mündete mit der Familiengründung gegen Ende dieser Lebensdekade häufig in einer langfristigen Bindung an ein Unternehmen, um so Sicherheit zu erlangen, die für Familien so essenziell ist.
Auffällig ist, dass die Produktionsgüterindustrie wesentlich jünger geprägt war, weil hier Akkord- und Schichtarbeit vorherrschten, die vor allem für jüngere Arbeitnehmende attraktiv waren. Den Frauen stand diese Berufskarriere praktisch nicht offen; sie blieben auf ungelernten, temporären Arbeitsstellen hängen. Bis zu den 1970er Jahren, so Raphael, näherten sich die Berufswege ungelernter und gelernter Arbeitskräfte an. Dieser umfassende soziale Aufstieg ermöglichte den Eintritt breiter Gruppen in die Mittelschicht. Damit schien das Ende des Proletariats gekommen; zeitgenössisch sprach man vom affluent worker. Wesentlich schlechter allerdings ging es den meist ignorierten Arbeitsmigrant*innen, die in schlecht bezahlten, prekären Stellungen verharrten. In Deutschland und Frankreich war diese Entwicklung dabei deutlich geradliniger als in Großbritannien, wo regionale Unterschiede und solche der Branche schärfer betont blieben und die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre einschneidender als auf dem Kontinent für Massenarbeitslosigkeit sorgte.
Raphael wendet sich nach dieser Betrachtung der Boomzeit nun wieder der vergleichenden Länderbetrachtung zu, um die Folgen der Deindustrialisierung zu untersuchen. In Frankreich gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren; die Reallohnzuwächse der Arbeiter*innen betrugen in den 1970er und 1980er Jahren nur noch 1% und fielen in den 2000er Jahren auf null. Während der Anteil an Migrant*innen insgesamt stabil blieb, waren vor allem die Frauen Opfer der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Durch diese Entwicklungen änderte sich die Altersstruktur der Fabriken massiv. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedeutete einen viel späteren Eintritt in das Arbeitsleben, der Strukturwandel mit seinen Frühverrentungen, dass die Menschen bereits in den 1950er Jahren wieder aus dem Arbeitsleben ausschieden. Wegen der schlechten Chancen auf einen neuen Job harrten viele ältere Arbeitnehmende auch bei großen gesundheitlichen Belastungen in der Hoffnung auf Frühverrentung auf ihren tayloristischen Arbeitsplätzen aus. Diese Beharrung der Älteren stand in Kontrast zu den prekären Arbeitsverhältnissen der Jüngeren. Für die Unternehmen bedeutete dies, dass Änderungen und Innovationen schwieriger durchsetzbar waren, weil die Älteren änderungsavers waren (und immer sind).
Für Großbritannien hält Raphael zuerst fest, dass die Arbeitsplatzverluste dort wesentlich umfassender und einschneidender waren als in Frankreich oder der BRD. Zahlreiche Arbeiter*innen, die ihre Jobs an die um sich greifende Massenarbeitslosigkeit verloren, wurden zu Servicearbeitenden wider Willen. Mitte der 1980er Jahre war fast die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos, was von der Thatcher-Regierung durch erzwungene „Youth Training Schemes“ verschleier wurde. Auch in Großbritannien bedeuteten die Schließungen für ältere Arbeitnehmende üblicherweise das Ende der Erwerbstätigkeit; auch hier förderte die Regierung über Dauerkrankschreibungen und Frühverrentungen ein das soziale Netz nachhaltig belastendes „Ausgleiten“ aus dem Arbeitsmarkt. Die Erfahrung war für die Betroffenen sehr ambivalent: einerseits waren die verlorenen Arbeitsplätze, gerade im Bergbau, gesundheitlich massiv schädlich und anstrengend. Andererseits hing ihre Identität daran. Die Liberalisierung sorgte gleichzeitig für eine massiv sinkende Verweildauer in den Betrieben und zu steigender Unsicherheit und gebrochenen Erwerbsbiografien.
In der alten Bundesrepublik war der Arbeitsverlust wesentlich geringer und gradueller als in Frankreich und besonders Großbritannien. Auffällig ist, dass die Arbeitsplatzverluste der Männer (die entweder keine oder schlechter entlohnte Arbeit fanden) durch vermehrte Frauenerwerbstätigkeit aufgefangen wurde, gerade in migrantischen Milieus. Hier dominierten auch die unattraktiven Arbeitsverhältnisse wie Nachtarbeit. Wie überall trafen die Rationalisierungsmaßnahmen aber auch in der BRD ältere Arbeitnehmende, die meist frühverrentet wurden (mit den vorhersehbaren Kosten für die Sozialkassen). Das Muster sich nach hinten verschiebender Familiengründungen findet sich auch in Deutschland. Anders als in den Nachbarländern sorgte das duale System aber in Deutschland für eine wesentlich bessere Qualifizierung und Beschäftigung der jungen Generation. Innerbetrieblicher Aufstieg wurde deutlich schwieriger, blieb aber viel realistischer als in Großbritannien oder Frankreich. Zu beobachten ist auch eine starke Zunahme von Teilzeitarbeit, besonders unter Frauen, denen der Weg in die Qualifizierungen und Karrieren weiter weitgehend verstärkt blieb und die auf den unteren Rängen der Hierarchie festgehalten wurden.
Raphael wendet sich als nächstes der Erfahrung von Heirat und Familiengründung zu. Die Klassendominanz der Heiraten endete bis zu den 2000er Jahren nicht. Allerdings heiratete der kleiner werdende Pool der Arbeiter häufiger Angestellte, die (dann oft in Teilzeit) in Dienstleistungen oder dem Öffentlichen Dienst arbeiteten. Die sich nach hinten schiebende Familiengründung bedeutete eine längere Verweildauer im elterlichen Haushalt. Die einheimischen Kinder setzten dabei oft den Aufstiegsweg der Eltern, wenngleich eben zeitversetzt fort. Das galt für die migrantischen Familien viel weniger. Sie waren wesentlich größeren Risiken des Arbeitsplatzverlusts (und damit auch erzwungener Umzüge und verschobener Familiengründungen) ausgesetzt und konnten oftmals keine Aufstiege in die Mittelschicht erleben, da sie auf den unteren Rängen der Arbeitshierarchie festhingen. Gleichzeitig konnten die Kinder in allen Arbeitendenhaushalten allerdings oft die Ausfälle des Haupternährers durch eigene Arbeit kompensieren, so dass die Gesamthaushaltseinkommen häufig trotz Arbeitslosigkeit annähernd gleich blieben (um den Preis erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und längerer Verweildauer der Kinder).
Raphael stellt aber abschließend fest, dass die Zeitgenoss*innen wesentlich einschneidendere Wirkungen erlebten, als diese empirisch nachweisbar sind. Einen Grund dafür sieht er im zunehmenden Druck in den Unternehmen selbst, die mit mehr Kontrolle, Weiterentwicklung und Rationalisierung reagierten, die auch Arbeitnehmende ohne Arbeitsplatzverlust als Verschlechterung empfanden. Zudem existierten „Inseln der Beschäftigungsstabilität“ auch in stark betroffenen Regionen. Besonders hervor hebt er den gesellschaftlichen Konsens, dass der Generation der „Malocher“ das Privileg zustünde, von den „Zumutungen von spätem Jobverlust und Dauerarbeitslosigkeit verschont zu bleiben“. Die Beschäftigten reagierten zudem mit größerer Betriebstreue auf die wachsende Unsicherheit. Zudem wurden die ungelernten Jobs weitgehend von Arbeitsmigrant*innen erledigt. Die Lebensphase „Jugend“ verlängerte sich deutlich und führte zu einem Perspektivenwandel. Zuletzt weist er noch einmal auf die Bedeutung der Frühverrentung für den Erhalt des sozialen Friedens hin.
In Kapitel 7, „Betriebliche Sozialordnungen im Umbruch„, ändert Raphael den Blick von dem auf Familienstrukturen zu denen von Betrieben. Diese erlebten auch organisatorisch einen Umbruch; der alte patriarchalische Unternehmertypus wurde zunehmend von unpersönlicheren Strukturen, Metriken und einer Konzentration auf die Entwicklung von Humankapital verdrängt. Die Innovationen jener Jahre führt Raphael weniger auf Begeisterung seitens der Unternehmer*innen als vielmehr die Strukturkrise und die Überlebensnotwendigkeit zurück. Unter den Schlagwörtern lean production und lean managment wurde versucht, Kosten zu reduzieren und so Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Die Gefahr war, dass dies zu einer raschen Abfolge von Managmentpersonal und Organisationsstrukturen führen konnte, die keinerlei Bezug zum Unternehmen besaßen und rein die Kostenseite im Blick hatten, was zu einem Teufelskreis aus Entlassungen, zunehmender Distanz vom Betrieb und sinkender Arbeits- und Produktqualität führen konnte.
Diese „negative Betriebsidentität“ ist für Raphael ein Beleg der Existenz und Bedeutung der Identität der Belegschaft mit dem eigenen Betrieb. Er sieht die Fabrik als „soziales Handlungsfeld“, in Deutschland geprägt von der „Produktionsgemeinschaft“ innerhalb der Belegschaft und zwischen ihr und dem Managment, die Konflikte als „empfindliche und vermeidbare Störung“ empfindet. Dieser Idee stehen marxistische Entwürfe schroff gegenüber, der (fälschlich) eine Dominanz des neoliberalen, einzig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Organisationsmodells vorhersagte. Dem stehe eine „überraschende Vielfalt“ an Betriebsordnungen gegnüber. Diese ordnet Raphael in eine Matrix zwischen monokratisch-pluralistisch und sozialintegrativ-kontraktuell, aus der er vier Typen synthetisiert: paternalistische Betriebe (sozialintegrativ/monokratisch), „Arbeitshäuser“ (kontraktuell/monokratisch), Kooperativ-konsensorientiert oder konfrontativ-konfliktorisch (sozialintegrativ/pluralistisch) sowie „Marktgesellschaften“ (kontraktuell/pluralistisch).
Dazu identifiziert er vier Typen von Sozialbindungen in Betrieben. Zuerst berufsbezogene Verbindungen wie die der Facharbeiter (die besonders in Deutschland dank der betrieblichen Mitbestimmung Einfluss hatten), danach die der konkreten Arbeitszusammenhänge von zusammengehörigen Arbeitsabläufen (mit dem Großtrend der Verselbstständigung von Arbeitsabläufen und der damit einhergehenden „Professionalisierung“), drittens die Fabrik oder das Werk (die an Bedeutung verlor) und viertens die Belegschaft in der Struktur des Konzerns oder der Unternehmensgruppe. Letztere markierten in der betrachteten Episode einen bedeutenden Umschwung durch die Fusionen und Aufkäufe besonders der 1990er Jahre.
Im Ländervergleich fällt die seit 1919 starke Betonung kooperativer Formen in Deutschland auf, während diese in Großbritannien die Ausnahme darstellen. In Frankreich versuchte die Regierung zwar, Kooperation zu fördern, hatte aber gegen die eher monokratische französische Unternehmertradition wenig Erfolg, weswegen das Land wesentlich konfliktorientierter sei. Gleichzeitig gebe es aber viele Gemeinsamkeiten, etwa die Gemeinschaftsstrukturen der „work crews“ in körperlich fordernden Jobs. Dies sei aber branchenabhängig; in der Lebensmittelindustrie bestehe eine starke Trennung zwischen Facharbeitenden und Un- und Angelernten. Konflikte würden oft eher konstruktiv gelöst, wo das Ende patriarchalischer Ordnungen mit Gewerkschaften verhandelt werden konnte, während ansonsten eher der oben beschriebene Teufelskreis eintrete.
Exemplarisch macht Raphael all dies an der Automobilindustrie deutlich. Entgegen der oft gehörten Behauptung konnten die Unternehmen die Bandarbeit nur parziell durch Automatisierung ersetzen, weswegen halb-autonome Arbeitsgruppen eher die Regel wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der Einfluss der japanischen Methoden. Hohe Löhne, hohe Sozialleistungen und hohe Ansprüche an die Belegschaft liefen in Tandem und wurden auf Kosten der Zulieferer und deren Belegschaften realisiert, was eine deutliche Zwei-Klassen-Gesellschaft in den Unternehmen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Der Strukturwandel brachte einen Wechsel von konfrontativen Methoden zu solchen der passiven Arbeitsplatzerhaltung mit sich. So entstanden zwar kooperative, aber in von oben verordnete Sozialstrukturen eingebettete Sozialordnungen. Der Versuch gerade der japanischen Unternehmen, durch Ansiedlungen in strukturschwachen Regionen Streiks und Konfrontation zu vermeiden, ging nicht immer auf; der erste Streik bei Toyota seit 1950 etwa ereignete sich im gerade deswegen ausgesuchten Valenciennes 2009.
Der Wettbewerbsdruck führte in der Bundesrepublik zu einer Verdichtung der kooperativen Arrangements. Diese brachten der westdeutschen Wirtschaft einen deutlichen Wettbewersvorteil gegenüber den britischen und französischen Modellen. Dies erlaubte es den Betriebsräten, Sicherheitszusagen durch Steigerungen der Produktivität in modernen Akkordsystemen (die auf ganze Betriebe umgelegt waren) zu erreichen, ein win-win-Szenario. Die längeren Betriebszugehörigkeiten sorgten für ein Investment der Arbeitnehmenden in den Betrieb und seinen Überlebenskampf in der globalen Transformation, der gerade britischen Betrieben häufig abging, die zwar kuzrfristig starke Strukturen besaßen, aber kaum Langfristigkeit.
Anders als in der Autoindustrie sah die Lage in krisengebeutelteren Branchen aus. Hierbei sieht er drei Problemkonstellationen. Zuerst die Bildung von Notgemeinschaften, die etwa tarifliche Untergrenzen freiwillig unterschritten oder die Produktion demokratisch weiterführten, obwohl die Unternehmensleitung das nicht mehr wollte, alles mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Die zweite Kategorie war der „mühsame Auszug aus dem Patriarchat“ (Kotthoff), das Erkämpfen von pluralistischen Beteiligungsrechten. Zum dritten beschreibt er das Auseinanderbrechen bestehender Sozialstrukturen bei zu starken personellen Einschnitten, das dann die Übernahme innovativer Methoden wegen des Misstrauens gegen das ortsfremde Managment nicht ermöglichte.
Raphael endet das Kapitel mit einer Betonung der Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen für den wirtschaftlichen Erfolg, die oft übersehen werde. Die Anerkennungskämpfe der Deindustrialisierungszeit brachten vor allem Gewinne für bisher marginalisierte Gruppen (vor allem Arbeitsmigrant*innen). Anders als von marxistischen Theorien prophezeit habe es auch keine weitgehende Zerstörung der Sozialordnungen durch die neuen Managmentmethoden gegeben, die zwar oft Druck und Innovation brachten, aber nicht zwangsläufig in neoliberaler Ausbeuterei mündeten. Gleiches gilt für technische Innovationen: sie „gaben den Entwicklungen betrieblicher Sozialordnungen keine Richtung vor“. Besonders erfolgreich seien die Bündnisse für Arbeit gewesen, die es in allen drei Ländern gab. Mit das erfolgreichste Modell war das der „Koevolution“, der betrieblichen Mitbestimmung.
Verschlechternde Betriebsordnungen findet Raphael vor allem in krisengebeutelten Betrieben, in denen die Unternehmensleitung autokratisch („Arbeitshäuser“, wir erinnern uns) die Ordnung aufrecht erhielten und ihre Vorstellungen durchsetzten. Hier standen sich Kapital und Arbeit scharf gegenüber und war die Stimmung schlecht. Insgesamt aber macht er, vielleicht überraschend, einen relativen Gewichtsgewinn pluralistisch-kooperativer Betriebsordnungen aus.
In Kapitel 8, „Industriedistrikte, „Problemviertel“ und Eigenheimquartiere: Sozialräume der Deindustrialisierung„, wirft er dann abschließend den Blick auf die Lebensbedingungen der Arbeitenden außerhalb der Betriebe. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass die Deindustrialisierung die Sozialräume nachhaltig geändert hat (was, anders als in den Industriebrachen der USA, in Europa zu weitgehender Umgestaltung und Orten der Erinnerungskultur geführt hat).
Besonders einschneidend sei die Schaffung neuer regionaler Disparitäten, besonders einschneidend im Nord-Süd-Gegensatz Großbritanniens. Auch der Gegensatz von Stadt und Land vertiefte sich. In Deutschland war die Lage ähnlich, wo 1990 zum Nord-Süd-Gefälle auch eines zwischen Westen und Osten hinzukam. Der deutsche Süden und Südwesten profitierten indes davon, dass Kohle und Stahl nie eine große Rolle gespielt hatten und die Transformation deswegen leichter zu verkraften war. Ähnliche Divergenzen finden sich auch in Frankreich. Besonders betroffen waren überall die monoindustriell geprägten Gebiete.
Raphael „zoomt“ nun näher an betimmte Industriedestrikte heran. Besonders erfolgreich waren etwa jene, die eine verwurzelte Hochqualitäts-Arbeitskultur besaßen. In anderen Regionen sorgte die Dominanz von Großkonzernen für eine klare Hierarchie mit zahlreichen abhängigen Zuliefererbetrieben. Gleichzeitig brachte die Transformationszeit eine Renaissance kleinerer und mittlerer Betriebe. Diese Neubildungen waren besonders in der BRD signifikant, während Großbritannien und Frankreich stärkere Deindustrialisierung statt Umbildungen erleben mussten. Oft waren die großen Automobilkonzerne die Fixpunkte dieser Entwicklung. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist auch der Wegzug der Angestellten und Facharbeiter aus den Städten in die Vorstädte (Suburbia).
Diese Entwicklung nimmt Raphael in einer zweiten Zoomstufe unter die Lupe. Er macht eine bestehen bleibende räumliche Trennung des Bürgertums, der Angestellten und den Arbeitenden aus; lediglich in Einzelfällen sei das Ideal sozialer Durchmischung erreicht worden. Gleichwohl änderten sich die Lebensverhältnisse der Arbeitendenklasse massiv: die alten Elendsviertel verschwanden zugunsten der einheitlichen Betonkomplexe (die zwar unästhetisch, aber wesentlich komfortabler waren). Dieser Aufstieg in den Lebensbedingungen war direkt mit massivem sozialem Wohnungsbau verknüpft. Als dieser in den 1980er Jahren praktisch eingestellt wurde, endete auch der große Auszug des Proletariats in bessere Wohnverhältnisse. Stattdessen förderte der Staat, besonders unter konservativen Regierungen, den Erwerb von Wohneigentum.
Die Trends verliefen in den Ländern hierbei unterschiedlich: in Großbritannien etwa mit hohen Eigentumsquoten in engen Reihenhaussiedlungen, in der BRD mit Einzelhäusern und Doppelhaushälften bei höherem Mietanteil. Die Deindustrialisierung und das neue Leitbild des Wohneigentums veränderten die Wohnräume radikal. Einerseits entstanden die bürgerlichen Wohngebieten, andererseits die verwahrlosenden „Problemviertel“ der Unterschicht in den in der Boomphase errichteten Arbeitendenquartieren (paradigmatisch in den Pariser Banlieus verkörpert). Die soziale Durchmischung existierte zwar, allerdings nicht in den einstigen sozialdemokratischen Mustersiedlungen, sondern in den Randgebieten, in denen der Bausparvertrag regierte. Die alten Wohnviertel wurden ethnisiert, soziale Probleme und Migration untrennbar miteinander verbunden.
Die Migration war überhaupt ein wichtiger Aspekt. Der rund 15-17% betragende Anteil der Arbeitsmigrant*innen lebte oft lange in Provisorien und schaffte nur langsam, wenn überhaupt, den Aufstieg in bessere Quartiere. Die von den Regierungen erhoffte massenhafte Rückkehr blieb mangels Perspektiven aber auch oft unrealisiert. Je länger diese Zustände dauerten, desto weniger blieb ein Rückkehrwunsch erhalten (bei den türkischen Migrant*innen in Deutschland etwa sank er von 80% 1985 auf 20% 2005). Den Migrant*innen gelang auch nur selten der Weg in die Festanstellung. Diese Entwicklungen waren in Großbritannien sogar noch ausgeprägter und wurden von der Regierungspolitik aktiver befeuert; hier entstanden „Problemzonen der Dienstleistungsgesellschaft“.
Dieser Wandel der Sozialräume und die wachsende Bedeutung der Migrant*innen führte spiegelbildlich zu einem Verschwinden der klassischen Arbeiterkultur, ihrer Vereine, Organisationen und sozialen Netzwerke. Besonders in Krisenregionen lösten sich diese Milieus einfach auf. Die auf Werten ehrlicher Arbeit und Anstrengung beruhende „Malocher“-Kultur verlor vor allem in diesen Krisenregionen an Bedeutung – und gerade in diese zogen mangels Alternativen besonders viele Migrant*innen. In den kleinstädtischen Wohnquartieren blieben Sozialstrukturen eher bestehen, blieben aber regional bezogen und klassenübergreifend. Ebenfalls zerstörerisch auf diese Milieus und Wertestrukturen wirkten Managmentwechsel und Unternehmensreformen, die klassische Patriarchen durch gesichtsloses Managment ersetzte und betriebliche Sozialleistungen abschaffte.
Industrielle Sozialformen zogen sich so in die Randbereiche zurück, hörten aber nicht komplett zu existieren auf. Besonders, wo eine „untere Mittelschicht“ entstand (meist im Dienstleistungssektor beheimatet), blieben starke Strukturen erhalten oder bildeten sich neu. Die erhoffte Durchmischung blieb auch wegen der zunehmenden Bedeutung des Pendelns aus, das immer größere Ausmaße annahm. Das Verschwinden der monoindustriellen Gebiete sorgte auch für ein Verschwinden industrieller Ballungszentren, das nicht ausgeglichen wurde.
Im Schluss, „Die Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart?„, fasst Raphael wichtige Aspekte noch einmal zusammen. Erstens habe die Deindustrialisierung zum ersten Mal seit 1945 wieder klare Gewinner und Verlierer produziert; der „Fahrstuhleffekt“ des Booms hörte auf. Ab den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen sehr bescheiden, die Qualität der Arbeit aber nahm vielfach zu. Die britische Entscheidung zu radikaler Deindustrialisierung habe den sozialen Gegensatz im Land einerseits, aber auch den zwischen Insel und Kontinent andererseits bereits lange vor dem Brexit vertieft. Industrielle Arbeit sei dort am erfolgreichsten geblieben, wo technische Innovationen die Veränderungen herbeiführten. Die anhaltende Wirkung des Betriebs als positiver Bezugspunkt sei ein Beweis für die Bedeutung betrieblicher Sozialordnungen, bei denen ein pluralisierend-kooperativer Trend zu beobachten sei. Andererseits war auch die Transformation von Betrieben in „Arbeitshäuser“ ein Teil dieser Realität.
Der „Abschied vom Malocher“ sei aber auch als sozialer Prozess zu begreifen, etwa durch die Verbreitung von Wohneigentum und den Abschied vom männlichen Ernährermodell. Der Anteil an Frauen an Fachkräften nahm langsam, aber beharrlich zu. Dazu komme eine Pluralisierung der Kultur durch die Einebnung der Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur. Raphael schließt sein Buch mit der Feststellung, dass viel weitere Forschungsarbeit vonnöten sei und verteidigt seine Periodisierung 1970-2000 unter anderem mit dem Generationenargument (viele der ab 1970 Betroffenen gingen in Rente) und der Musealisierung der alten Industriekultur in den 2000er Jahren.
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Lutz Raphaels Werk scheint mir ein ähnliches Grundlagenwerk für die Epoche der Deindustrialisierung zu sein wie Osterhammels für das 19. Jahrhundert. Ich halte auch die Prämisse, dass in dieser Zeit eine Deindustrialisierung in Westeuropa (und Nordamerika) stattfand und dass diese einen entscheidenden Umbruch bedeutet, für kaum kontrovers. Die Begrifflichkeit klingt zwar drastisch, weil sie negativ aufgeladen ist; die gleichzeitige Transformation hin zur digitialisierten Dienstleistungsgesellschaft aber (die ja genau der Prozess ist, den der Ostblock genauso wie die Deindustrialisierung verpasste) ist ein elementarer Baustein um Verstehen unserer heutigen Welt. Ich empfehle Raphaels Buch daher vollumfänglich und bitte vorauseilend um Entschuldigung, wenn ich durch das Zusammenfassen vereinfachend oder irreführend war; das Werk ist ziemlich dicht geschrieben und nicht eben für das beiläufig-entspannende Lesen geeignet. Ich möchte die Rezension mit einigen eigenen Beobachtungen beschließen.
Der Punkt Raphaels, dass trotz des Verlusts des sozialistischen Klassenbewusstseins („Proletariat“) in der Wahrnehmung der unteren Schichten ein eher soziologisches bestehen blieb („Wir gegen die“), scheint mir gerade im Ignorieren dieser Wahrnehmung ein oft übersehenes Mosaiksteinchen in der Erklärung heutigen Elitenhasses zu sein, aus dem ja die AfD ihre Stärke bezieht. Vor allem sehe ich darin den häufigen Fehler, von der AfD (oder den Republicans oder Tories) als „neuer Arbeiterpartei“ zu sprechen; diese finden in jenen Milieus zwar durchaus Zuspruch, aber eben nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie es verstehen, diesen Gegensatz zu bedienen, den die Sozialdemokratie durch ihren Schulterschluss mit dem Kapital („Dritter Weg“), der paradoxerweise ja in den kooperativ-pluralistischen Betriebsordnungen gerade zum Erhalt zahlreicher Arbeitsplätze gführt hat, erst freigegeben hat.
Ebenfalls unterschätzt scheint mir die Rolle der Frühverrentung als versteckte Subvention zur Erleichterung des sozialen Übergangs. Die Politik der Zeit verstand es, dass die Transformation nur dann möglich war, wenn der Übergang gleitend und abgefedert erfolgte (eine Erkenntnis, die der heutigen Politik mit dramatischen Folgen völlig abgeht). Zwar war die Frühverrentung eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem, an der wir bis heute leiden; gleichzeitig aber halte ich das Fehlen eines Aufstiegs radikaler Parteien durch die gesamte Transformationszeit in nicht unerheblichem Maße auf genau diese Entwicklung zurückführbar. Das erfordert in meinen Augen eine wesentlich intensivere Beschäftigung.
Ebenfalls auffällig ist für mich das Wechselspiel zwischen der Expansion des Bildungssektors und der Transformation der Wirtschaft. Beide verstärkten sich wechselseitig. Die Wirtschaft erforderte einen immer besseren Ausbildungsstand, weil die Tätigkeiten individueller, verantwortlicher und komplexer wurden, während gleichzeitig das allgemeine Bildungsniveau immer weiter anstieg und einen Aufwärtsdruck erzeugte, der vermutlich auch maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass die marxistischen Verarmungsprognosen nicht eintraten und eben nicht eine monokratische „Arbeitshaus“-Kultur entstand, sondern die Betriebsordnungen sich eher pluralisierten.
Bemerkenswert ist für mich zudem, auch wenn Raphael sich jeglicher Wertung enthält, dass das britische Modell im Vergleich nicht besonders gut aussieht. Die rapide Entmachtung der Gewerkschaften und forcierte Deindustrialisierung führte zu einem so großen Wohlstandsverlust, dass er von den Gewinner*innen der Transformation nicht wirklich aufgeholt werden kann. Demgegenüber ist es auffällig, welche positiven Effekte auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzerhalt das deutsche Mitbestimmungssystem besaß, weil es Exzesse beider Seiten – krassen Kahlschlag oder massive Streiks – vermied.
Auch ein wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf den heutigen Aufstieg der Rechtspopulisten, ist die Ambivalenz zwischen dem „Verlust“ schlechter Arbeit – also körperlich anstrengender, monotoner und gesundheitsschädlicher Arbeit – einerseits und der Identität als „Malocher“ andererseits. Die Deindustrialisierung und Frühverrentungswelle hatte für die körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mit Sicherheit positive Auswirkungen, auf die mentale Gesundheit aber nicht zwingend, weil die Identität als männlicher Alleinernährer und „Macher“ verschwand und dazu noch von Randgruppen wie Frauen und Migranten übernommen wurde.
Zentral für das Verständnis der gesamten Boom- und Transformationsära finde ich das Konzept des „Industriebürgers“. Es beschreibt ziemlich gut, welche Teilhabeerwartungen an das System gerichtet wurden und wo ein großer Teil der Zufriedenheit mit dem System diese Teilhabe und die damit verbundenen Leistungen erbrachten. Besonders relevant scheint mir die Sicherheit: in dem Moment, in dem die Vollbeschäftigung verschwand, wurde Sicherheit zum obersten Wert der Beschäftigten (völlig nachvollziehbar), was deren Handlungen und Herangehensweisen erklärt. Die Sicherung von Beschäftigung wurde dadurch zu einem Element, das die Effizienz maßgeblich mitbestimmte: wo dies besser gelang, wie in der BRD, und die Industriebürgerschaft größeren Schichten offen blieb, war die Effizienz auch höher als in Ländern, die das wie Großbritannien nicht ermöglichten.
Zuletzt halte ich Raphaels Betonung der Bedeutung der Betriebsordnungen für wichtig, weil diese gerne hinter Kennzahlen verschwinden. Zwar mag es durchaus sein, dass man die Belegschaft eines Standorts um zwei Drittel kürzen kann und auf dem Papier trotzdem die Produktion aufrechterhalten wird; gleichzeitig führt dies aber zu einem solchen Moralverlust, dass eben diese Produktion gefährdet ist und dass die Arbeitenden zu passiven bis sogar widerständigen Elementen werden, die zwar „Arbeitshaus“-Abläufe leisten können, aber die in der globalisierten Wirtschaft der Wissensgesellschaft zunehmend gefragten individuellen und kooperativen Strukturen nicht leisten können und wollen.
Suzanne Collins – Die Tribute von Panem 1: Tödliche Spiele (Hörbuch) (Englisch) (Film)
Ich habe dieser Tage wieder einmal die „Tribute von Panem“ im Unterricht besprochen. Die Romanreihe ist mir über mehrere solcher Einheiten mittlerweile deutlich ans Herz gewachsen und ich lese sie auch privat immer wieder. Mein aktueller Re-Read bietet genügend Anlass für eine ausführliche Rezension, nachdem ich beim letzten Mal nur Jahres- und Monatsberichte abgegeben hatte. Meine eigene Geschichte mit der Trilogie ist etwas verworren: meine Frau war ein Riesenfan der Bücher, aber ich hatte die Prämisse immer als den üblichen YA-Kram abgetan, eine heruntergespülte Version von „Battle Royale“, und der Kinofilm 2012 holte mich auch nicht wirklich ab. Als ich das Buch dann für den Unterricht das erste Mal las, war ich positiv überrascht: es hob sich von der üblichen YA-Literatur durch seine literarischen Qualitäten deutlich ab. Die beiden Folgebände überzeugten mich noch viel mehr. Warum das so ist, will ich nach einer Inhaltsbeschreibung im Folgenden klären.
In unbestimmter Zukunft, nach einer Apokalypse ungeklärter Art, hat sich ein diktatorisches Regime im sogenannten Kapitol gebildet, das die restlichen Siedlungen der Menschheit auf dem Gebiet der heutigen USA in sogenannte Distrikte unterworfen hat. Zusammen bilden sie die Nation Panem. Gegen das Regime des Kapitols versuchten die Distrikte einen Aufstand, der nach einem erbitterten Krieg durch die Kräfte des Kapitols entschieden wurde. Als Strafe müssen seither jährlich alle Distrikte zwei zufällig ausgewählte Kinder zwischen 12 und 18 Jahren als „Tribute“ für die sogenannten Hungerspiele stellen, in denen sie bis auf den Tod gegeneinander kämpfen müssen, bis nur noch einer übrig bleibt – der/die Sieger*in, der/die reich beschenkt und wohlhabend in den jeweiligen Distrikt zurückkehrt.
Distrikt 12, dessen Hauptwirtschaftszweig der Abbau von Kohle für den Energiehunger des Kapitols ist, ist der ärmste von allen. Hier sind die Menschen besonders unterernährt und haben die geringsten Chancen, die Hungerspiele lebend zu überstehen. Unsere Protagonistin, Katniss Everdeen, lebt hier. Sie Sechzehnjährige hält ihre Familie durch Wilderei am Leben, die sie zusammen mit ihrem Freund Gale betreibt. Sie ist Halbwaise und muss ihre Mutter und kleine Schwester Prim durchbringen, die gerade 12 Jahre alt ist und die Katniss abgöttisch liebt. Bei der „Ernte“ kommt es, wie es kommen muss: Prim wird als Tribut ausgewählt. Katniss rettet sie, indem sie sich an ihrere Stelle freiwillig als Tribut meldet. Zusammen mit dem anderen Tribut, dem Bäckersohn Peeta Mellark, wird sie ins Kapitol gebracht – ein Kulturschock, denn der dortige Luxus trifft sie völlig unerwartet. Im Trainingscenter haben die Tribute einige Tage, sich auf die Spiele vorzubereiten.
Für Katniss ist es entscheidend, die Interviews vorzubereiten. Denn der Sieg in den Spielen hängt nicht nur an den physischen Fähigkeiten. Sie werden live im Fernsehen übertragen (die Distrikte müssen zusehen; im Kapitol ist es das Unterhaltungshighlight des Jahres), Sponsoren können Geschenke an ihre Lieblingstribute senden. Katniss ist allerdings nicht eben eine people’s person. Mehr schlecht als recht arbeitet sie sich durch ihr Interview. Es ist Peeta, der die Bombe platzen lässt: auf offener Bühne erklärt er, unsterblich in sie verliebt zu sein und nun entweder sterben zu müssen oder sie auf ewig zu verlieren. Auf einen Schlag sind die beiden das „tragische Liebespaar“ und besitzen die Sympathien des Publikums.
Allzu viel hilft dies zu Beginn freilich nicht; in der Arena, die als um einen See gruppiertes Waldstück konzipiert ist, sucht Katniss ihr Heil in der Flucht und dem Überleben in der Natur. Die Suche nach Wasser, das Entgehen der tödlichen Fallen der „Spielmacher“ und das Übernachten in den Bäumen prägen ihre erste Zeit. Als die Gruppe der „Karrieros“, Tribute aus den wohlhabenden Distrikten, die ihr ganzes Leben trainiert wurden und deswegen üblicherweise gewinnen, sie aufstöbert, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass Peeta bei ihnen ist. Auf einen Baum geflüchtet überlebt sie nur, weil sie ein Wespennest auf die Verfolger fallen lässt. Dabei erbeutet sie einen Bogen, der die Machtverhältnisse umkehrt: Katniss ist nun selbst eine Gefahr für ihre Gegner.
An dieser Stelle bremst die Handlung spürbar ab, denn Katniss geht ein Bündnis mit der zwölfjährigen Rue aus Distrikt 11 ein, ein zartes Mädchen, das nicht von ungefähr an ihre Schwester erinnert. Als sie getötet wird, bricht für Katniss eine Welt zusammen. Sie bestattet Rue – ein einmaliger Vorgang in den Hungerspielen – und verabschiedet sie mit einem Lied. Die „Spielmacher“ kündigen kurz darauf eine Regeländerung an: zwei Tribute können gewinnen, wenn sie aus demselben Distrikt sind. Die offensichtlich auf Katniss‘ und Peetas „tragische Liebesgeschichte“ angelegte Änderung lässt Katniss sofort nach dem verletzten Peeta suchen. Sie versucht ihn gesundzupflegen, während die „Spielmacher“ die Spiele auf ihren Höhepunkt drängen. Es gelingt den beiden tatsächlich, sich gegen den Rest der Tribute durchzusetzen – und die Regeländerung wird rückgängig gemacht. Anstatt sich gegenseitig umzubringen, beschließen die beiden, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Voller Panik wird die Regeländerung doch wieder in Kraft gesetzt; die beiden gewinnen gemeinsam.
Doch wie das Dénouement zeigt, ist diese Kampfansage an das Kapitol erst der Beginn der Probleme. Während Katnissn die Liebe zu Peeta als Inzenierung betrachtete, um Sponsoren zu gewinnen, war sie für Peeta stets echt. Die Erkenntnis, dass seine Liebe nicht erwidert wird, trifft Peeta hart. Katniss indessen hat die Machthaber vor aller Welt lächerlich gemacht. Als Siegerin ist sie nun in größerer Gefahr, als sie es in der Arena je war. Mit diesem düsteren Ausblick endet der Roman.
Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass mich die literarische Qualität des Werks überrascht hat. Meine Hauptkritik 2012, als ich den Film gesehen hatte, bezog sich auf das Worldbuilding und seine zahlreichen Fragwürdigkeiten. Nun ist es allerdings eine Binsenweisheit unter Kritiker*innen, dass solche Probleme eigentlich nur dann auffallen, wenn die Geschichte nicht packend ist. Wer hat sich schließlich je bei „Star Wars“ ernsthaft gefragt, warum der Todesstern eine solch eklatante Sicherheitslücke hat? Da brauchte es Jahrzehnte eines nerdigen Fandiskurses. Die Spannung der Geschichte, die Figuren und das Setting tragen über alle Logiklücken. Deswegen muss an dieser Stelle kurz über den Film gesprochen werden: der ist nicht schlecht, aber eben auch nicht besonders gut. Ohne die Romanvorlage und das eingebaute Publikum ist kaum vorstellbar, dass da vier Kinofilme herausgekommen wären.
Das liegt vor allem daran, dass das zentrale Strukturmerkmal des Romans, dem das wahre Genie Collins‘ und ihre größte schriftstellerische Fähigkeit zugrundeliegt, nicht in das filmische Medium übertragen werden kann: die Erzählperspektive. Der komplette Roman (wie auch seine beiden Sequels) sind in einer personalen Ich-Erzählperspektive erzählt, die niemals gebrochen wird. Das allein reichte aber noch nicht aus, um die Lesenden einzunehmen. Die Konstruktion von Katniss‘ Charakter ist das zweite, zentrale Puzzlestück. Denn Katniss ist eine unglaublich unempathische Person, die sich notorisch schwer damit tut, andere Menschen zu verstehen. Oder Politik. Sie ist ein klassischer Wilhelm-Tell-Charakter: Freiheitskämpferin wider Willen, vom bösen Vogt Snow in den Kampf gezwungen, weil sie einen Pfeil auf Prim und Peeta (in Personalunion) abschießen musste, instrumentalisiert von den Eidgenossen der Rebellion; oder so ähnlich.
Diese Konstruktion sorgt im Roman dafür, dass wir genauso wie Katniss oft gar nicht richtig verstehen, was um sie herum passiert, und die Handlungen der Menschen um sie herum beständig missverstehen. Zusammen mit Katniss betrachtet man Peeta als große Gefahr und misstraut seinen philosophischen Erklärungen, die Katniss nicht versteht (viel zu wenig pragmatisch aus Überleben ausgerichtet). Gerade hier zeigt sich wieder Collins‘ clevere Konstruktion: Peetas Erklärung, er wolle nicht sein Selbst in den Spielen verlieren, was wichtiger als Überleben sei, wird von ihr überhaupt nicht verstanden und als Gewäsch verworfen, wie es unzweifelhaft auch auf Lesende wirkt, die solcherlei Erklärungen ohnehin kennen dürften. Erst als Katniss im Verlauf der Handlung Erfahrungen sammelt und Reflexionen anstellt, versteht sie Peetas Punkt am Ende und wandelt ihn instinktiv in die Waffe gegen das Kapitol um, die er darstellt. Auch, dass Peeta die Liebesbeziehung nicht spielt (schon gar nicht im Fieberdilirium), kommt ihr niemals in den Sinn.
Auf diese Art kann Collins einerseits den Spannungsbogen aufrechterhalten, andererseits aber auch Beobachtungen über die Welt anstellen, die permanent gebrochen und hinterfragt werden müssen, weil Katniss ein wahnsinnig unzuverlässiger Erzähler ist. Dieses attraktive Element, das auch George R. R. Martins „Das Lied von Eis und Feuer“ auszeichnet, übersetzt sich überhaupt nicht auf die Leinwand. Dass Katniss eine nicht besonders telegene Person ist, die ihre Gefühle eng in sich verschlossen hält und nicht nach draußen trägt, wird von Jennifer Lawrence in der Hauptrolle zwar gut umgesetzt, sorgt aber nicht eben für ein gutes Filmerlebnis. Die tiefe Einsamkeit Katniss‘, die selbst unter Menschen alleine ist, funktioniert als Erzählperspektive im Roman hervorragend, gibt uns einen Einblick ohne Tiefenverständnis, das wir uns selbst erarbeiten müssen. Im Film erfordert es unelegante narrative Hilfskonstruktionen.
Im Gewand eines YA-Romans kommt so eine vielschichtige, dystopische Gesellschaftskritik einher, die niemals auf ein billig-analogisierendes Niveau herabfällt. Die Rolle der Medien und des Spektakels etwa dürfte zahllose Anknüpfungspunkte an die heutige politische Situation finden, und dystopische Diktaturen bieten immer genügend Material für Analogien. Es spricht für Collins, dass ihr Werk sowohl von Linken als auch Rechten für sich in Beschlag genommen wurde und nicht offensichtlich eine Repräsentation einer ideologischen Richtung ist.
Collins‘ Worldbuilding ist außerdem auf sehr kluge Art mit ihrem Plot und ihren Charakteren verknüpft. Die Tessera-Steine etwa, die im Roman ständig im Hintergrund liegen, zeigen die vielschichte Grausamkeit der Herrschaftsmechanismen des Kapitols, sind aber gleichzeitig ebenfalls ein Element, das sich nur schwer in den Film übertragen lässt. Dasselbe gilt für Katniss‘ tiefe Empfindungen gegenüber den wenigen Menschen, die sie liebt – eigentlich nur Prim und Gale – und der kalten Abweisung von solchen, die sie als schwach empfindet, wie ihrer Mutter. Katniss ist keine durchgängig sympathische Person, aber sie ist unsere Protagonistin. Wer zwischen den Zeilen liest, kann bereits die zahlreichen Anspielungen auf ihre spätere Rolle als Galionsfigur der Rebellion erkennen, eine Rolle, die ihre Verbündeten wie Gegner erkennen und zu formen oder zu verhindern suchen, während Katniss nicht einmal gewahr ist, dass sie ihr zukommt. Diese Konstruktion wird in den beiden Folgeromanen große Dienste leisten, die die Betrachtungen der Diktatur und ihrer Funktionsweise wesentlich vertiefen.
Suzanne Collins – Die Tribute von Panem 2: Gefährliche Liebe (Hörbuch) (DVD)
Der zweite Band der „Tribute von Panem“-Trilogie ist, wie man im Englischen sagt, ein odd duck. Es ist das kürzeste Werk der Trilogie und gleichzeitig das unabgeschlossenste. Endete bereits „Tödliche Spiele“ mit einem ziemlichen cliffhanger, so gilt das für den zweiten Band gleich doppelt, der das Instrument des unzuverlässigen Erzählers und der beschränkten Sichtweise Katniss‘ zu neuen Höhen treibt. Das soll natürlich nicht heißen, dass der Roman schlecht wäre. Vielmehr bietet er einen für Erstlesende verwirrenden Mix aus Kontinuitäten und Brüchen gegenüber der Handlung und Struktur des ersten Romans, die dabei Katniss‘ Gefühlswelt wiederspiegeln – ein weiterer konzeptioneller Triumph für Collins‘ Romantrilogie. Aber der Reihe nach.
Die Handlung beginnt nur unwesentlich nach Ende von „Tödliche Spiele“. Katniss und Peeta haben gesiegt, sind in das Dorf der Sieger gezogen – eine Luxussiedlung für die Sieger, die sie nur weiter vom Rest des Distrikts entfernt – und leben nach außen hin ihre Liebesbeziehung weiter. In der Praxis sind sie wie ein Ehepaar in der Trennungsphase, das nur „der Kinder wegen“ zusammenbleibt, nur dass das Kind in dem Falle ein rachedurstiges Kapitol ist. Katniss‘ naive Vermutung, dass mit dem Sieg in den Hungerspielen die Gefahr vorbei wäre, wird schnell Lügen gestraft. In der Arena kannte sie wenigstens diese Regeln; diese neue Spiel, in dem sie nach außen hin performen und das politische Spiel mitmachen muss, ist ihr völlig fremd, und sie bewegt sich wie durch tückischen Treibsand.
Als ob nicht das bereits Druck genug wäre, erklärt ihr Präsident Snow persönlich, dass sie durch ihr Verhalten in der Arena dafür gesorgt hat, dass Panem von Aufständen erschüttert wird. Es gibt Zweifel an der Echtheit ihrer Liebesgeschichte, und diese Zweifel befeuern die Idee, dass sie eine Widerstandskämpferin sei. Es ist nun an ihr, durch ihre Mitwirkung in der Propaganda des Kapitols bei der Befriedung der Distrikte zu helfen. Dass all diese Aufmerksamkeit, die sie für den Rest ihres Lebens haben wird, bedeutet, dass sie Peeta heiraten muss und nie mit Gale zusammenkommen kann, für den sie nun ihre Gefühle endlich als die Liebe erkennt, die sie schon immer waren, macht die Sache nicht eben besser. Katniss reibt von Beginn an an den goldenen Fesseln, in denen sie nun liegt, und muss genau auf dem Parkett bestehen, auf dem sie noch nie gut war.
Entsprechend desaströs verläuft auch die Tour der Sieger durch die Distrikte. Gleich in Distrikt 11 sorgt die Anerkennung für Rues Familie und Rues Tod für Aufstände und Tote, und nicht einmal die rauschende Abschiedsveranstaltung im Kapitol, bei der die ganze Dekadenz der Hauptstadt deutlich wird, kann diesen Eindruck abschütteln.
Es ist deswegen zwar schockierend, aber keineswegs überraschend, dass Snow zu den anstehenden 75. Hungerspielen eine besondere Überraschung in petto hat: die Tribute rekrutieren sich dieses Mal aus den Siegern vergangener Spiele, was im Extremfall bedeutet, dass Senioren in die Arena geschickt werden – und für Distrikt 12, dass nur Katniss, Peeta und Haymitch überhaupt zur Verfügung stehen. Der Plan, Katniss in einem zweiten Anlauf dieses Mal wirklich vor laufenden Kameras sterben zu sehen oder doch zumindest dazu zu zwingen, Peeta zu töten (der in seiner aufrichtigen Liebe sie niemals töten würde), ist grundsätzlich stabil. Doch bereits die Interviews zeigen, dass Snow sich auch verkalkuliert hat: die anderen Tribute sind nicht eben begeistert, dass das Kapitol das explizite Versprechen des Hochverratsvertrags bricht. Für einen kurzen Moment kommt es auf offener Bühne zur Solidarisierung aller Tribute.
Das allerdings hält nicht lang. Wie so häufig arbeiten die Karrieros auch dieses Mal gegen den Rest zusammen. Allein, für Katniss und Peeta ist die Lage eine andere: dieses Mal sind sie Favoriten, können ebenfalls Verbündete suchen – und gebrauchen. Katniss‘ sprichwörtlicher Charme allerdings ist keine große Hilfe, und sie misstraut den anderen Tributen genauso, wie sie bei den 74. Spielen Peeta misstraut hat. Die einzigen Verbündeten, um die sie aktiv wirbt, sind die alte Mags und der Tüftler Beetee. Haymitch verzweifelt schier über ihre Sturheit und ihre Weigerung, effektive (aber möglicherweise verräterische) Verbündete zu wählen. Katniss selbst befindet sich im Kamikaze-Modus: sie will in der Arena sterben, um Peeta zu retten. Dass sie dazu um den Jungen herumarbeiten muss, der zweifellos den gleichen Plan hat, macht die Sache nicht einfacher.
Die Arena zeigt sich dann als großes Speichenrad in einem See. Anders als bei den 74. Hungerspielen kämpft Katniss direkt am Füllhorn, erringt gleich Waffen und erhält in Finnick Odaire einen unerwarteten Verbündeten, der von Haymitch instruiert wurde. Der hat im Hintergrund einen größeren Plan, ohne Katniss eingeweiht zu haben – was diese mehr als verärgert. Zusammen bezwingen Finnick, Katniss, Mags und Peeta einige Gefahren der Arena – Kraftfelder und mutierte Affen, vor allem -, ehe Mags sich in einem giftigen Nebel opfert, um Peeta zu retten. Katniss kann nicht nachvollziehen, warum irgendjemand sich für Peeta oder sie opfern würde, aber Finnick lässt wenig Zweifel daran, dass dies zum Plan gehört. Den Gefahren der Arena trotzdend, gabelt die Gruppe Beetee auf, der einen langen Draht bei sich hat, mit dem er gedenkt, das Kraftfeld der Arena gegen die anderen Tribute zu wenden.
Indessen entschlüsselt die Gruppe das Geheimnis um die Funktionsweise der Arena: die Speichen des Rades sind eine Uhr, und jede Stunde gibt es in einem anderen Zwölftel der Arena eine tödliche Gefahr. Die Gruppe hat einen Plan, die Karrieros zu besiegen; allein, was danach geschehen soll, ist unklar. Katniss ist permanent darauf vorbereitet, Finnick und Beetee zu ermorden, eine Haltung, die ihren geistigen Tribut fordert. Als Peeta schwer verletzt wird, schließt sich der Gruppe zudem Johanna Mason an, die ebenfalls zu Protokoll gibt, sowohl ihn als auch Katniss schützen zu wollen, ohne viel mehr zu verraten. Katniss‘ Verwirrung wird allerdings durch ihre ständige Bereitschaft zum Kampf in den Hintergrund gedrängt.
Im Finale übrschlagen sich die Ereignisse. Beetee wird verletzt, so dass es Katniss übernehmen muss, die von ihm gebaute Falle mit dem Kraftfeld zu verbinden. Während um sie herum völliges Chaos ausbricht, gelingt ihr das – was das Kraftfeld zur Implosion bringt. Als Katniss wieder erwacht, befindet sie sich mit Haymitch und Finnick in einem Hovercraft zu den Rebellen von Distrikt 13 – ohne Peeta, der dem Kapitol in die Hände gefallen ist. Katniss erleidet einen völligen Nervenzusammenbruch, mit dem der Roman endet.
Dieser Nervenzusammenbruch ist schon ein Zeichen für die Andersartigkeit dieses Romans. Katniss steht im Verlauf der gesamten Handlung unter einem Dauerstress, den sie aber selbst nicht als solchen identifizieren kann. Die an ihr reißenden und widersprüchlichen Notwendigkeiten mit ihrem ungeheuer hohen Einsatz – es geht nicht nur um ihr Leben, sondern auch das ihrer Familie und ihrer Freunde – und die Hoffnungslosigkeit, jemals eine normales Leben führen zu können, zermahlen Stück für Stück ihre mentale Widerstandskraft, machen sie aggressiv und reizbar und sorgen dafür, dass sie sich noch mehr verschließt.
Dass diese Hoffnungslosigkeit ihr zusätzlich durch das Vor-Augen-Führen des Schicksals der anderen Tribute eingehämmert wird, macht die Lage nicht besser. Es ist eine brillante Worldbuilding-Entscheidung Collins‘, die Tribute hierfür zu nutzen. So ist etwa der Schänling Finnick Odaire nur an der Oberfläche ein Luftikus; unter dem Playboy-Image verbirgt sich eine zutiefst traumatisierte Persönlichkeit: als vierzehnjähriger Sieger wurde er direkt von Snow an reiche Gönner*innen im Kapitol in die Sexsklaverei verkauft. Seit seinem Sieg ist er letztlich der prominenteste Zwangsprostituierte Panems. Johanna Mason erwähnt beiläufig, dass sie Peetas und Katniss‘ Verwundbarkeit nicht teilt, weil alle Menschen, die ihr je etwas bedeutet hatten, vom Kapitol ermordet wurden. Und so weiter. Die dystopische Realität der Hungerspiele erstreckt sich weit über die Arena hinaus und vergiftet wie jede strukturelle Unterdrückung und Gemeinheit alle Facetten der Gesellschaft. Wenig überraschend, dass Katniss es im Dorf der Sieger nicht aushält und stattdessen in fast animalischer Einsamkeit in der alten Hütte der Familie lebt. Wie dysfunktional müssen erst die Siegerdörfer der Distrikte sein, die mehr Einwohnende haben als der von Distrikt 12?
Das Worldbuilding in „Gefährliche Liebe“ ist so zugleich komplexer als auch subtiler als in „Tödliche Spiele“. Komplexer, weil die Bosheit des Kapitols wesentlich stärker im psychischen Bereich zu verankern ist, wo die Tribute auf unterschiedliche Weise nach ihrem Sieg für die Belange ihrer Unterdrücker eingesperrt und von diesen in ihrem Sinne verdreht wurden. Nachdem in „Tödliche Spiele“ vor allem die Herrschaft des Kapitols über die Körper der Einwohner*innen der Distrikte vorgeführt wurde, zeigt es jetzt in einem Echo von „1984“ seine Herrschaft über ihren Geist. Die giftigen Dornen, die dabei eingeschlagen werden, werden sich nicht mehr entfernen lassen. Und genau das macht es auch subtiler. Katniss versteht nicht, was um sie herum und mit ihr passiert, ist völlig in ihrer eigenen Welt und ihrer eigenen Beschränktheit gefangen. Das macht sie so effektiv und authentisch, weswegen sie überhaupt erst zum Symbol des Widerstands werden kann, erfordert aber gleichzeitig, dass alle um sie herumarbeiten.
Nirgendwo wird das so deutlich wie in Katniss‘ Charakterzug, immer alles persönlich zu nehmen und auf sich zu beziehen. Sie ist geradezu grotesk unfähig, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Sichtweise nachzuvollziehen. Stets nimmt sie an, dass alle denselben unbändigen Willen und dieselben Prämissen und Ziele haben wie sie, und wird konstant überrascht, wenn das nicht der Fall ist. Vor allem bei der Erstlektüre ist das eine reichlich frustrierende Erfahrung.
Collins‘ Werk ist daher keine einfache Wiederholung der Handlung des ersten Romans, auch wenn es zuerst so aussieht. Ja, es gibt erneut Hungerspiele, und wieder sind Katniss und Peeta dabei. Aber da enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Stattdessen treibt Collins die Handlung mit einer Konsequenz voran, die der äußeren Erscheinung als YA-Roman Lügen straft. Spätestens in „Gefährliche Liebe“ (was für eine bescheuerte Übertragung des englischen Titels) wird der Stoff richtig düster. Die Düsternis ist noch an den Rändern; Katniss‘ egozentrischer Fokus sorgt dafür, das der Horror, den Finnick, Johanna, Haymitch und andere erlebt haben, an den Rändern bleibt und nicht in ihr Bewusstsein vordringt. Doch wenn sie im dritten Roman selbst neuen Schrecken ausgesetzt sein wird, baut diese Handlung auf dem starken Fundament auf, das dieser Roman gelegt hat.
Suzanne Collins – Die Tribute von Panem 3: Flammender Zorn (Hörbuch) (Englisch) (Film 1) (Film 2)
Der letzte Roman in der „Tribute von Panem“-Reihe ist für mich bei der Erstlektüre der überraschendste gewesen. Ich wusste von meiner Frau, dass ihr der Roman am wenigsten gefallen hatte, weil er zu wenig Ähnlichkeit zu den ersten beiden und „zu viel Politik“ hatte. Wenig überraschend war ich sehr gespannt darauf. Was ich hier vorgesetzt bekommen würde, hätte ich allerdings nicht erwartet. „Flammender Zorn“ ist für die Romanreihe das, was Ned Starks Tod oder die „Rote Hochzeit“ für „Das Lied von Eis und Feuer“ sind: der Moment, in dem die Autorin deutlich macht, um was es ihr eigentlich geht, in der Erwartungen gebrochen und die zentrale These in den Vordergrund gerückt wird. Bevor wir allerdings in die Analyse gehen, zuerst eine inhaltliche Zusammenfassung.
Nach der Evakuierung aus der Arena am Ende von „Gefährliche Liebe“ erlitt Katniss einen Nervenzusammenbruch. Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich in einem Krankenzimmer. Sie verliert völlig die Kontrolle über sich und muss sediert werden. Als sie nach Wochen einigermaßen bei sich ist, wird ihr klar, dass sie sich in Distrikt 13 befindet. Dieser war angeblich in den Dunklen Tagen zerstört worden, doch das stellt sich als Kapitolpropaganda heraus: stattdessen sind beide seit 75 Jahren in einem Kalten Krieg. Distrikt 13 verfügt über Atomwaffen, mit denen es das Kapitol abschreckt, das seinerseits Einmischungen von Distrikt 13 durch eigene Zerstörungsdrohungen abschreckt.
Katniss wird in den Kriegsrat aufgenommen, in dem neben Haymitch und Gale auch der übergelaufene oberste Spielmacher Plutarch Heavensbee und die Präsidentin von Distrikt 13, Coin, tätig sind. Katniss‘ Aufgabe ist das Fungieren als Propagandafigur. Das „Mädchen das in Flammen steht“ ist zum zentralen Symbol des Widerstands geworden, genauso wie der Spotttölpel. Katniss soll in Propagandavideos die Hauptrolle spielen, doch wie so oft in solchen Situationen ist sie steif und hölzern. Nur in der realen Situation kann sie sich entfalten, so dass sie bald auf einen Einsatz geschickt wird.
Dieser findet in einem Feldlazarett in Distrikt 4 statt, wo Katniss mit Verwundeten spricht und zum ersten Mal hautnah erlebt, welche Hoffnungen und Gefühle auf sie projiziert werden. Wenig überraschend kommt sie damit nicht wirklich zurecht. Ein Bombenangriff des Kapitols, dem ein Großteil der Verwundeten zum Opfer fällt, demonstriert dann auch gleich ebenso hautnah die Schrecken eines Krieges, in dem die Genfer Konvention keine Rolle mehr spielt. Katniss schwört live im Fernsehen blutige Rache und heizt die Stimmung weiter an. Doch auch Snow ist im Propagandakrieg nicht untätig: der gefangene Peeta wird gezwungen, in Kapitol-Videos aufzutreten und Katniss zu verdammen. Für sie ist das ein weiterer schwerer Angriff auf ihre ohnehin angeschlagene Psyche, was sicherlich Snows Kalkül war. Um ihre Einsatzfähigkeit zu erhalten, beschließen Coin und die Widerständler eine gefährliche Operation: Peeta und die anderen gefangenen Tribute (vor allem Johanna Mason und Finnicks Freundin) sollen herausgeholt werden. Die Operation gelingt – und bald wird auch klar, warum: Peeta wurde durch eine psychologisch-pharmazeutische Operation in einen Doppelagenten verwandelt, der in Katniss seinen größten Feind sieht und sie unter allen Umständen ausschalten will.
Zur gleichen Zeit entfernt sich Gale immer mehr von Katniss. Seine unnachgiebige Haltung, die Kollateralschäden willentlich in Kauf nimmt, um das Kapitol zu besiegen, wird vor allem beim Kampf um die „Nuss“ deutlich, eine Bergfestung in Distrikt 2. Anstatt sie unter großen Verlusten zu erstürmen, überzeugt er Coin von seinem Plan, einen künstlichen Erdrutsch zu erzeugen und die Verteidiger*innen lebendig zu begraben, ein Plan, der bei Katniss blanken Horror auslöst – schließlich starben ihre beiden Väter bei Minenunglücken. Aber in Gale ist nichts als Hass zurückgeblieben, der ihn – und zahlreiche andere Rebellen – im Kampf gegen das Kapitol antreibt.
Als es zum finalen Sturm auf das Kapitol geht, macht sich Katniss mit einer Einheit aus Siegern der Hungerspiele mit einigen Soldaten und einem Kamerateam auf, um Szenen im Straßenkampf aufzunehmen. Erneut setzt sich Katniss damit über Coins expliziten Willen hinweg. Als diese Peeta der Einheit zuweist, um seinen Heilungsprozess zu befördern, ist Katniss mehr denn je überzeugt, dass Coin sie tot sehen will. Ihr Wert als Propagandamittel ist ausgereizt; eine Märtyrerin wäre nun die letzte Steigerung für den blutigen Straßenkampf im Kapitol. Auch politisch würde Coin sich so einer großen Gefahr entziehen, schließlich stehen bald Wahlen an – und dass Katniss sich kaum für Coin aussprechen wird, liegt auf der Hand.
Doch Katniss desertiert von ihrer Mission. Sie behauptet, einen Geheimauftrag Coins bekommen zu haben: Snow zu töten. Ihr ist es völliger Ernst damit. Der Rest des Teams akzeptiert ihre Behauptung und begleitet sie durch die Straßen des Kapitols, die voller einfallsreicher Fallen sind, die dem Geist der Spielmacher entspringen. Nicht immer gelingt es dem Kapitol, sie zur Vermeidung ziviler Verluste zu entschärfen – oder versucht es überhaupt. Während sich Katniss‘ Trupp in das Zentrum des Kapitols kämpft und schleicht und immer weiter dezimiert wird, rücken auch die Rebellen vor. Das Kapitol ist von Flüchtlingen verstopft, die immer mehr zwischen die Fronten geraten. Angesichts des drohenden Endes verbarrikadiert sich Snow umgeben von zahlreichen Flüchtlingskindern als menschlichem Schutzschild in seinem Palast.
Katniss erreicht diesen gerade mit den Truppen der Rebellen. Ein Hovercraft mit dem Wappen des Kapitols wirft Fallschirme mit kleinen Paketen unter den Kindern ab – die prompt explodieren. Unter den Sanitäter*innen der Rebellen, die zu ihrer Hilfe eilen, ist auch Katniss‘ Schwester Prim, zu deren Rettung sie sich einst freiwillig meldete. Noch bevor Katniss reagieren kann, explodieren weitere Bomben und zerreißen die Überlebenden wie die Sanitäter*innen – eine Strategie, die Gale ursprünglich begonnen hatte. Katniss selbst überlebt nur schwer verletzt.
Wochen später wird sie, halbwegs wieder hergepäppelt, aber an ihrem Geist noch schwerer verwundet als ohnehin schon, zu einem letzten Propagandaauftritt gerufen: sie soll Präsident Snow, der in einem Schauprozess schuldig gesprochen worden war, hinrichten, symbolisch den letzten Schuss des Krieges abfeuern. Auf ihren Wanderungen durch Snows Palast, in dem sie untergebracht ist und in dem sie sich meist in Kleiderschränken vor der Welt versteckt, trifft sie schließlich auf Snow selbst, der unter Hausarrest steht. Der ehemalige Präsident erklärt ihr, dass das Hovercraft ein False-Flag-Angriff Coins gewesen sei, die dadurch den letzten Widerstand des Kapitols brach. Snow, entschlossen bis zum letzten zu kämpfen, wurde von seinen eigenen Truppen verraten. Zutiefst verstört kehrt Katniss von dieser Begegnung zurück. Vor der Hinrichtung allerdings steht eine letzte Entscheidung an: Um die Rachegelüste der Distrikte zu kanalisieren, schlägt Coin letzte Hungerspiele unter den Kindern der Kapitol-Elite vor. Der Beschluss soll von den überlebenden Sieger*innen getroffen werden. Katniss‘ Votum für die Spiele entscheidet die Abstimmung.
Als es schließlich soweit ist, dass sie die Hinrichtung vollziehen soll, schießt sie statt auf Snow auf Coin und tötet sie. In der Folgezeit wird sie unter der Bedingung freigesprochen, ins Exil in Distrikt 12 zu gehen, der wieder aufgebaut werden soll. Peeta, immer noch verstört, aber leidlich erholt, begleitet sie, und die beiden finden langsam zueinander. Im Epilog erklärt Katniss, dass sie den Tag fürchtet, an dem sie ihren Kindern von den Spielen erzählen wird.
Bereits diese Beschreibung des Inhalts sollte deutlich machen, warum ich zu meiner anfänglichen Einschätzung kam, aber auch, warum so viele Leute ein Problem mit dem dritten Band (und folglich dem vierten Film) hatten. Die Geschichte verläuft so gar nicht in der erwarteten Struktur des lange ersehnten Freiheitskampfs. Von Beginn an unterläuft Collins diese Erwartung und Hoffnung und weigert sich, den Lesenden zu geben, was sie wollen. Dieser Kniff erinnert mich an die ersten Folgen der dritten Staffel von „Battlestar Galactica“, als der Guerillakampf gegen die Zylonen explizit in der Sprache der Djihadis im Irakkrieg erzählt wurde; eine bis dato künstlerisch selten erreichte Herausforderung des Publikums in einem solchen Popkulturformat. Dasselbe gilt hier.
Die ungeheure Frustration, die viele Lesende bei der Lektüre empfanden, ist zuerst verständlich. Katniss ist ein Objekt, das kaum eigene Souveränität besitzt. Was sie sich gegen den Widerstand ihrer Vorgesetzten und Handler erzwingt, sind winzige Siege. An zentralen Ereignissen ist sie praktisch nicht beteiligt – etwa an der Rettung Peetas -; sie werden nur durch eine Mauerschau erzählt. Selten ist Collins‘ personale Erzählstruktur so erbarmungslos wie hier, sie verweigert jegliche Teilnahme Katniss‘ an irgendwelchen offensichtlich gefährlichen Szenen, solange dies nicht von der Plotstruktur her Sinn ergibt. Es könnte aufmerksamen Lesenden auffallen, dass sich dies mit dem Knacken der „Nuss“ rapide ändert. Plötzlich geht sie, begleitet vom ubiquitären Kamerateam, in die gefährlichsten Einsätze.
Das eigentliche Herzstück der Handlung, das erst ungefähr in der Hälfte des Romans einsetzt (und den Wechsel zwischen Film 3 und Film 4 markiert, weswegen ersterer von der Kritik wie vom Publikum wenig geliebt wurde), ist die Mission ins Kapitol. Doch diese ist völlig sinnlos. Die großen Opfer, die von den an Katniss glaubenden Mitgliedern des Trupps erbracht werden – nur Peeta und Gale überleben neben Katniss, alle anderen, inklusive einem gerade erst verheirateten Finnick, sterben im Verlauf der Flucht durch die Unterwelt des Kapitols – sind umsonst. Katniss erreicht den Palast – den sie niemals hätte betreten können – zeitgleich mit den Truppen der Rebellen. Sie wird gerade noch Zeuge der False-Flag-Attacke, die den Krieg abrupt beendet und schwere Opfer in der Zivilbevölkerung vermeidet, um den Preis des Todes einigere Kinder und Sanitäter*innen.
Obwohl Collins bewusst unklar lässt, inwieweit Snows Erklärung hierfür zu trauen ist, so sehr passt dies zu Coins Vorgehensweise. Katniss‘ übliche Schwierigkeiten, politische und mediale Dynamiken zu durchschauen, wird von Collins ein letztes Mal höchst effizient gegen die Lesenden in Stellung gebracht. Coin erscheint einen Großteil des Romans als ein typischer Antagonist für eine Heldengeschichte, als der vorgesetzte Offizier, der den Helden aus falscher Vorsicht am Heldsein hindert. Doch Coin nutzt solche Narrative für sich. In der Rückschau sind die Indizien dafür, dass sie die Sieger*innen der Hungerspiele aufhetzt und für ihre Zwecke einspannt, offensichtlich, ebenso die kalkulierten Risiken für Katniss. Nicht einmal bei dem Bombenangriff des Kapitols auf ein Lazarett zu Beginn der Geschichte kann man sich sicher sein, ob Coin nicht Katniss‘ Standort bewusst preisgegeben hat, um die aufwühlenden Bilder zu provozieren.
Der Verrat von Distrikt 13 ist ein Plotfaden, der ständig im Hintergrund läuft. Die Propaganda und der Schulddruck, den Distrikt 13 auf die Rebellen ausübt – schließlich wurden sie ja evakuiert und in deren Heimat aufgenommen – wird durch beiläufig eingestreute Informationen konterkariert, etwa die Tatsache, dass Distrikt 13 seit einer Seuche vor einigen Jahren viel Bevölkerung verloren hat und zahlreiche Sterilitäten als Folge der Krankheit erdulden musste, weswegen er nun strategisch die Flüchtlinge selektiert und integriert. Dass Distrikt 13 am Ende des Krieges die restlichen Distrikte aufgab und den Kalten Krieg gegen das Kapitol begann, wird zwar kurz thematisiert, aber schnell wieder vergessen – weil das dem Kalkül der Propaganda entspricht. Denn schließlich schützten die Atomwaffen zwar Distrikt 13, gaben aber die anderen 12 Distrikte der Unterdrückung des Kapitols preis.
Es ist auch auffällig, wie sehr Distrikt 13 ein Spiegelbild des Kapitols ist. Wo dieses mit offensichtlicher Allegorien auf römische Dekadenz aufwartet, mitsamt den an Gladiatorenspiele gemahnenden Hungerspielen und den Pferdewägen, die einen Circus-Maximus-ähnlichen Platz befahren, ist Distrikt 13 in seiner Uniformität, frugalen Selbstbeschränkung, grauen Uniformen und kollektivistischen Ideologie eine unverkennbare Allegorie auf kommunistische Diktaturen; Winston Smith würde sich sofort wie zuhause fühlen. Es ist beinahe so, als wären Distrikt 13 und das Kapitol zwei Seiten derselben…Coin. Bei Collins haben alle Namen eine Bedeutung, aber selten war ein Name so leicht zu entschlüsseln wie dieser. Die Herrschaft von Distrikt 13, die sich dieser mit dem Blut der Distrikte erkämpft (auch diese Beobachtung wird nur beiläufig gemacht; alle Offensiven haben die Rebellen an vorderster Front, die die Verluste erleiden, während die besser ausgerüsteten und organisierten Truppen von Distrikt 13, die ihren Status als Verbündete der Rebellen nie zugunsten einer Einheitsarmee aufgeben, Verluste vermeiden und im Hintergrund intakt bleiben), ist auch nicht wesentlich besser als die des Kapitols. Wer daran Zweifel hatte, dürfte diese spätestens mit dem False-Flag-Angriff und dem Vorschlag für die finalen Hungerspiele zu Grabe tragen.
Auch hier verkompliziert Collins das Bild deutlich. Nicht nur der radikalisierte, von Rachedurst aufgefressene Gale, der darüber seine geliebte Katniss endgültig verliert, stimmt diesem grausamen Vorschlag zu; auch Katniss selbst tut dies zum Entsetzen Peetas trotz aller Empathie, die sie für die Opfer von Hungerspielen empfinden müsste. Dass sie am Ende eine Beziehung zu Peeta anstatt zu Gale sucht, bestätigt auch deren zynische Einschätzung, dass sie die Person wählen würde, die sie am meisten zu brauchen glaubt – nicht zu lieben, zu brauchen. Katniss ist abgestoßen von dieser negativen Sicht auf sie, doch kann sie andererseits nicht aus ihrer Haut. Die Komplexität, einen Charakter wie sie als Haupt- und Identitikationsfigur zu haben, die im dritten Band der Trilogie deutlich zum Vorschein kommt, dürfte maßgeblich zu dessen gemischter Rezeption beigetragen haben.
Dazu kommt der Themenkomplex aus psychologischer Kriegsführung, Trauma, PTSD und bewusstseinsverändernder Folter. Collins ist erbarmungslos in ihrer Darstellung der psychischen Folgen der Torturen, durch sie ihre Charaktere wirft. Katniss wird für immer längere Zeiträume völlig außer Gefecht gesetzt. Sie beginnt den Roman in der geschlossenen Abteilung, wird bald auf eine Liege festgeschnallt, steht unter ständiger Beobachtung, ist permanent kurz vor dem Bruch, nur durch die Mission und den unbedingten Willen auf Erfolg gegen das Kapitol angetrieben, wird verletzt, verliert ihre Freunde und Geliebte, sieht sich einer unverständlichen Gefahr gegenüber und wandert wochenlang durch Snows Palast. Immer wieder versteckt sie sich, zieht sich in sich selbst zurück, versucht, mit aller Macht ihren Geist abzustumpfen, nichts zu denken, nichts zu empfinden.
Das alles ist sehr realistisch und eine ebenso glaubhafte wie schockierende Darstellung dessen, was der Krieg mit Menschen macht, aber es ist natürlich nicht unbedingt der Stoff, den man in einem YA-Roman erwarten würde.Doch gerade das macht die Stärke dieses Stoffes aus, macht die Beschäftigung so ungemein lohnenswert. Die Lesenden beginnen den Roman mit demselben Verlangen wie Katniss, der Hoffnung auf eine Katharsis durch die Niederwerfung Snows und des Kapitols, doch wer das beendete Buch zur Seite legen und immer noch dieses Bedürfnis hegen und Hoffnung auf eine reinigende Wirkung des Großen Krieges haben kann, muss ein Psychopath sein. Das heißt allerdings nicht, Collins als eine Pazifistin oder unreflektierte Kritikerin von „US-Imperialismus“ oder Ähnlichem darzustellen; wie auch in George R. R. Martins „Das Lied von Eis und Feuer“ haben wir es nicht mit einer simplen Moral von „Krieg ist schlecht“ zu tun.
Collins lässt uns durch Katniss‘ Augen keinen Zweifel daran, dass Krieg furchtbar ist, aber gleichzeitig kann genauso wenig Zweifel daran bestehen, dass er die einzige Möglichkeit ist, die Tyrannei und das Morden des Kapitols zu beenden. Die Logik der letzten Hungerspiele folgt der „logical insanity“ der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Niemals erlaubt sie es den Lesenden, sich der schwierigen moralischen Fragen zu entziehen, die Krieg und Politik aufwerfen, und konsequent verweigert sie sich einfachen Lösungen oder erlaubt es ihrer Heldin, sich durchzumogeln. Katniss ist Partei wider Willen, von der ersten Seite der Trilogie an, und zieht sich am Ende für ihr Leben gezeichnet ins Exil zurück. Ein Happy End sieht anders aus, aber es wäre ein Verrat an der Vision Collins‘ gewesen.
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