Ich komme gerade aus vielerlei Gründen nicht dazu, für alle Dinge, die ich lese, eigene Rezensionen zu erstellen. Deswegen lasse ich eine alte Tradition wieder aufleben und erstelle hier eine Übersicht über einige Titel, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, mit einigen Anmerkungen. Alle Links führen zu Amazon; wenn ihr darüber bestellt, erhalte ich einen kleinen Anteil. Damit genug der Vorrede, los geht's.
Robert J. Gordon - The Rise and Fall of American Growth (Audible-Hörbuch)

Die Geschichte des enormen Lebensstandardgewinns in der amerikanischen Volkswirtschaft ab etwa 1870 bis etwa 1970 bleibt ein sowohl unterbelichtetes als auch heiß umstrittenes Thema. Unterbelichtet, weil es nur wenige vernünftige Untersuchungen und historische Diskurse dazu gibt, heiß umstritten, weil zumindest die Schlussphase dieser Entwicklung, aber vermutlich auch der vorangehende New Deal, wegen der politischen Instrumentalisierung beständig umkämpft werden.
Fakt ist, dass der Lebensstandard in diesen hundert Jahren um einen Faktor anstieg, der die vorangegangenen Jahrtausende menschlicher Geschichte in den Schatten stellt, und der sich vorrangig in den USA abspielte. Europa zog erst mit deutlicher Verspätung nach, und Teile der Welt bis heute nicht. Robert J. Gordon fragt in seinem Buch, wie das geschehen konnte, warum es nicht vorher geschah und warum es seither nicht möglich war, die Wachstumsraten zu wiederholen.
Seine Lösung ist vor allem ein ständig wiederholtes Mantra: "It could only happen once." Der massive Gewinn an Lebensstandard zeigt sich in der Ernährung, der Hygiene, Gesundheit, den Lebensbedingungen, der Qualität der Wohnungen, in elektrischem Strom und fließend Wasser, der Revolution von Mobilität und Kommunikation und vielem mehr. Aber die Elektrizität kann nur einmal alles revolutionieren, fließend Wasser nur einmal die Gesundheit massiv erhöhen, geschlossene Kühlketten nur einmal die Kindersterblichkeit massiv absenken und so weiter. Seine von zahllosen Einzelbeispielen gespickte Erzählung ist ebenso erhellend wie erschöpfend.
Etwas weniger überzeugend ist der dritte Teil des Buches, der die Frage stellt, warum wir heute kein großes Wachstum mehr haben und was man tun könnte. Viele der Rezepte sind bereits heute eher veraltet und beruhen auf Prämissen, die der wirtschaftlichen Lage heute nicht mehr entsprechen, und könnten in ihrer generischen Anlage auch aus einem Wall-Street-Journal-Artikel entnommen sein. Aber der historische Teil alleine ist die Lektüre jederzeit wert.
Stephanie Kelton - The Deficit Myth. Modern Monetary Theory and How to Build a Better Economy (Audible-Hörbuch)

Stephanie Kelton hatte vor einigen Jahren ihre fünf Minuten Ruhm, als MMT in aller Munde war, und lieferte den entsprechenden Bestseller dazu. Ich bin nie dazu gekommen, ihn zu lesen, und habe das nun nachgeholt. Ehrlich gesagt war ich etwas enttäuscht. Die zentralen Thesen, die sie hier entwirft, sind so alle auch schon in zahlreichen Interviews und Erklärartikeln in kondensierter Form zu lesen gewesen und sind im ohnehin nicht sonderlich dicken Buch episch breit getreten, noch dazu mit nicht sonderlich gut gealterten politischen Bezügen zur Obama- und frühen Trump-I-Ära, so dass das Ding bereits jetzt deutlich Staub angelegt hat.
Da das MMT in Keltons Werk zudem nur für Staaten gilt, die ihre eigene Währungssouveränität haben und, wenn wir ehrlich sind, eigentlich nur wirklich für die USA, ist der Nutzen für eine internationale Lesendenschaft auch eher beschränkt, allen Protesten des Gegenteils zum Trotz. Für mich war die Lektüre nichts Neues und der missionarische Schreibstil auch nicht mein Ding.
Christoph Möllers - Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt

Ich habe das Buch schon einmal gelesen, eine ausführliche Rezension findet sich hier. Aber die Lektüre geht leicht von der Hand und ist übersichtlich, und ein wenig Expertenwissen zum Grundgesetz schadet ja grundsätzlich nicht. Angesichts auch aktueller Entwicklungen stimme ich Möllers Kritik an den zu zahlreichen und ebenso sprachlich überbordenden wie viel zu detaillierten Grundgesetzänderungen und -ergänzungen umso mehr zu. Allein der ganze Schuldenbremsenirrsinn und Sondervermögenquark zeigt die deutsche Tendenz, die Verfassung zur Regelung von allerlei kleinteiligem Kram zu nutzen.
Auch die Genese des Grundgesetzes und sein Aufbau sind einfach immer wieder Dinge, die man sich noch einmal vergegenwärtigen darf. Schließlich ist das der Text, der unser Zusammenleben so sehr regelt wie kein Zweiter, da ist ein tieferes Verständnis schon mal angebracht.
Randall Monroe - What if? 2 - Was wäre wenn?: Weitere wirklich wissenschaftliche Antworten auf absurde hypothetische Fragen (Audible-Hörbuch)
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er Webcomic xkdc ist seit Langem ein Fixpunkt der Internetkultur, und sein Autor, Randall Monroe, eine Art lebende Legende. Der Mann hat bereits mehrere Bestseller verfasst, in denen er den einzigartigen naturwissenschaftlichen Humor mit einer großen Leidenschaft für das Erklären von Phänomenen zusammenbringt, die selbst mit solchen STEM-Nieten wie mir eine fruchtbare Verbindung eingeht.
Wie bereits das erste Buch der Reihe befasst sich "what if 2" mit völlig absurden Fragestellungen, die von xkdc-Lesenden eingeschickt wurden und aus denen Monroe sich immer wieder welche herausgreift, um sie zu beantworten. Von der wichtigen Frage, wie viele T-Rex die Bevölkerung von New York City ernähren könnte (ohne Migrationsströme einzuberechnen, versteht sich) bis zu der Frage, was geschähe, wenn man das Sonnensystem mit Suppe füllte, ist wirklich alles vertreten.
Die Antworten auf die meisten Fragen enden im Untergang wenn nicht des Universums, so doch zumindest großer Teile des Sonnensystems, aber sie dienen letztlich auch nur als Absprungpunkt für die Erklärung von physikalischen Phänomen. So würde die Suppe des Sonnensystems zwar innerhalb kürzester Zeit das massivste schwarze Loch aller Zeiten produzieren, aber wir lernen auch, dass wir in dieser Suppe länger überleben würden, als man auf den ersten Blick annehmen könnte, da sie den schnellen Sturz in Richtung der Singularität abdämpfen würde. Wenn das kein Trost ist! Wer Antworten auf solche Fragen braucht und einfach gerne häufig und herzlich lachen möchte - und natürlich den etwas skurrilen Humor ab kann - kommt an dem Buch eigentlich nicht vorbei.
Saul Goodman v. Jimmy McGill: The Complete Critical Companion to Better Call Saul (Audible-Hörbuch)

Alan Sepinwall, der große Serien-Autor, hat nach seinem Werk zur großartigen Serie "Breaking Bad" nun auch eines zu "Better Call Saul" vorgelegt. Ich gehöre ja zur Gruppe derer, die "Better Call Saul" für die bessere der beiden Serien halten, was letztlich ein Wettbewerb auf höchstem Niveau ist. Beide Serien sind absolut großartig, aber "Better Call Saul" ist für mich eine Spur durchdachter, methodischer, tiefer, widersteht den Instinkten zur Belohnung niederer Instinkte des Publikums besser. Wo "Breaking Bad" seinem Protagonisten Walter White immer wieder eindeutig triumphale Momente bescherte, vor allem im etwas entgleisten Finale, weist "Better Call Saul" einen besseren moralischen Kompass und insgesamt noch tiefgründigere Figuren auf. Angesichts dessen, dass Saul Goodman in "Breaking Bad" eigentlich eher ein comic relief war, ist das ziemlich überraschend.
Etwas schade an dem Buch ist - das sei gleich vorneweg gesagt - dass Sepinwall sich nicht übermäßig viel Mühe gibt, das präsentierte Material noch einmal upzudaten. Der Kern sind die Reviews der einzelnen Episoden, die er damals geschrieben hat, die genug Spekulationen über Dinge enthalten, die dann nie passieren - hier wäre vielleicht ein entschlosseneres Überarbeiten mit dem Wissen der gesamten Serie hilfreich gewesen, auch wenn es so natürlich schön Sepinwalls Fähigkeiten zeigt, große Kunst direkt zu erkennen, wenn sie da ist, auch wenn sie noch nicht in ihrer Gänze vor uns liegt.
Wesentlich weniger interessant fand ich die Interviews mit den Produzenten der Serie oder den Schauspieler*innen, aber das mag auch persönliche Präferenz sein. Ich lese diese Dinger eigentlich nie gerne, selbst wenn sie ein solches Serien-Analyse-Genie wie Sean T. Collins durchführt, und da werde ich sicherlich nicht ausgerechnet für Sepinwall weich. Wer also solche Formate mag, wird hier sicherlich glücklich werden. Für mich waren aber schon die Episoden-Guides absolut den Kauf wert, und ich habe seither Lust, die Serie ein drittes Mal zu schauen. Nur, woher die Zeit nehmen? Da ist die Lektüre quasi eine Ersatzbefriedigung.
Jörg Bong - Die Flamme der Freiheit: die deutsche Revolution 1848/49 (Audible-Hörbuch)

Nachdem Christopher Clark kürzlich seine monumentale europäische Geschichte des "Völkerfrühlings" vorgelegt hat (hier rezensiert), habe ich mich einer wesentlich klassischeren Perspektive zugewandt und mit Jörg Bongs Werk eine spezifisch deutsche Revolutionsgeschichte angesehen. Zwar ignoriert Bong wahrlich nicht die europäische Dimension; vor allem die Anfänge in Frankreich und die deutsche Exilgemeine in Paris kommen zu ihrem Recht. Aber der Blick bleibt deutlich auf den deutschen Revolutionären, Liberalen und Fürsten.
Bongs Werk darf man sich auch nicht als wissenschaftlichen Wälzer wie bei Clark vorstellen. Vielmehr hat er etwas geschaffen, das man wohl am besten als "historisches Lesebuch" beschreiben dürfte. Unbelastet durch einen großen Fußnotenapparat führt Bong die Lesenden durch die individuellen Schicksale der Revolution, von Hecker zu Struwe, Ludwig II. zu von Gagern, von Robert Blum zu Karl Marx und zahlreichen weniger bekannten Figuren der Revolution.
Dabei gibt er den verschiedenen ideologischen Strömungen ihr Recht und differenziert sie scharf, von den radikalen Kommunisten, die sich damals als Schreckgespenst von Adel und Bürgertum gleichermaßen etablieren über die Demokraten zu den Liberalen hin zu den Konservativen und dem reaktionären Adel erfahren und erleben wir die Denkweise aller Beteiligten, ihre Ziele und Strategien.
Bong bemüht sich dabei keine Sekunde um kritische Äquidistanz. Seine Erzählung kennt Helden und Schurken, und er hat einen klaren, im 21. Jahrhundert angesiedelten moralischen Kompass. Die Helden sind jene, die unsere Werte vertreten: die Frauen, die als früheste Vorkämpferinnen der Emanzipation auftreten, und die Demokraten, die das deutsche Volk befreien und ihm Grundrechte und Gleichheit geben wollen. Die Schurken sind die Fürsten, die lügen und betrügen und Gewalt einsetzen, um ihre Macht zu behalten, und die Liberalen, die die Demokraten als größere Gefahr denn die Fürsten begreifen und mehr ihre Pfründe retten als Deutschland revolutionieren wollen.
Das kann man machen und es ist sicherlich auch eine erfrischende Perspektive, eine solch unerschütterlich pro-demokratische Perspektive zu lesen, die in der deutschen Geschichte Dinge findet, auf die man auch als Demokrat einfach stolz sein kann, ohne gleich irgendwelche rechten Narrative zu bedienen. Aus dieser Sicht ist Bongs Werk sicherlich zu begrüßen. Nur sollte man nicht den Fehler machen, es als geschichtswissenschaftlich verstehen zu wollen, denn das ist es sicherlich nicht. Das heißt natürlich nicht, dass es faktisch falsch wäre; Bong hat sauber und ausführlich recherchiert. Aber sine ira et studio ist es nicht.
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