Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Maus, 1933

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

BÜCHER

Hillary Chute – Maus Now (Hörbuch)

„Maus“ bleibt einer der entscheidenden Texte aus dem Genre des „Graphic Novel“, jener nebulös undefinierten Gruppierung, in die viel zu viele Comics sich gerne einsortieren, um ihre pubertären Gewaltfantasien zu adeln. Es gibt aber wohl niemanden, der widersprechen würde, dass es sich bei „Maus“ um ein sehr spezielles Werk handelt, das bis heute seine Nachwirkungen hat. Ich habe es bereits mehrmals rezensiert, und es werden sicherlich weitere Besprechungen dazukommen (siehe dazu am besten die Gesamtliste). Die Literaturwissenschaftlerin Hillary Chute hat ihre Promotion über „Maus“ geschrieben und legt nun einen von ihr editierten Essayband vor, in dem zahlreiche Autor*innen zu Wort kommen und über „Maus“ sprechen. Der Anspruch dabei ist, dass es den Platz des Graphic Novel in unserer Gegenwart bestimmt.

In ihrer „Introduction „Mouse Now““ schreibt Hillary Chute über ihre persönliche Geschichte mit dem Werk und was sie bewogen hat, sich ausführlich damit zu beschäftigen. Es ist eine intellektuelle Reise, die vielen Lesenden des Graphic Novel bekannt vorkommen dürfte, der eine unglaubliche Sogwirkung ausübt und einen nicht mehr loslässt. Ich denke immer wieder über Maus und einzelne Panels nach. Zwar bin ich bisher noch nicht so tief eingestiegen, dass ich mich auf wissenschaftlicher Ebene damit beschäftige, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Chute in jedem Falle stellt vor allem die Ambivalenz zwischen der Simplizität der Zeichnungen – eine klare Anordnung des Grids und der Panels sowie bewusst simple, detailarme Zeichnungen auf der einen Seite und die unglaublich komplexe, in sich gefaltete Story auf der anderen Seite – heraus.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil, „Contexts“, enthält überwiegend ältere Essays über die Einordnung des Werkes, vor allem Rezensionen.

Den Anfang macht Philip Pullmann (ja, der Philip Pullman) mit „Behind the Mask„. In dem Essay spricht er über die Bedeutung von Masken (im Graphic Novel tragen die Mäuse (Juden) manchmal Masken von Schweinen (Polen), um sich zu verstecken) und den Wandel von Identitäten. Es ist die staatliche Klassifizierung, die solche Identitäten überhaupt erst in dieser Schärfe schafft, und die Tatsache, dass es möglich ist, sie wie eine Maske überzustreifen, legt auf eine gewisse Art ihre Absurdität offen.

Überhaupt sind die Identitäten in den anthropomorphisierten Tieren bereits den Zeitgenossen als erstes aufgefallen. In einer der ersten Rezensionen des Bandes, „Of Mice and Memory“ von Joshua Brown, erklärt dieser Spiegelmans Talent liege darin, uns zu zeigen, wie wir uns an ein Trauma erinnern. Es wird nicht in sauberen „Päckchen“ wahrgenommen, sondern eher in Erinnerungsblitzen, die uns überraschen. Brown glaubt, dass Spiegelman in der Lage war, uns zu zeigen, wie sein Vater sich klar an bestimmte Ereignisse erinnern konnte, aber nur eine fragmentierte Erinnerung an andere hatte. Brown ist auch der Meinung, dass Spiegelmans Entscheidung, Juden als Mäuse zu porträtieren, mit minimalistisch gezeichneten Gesichtern, die auf unergründliche Weise berührend sind, zeige, wie unsere Gehirne fest verdrahtet sein könnten, um auf solche Reize zu reagieren. Er ist der Meinung, dass Vladeks gebrochenes Englisch zu dieser Berührung beiträgt, indem es Vladeks Verletzlichkeit als gehetzter Jude, der zwar nun in Manhattan in Sicherheit ist, aber immer noch in seiner Vergangenheit gefangen ist, zum Ausdruck bringt. Brown bemerkt auch, wie akribisch Spiegelman in seinen Zeichnungen war, indem er einen sauberen, schwarzen, zurückhaltenden Stil verwendete, um jedes Bild seiner Geschichte darzustellen. Wenn er einen „tin shop“ zeichnen musste und nicht wusste, wie man das macht, suchte er jemanden auf, der in einem solchen Laden gearbeitet hatte, um es ihm zu erklären. Diese Liebe zum Detail verstärke seine eindringliche Erzählung.

In Ken Tuckers Essay „Cats, Mice and History: The Avant-Garde of the Comic Strip“ aus dem Jahr 1985 beschäftigt sich Tucker mit Spiegelmans Magazin „Raw Magazine“ (das Spiegelman mehrere Jahre editierte und in dem „Maus“ als Fortsetzungscomic erschien) und enthält Gespräche mit dem Künstler und seine eigene Meinung darüber, wie die Verwendung von Mäusen als Juden eine Parallele zu Hitlers Betrachtung aller Juden als Ungeziefer darstellt. Das Essay war damals sicher eine wertvolle Ressource für jene, die den Weg zu „Maus“ finden konnten, enthält aber aus heutiger sicht wenig Neues; Chute hat es hauptsächlich zur Dokumentation der ersten positiven Reaktionen in den Band gepackt.

Adam Gopnik spricht in seinem Essay „Comics and catastrophe: Art Spiegelman’s Maus and the history of the cartoon“ über seine Liebe zu Spiegelmans Darstellung seines Vaters Vladek als „pinched, meanspirited, and hilariously miserly old man„. Gopnik ist der Meinung, dass Spiegelmans Bereitschaft, seinen Vater als fehlerhaft zu zeigen, viel überzeugender sei als die beinahe schon heroischen Darstellungen von Überlebenden, die wir aus vielen Holocaust-Medien kennen. Spiegelman mache deutlich, dass sein Vater nicht immer der netteste Mensch war, ob vor dem Krieg, während des Krieges oder danach. Er ist beeindruckt von Spiegelmans überquellenden Sprechblasen, die ausdrucksstark und geradezu explosiv wirkten. Er ist beeindruckt von Spiegelmans Weigerung, in all dem einen Sinn zu suchen, und seinem Beharren darauf, dass wir es als das sehen, was es seiner Meinung nach war: ein bösartiger Angriff und endloses Leiden ohne jeglichen Grund. Weder Spiegelman noch sein Vater sprechen während des gesamten Textes von Gott, außer einmal, als Vladek eine besonders erschütternde Geschichte vorträgt und sie mit den sanften Worten beendet, dass dieses Mal „Gott nicht gekommen ist“.

Kurt Scheel zeigt sich in „Mauschwitz? Art Spiegelman’s „A Survivor’s Tale““ beeindruckt von Spiegelmans „kruden“ Zeichnungen, die sich durch eine meisterhafte Perspektive, Komposition und Hintergrund auszeichneten (die von Chute angesprochene Ambivalenz). Scheel findet Spiegelmans Darstellung seiner Frau Francoise überzeugend. Sie spielt im Verlauf der Geschichte eine friedensstiftende Rolle, aber auch jemand, der die psychologischen Verstrickungen Spiegelmans mit seinem Vater nicht wahrnimmt. Spiegelmans Frau Francoise sei selbst in eine chaotische Familie hineingeboren worden, aber ihre Familie war eine nichtjüdische Familie. Sie konvertierte zum Judentum. Francoise scheint die schwere Last der jüdischen Abstammung nicht in sich zu tragen, und Scheel bemerkt die feinen Unterschiede in Spiegelmans Zeichnungen von ihr. In einer Szene nimmt Francoise einen schwarzen Anhalter mit, und Vladek ist beschämt. Nachdem er ihn abgesetzt hat, schimpft Vladek mit Francoise über ihre Entscheidung, dies zu tun, und sie sagt ihm, dass sie solch rassistisches Gefasel nicht von einem Juden erwarten würde, der erlebt hat, was er erlebt hat. Vladek, der immer noch vor Wut kocht, antwortet: „It’s not even to compare. The shvartzers and the Jews.“ Das Faszinierende an „Maus“ ist, dass solche Widersprüche nicht aufgelöst werden und ständig nebeneinander her bestehen.

Die Kritikerin Dorit Abusch fügt in „The Holocaust in Comics?“ die offensichtliche Fragestellung an, ob der Holocaust in Comicform überhaupt erzählt werden kann und darf. Die Antwort ist ein klares „Ja“, was angesichts der überragenden Bedeutung des Werks und des Konsens‘ der Kritiker*innen kaum in Frage stehen dürfte, seinerzeit aber für einige Aufregung sorgte. Bedenkt man, welch andere, schlechtere Graphic Novel es über den Holocaust gibt (Yossel und Auschwitz fielen mir ein), verwundert diese Fragestellung nicht. Eine ähnliche Diskussion führt auch Thomas Doherty in „Art Spiegelman’s Maus: Graphic Art and the Holocaust„.

In „Of Maus and Memory: The structure of Art Spiegelman’s graphic novel“ beschäftigte sich Stephen E. Tabachnik bereits 1985 mit der Struktur des Graphic Novel, der damals noch ein völlig neues Genre war. Dank der Freiheit des Graphic Novel von der typischerweise kurzen Dauer, den flachen Themen, den standardisierten Panels, den eingeschränkten Techniken, den stereotypen Charakteren und den vereinfachten Handlungen und Haltungen des konventionellen Comics würden die Lesenden ein reicheres Gefühl für Zeit und Raum und eine tiefere Einbeziehung der Sinne als bei jedem anderen romanhaften oder sequenziellen Kunstmedium erreichen. Das sei ihm unbenommen. Wir geraten hier in das Problem, dass genau dieser Anspruch und diese Begeisterung für das Genre zu einer völligen Überqualifizierung geführt hat, wie ich sie bereits eingangs bejammerte.

Im zweiter Teil des Buchs, „Problems of Representation„, beschäftigen sich die Essays vor allem mit den Darstellungen von Gruppen, vor allem natürlich den Juden, aber auch der anderen Nationen sowie (soziokulturellen) Minderheiten wie Frauen und Schwarzen.

Fotos spielen innerhalb von „Maus“ eine große Rolle, etwa das Bild Richieus oder eine alte Fotografie von Ania. In „My travels with Maus“ arbeitet Marianne Hirsch diese Bezüge heraus und zeigt, welche Bedeutung Fotos für Holocaustüberlebende haben, gerade auch angesichts dessen, dass die allermeisten Fotos im Krieg verloren gingen. Wie der Einbruch eines echten Fotos in das Narrativ wirkt, ist eine weitere interessante Untersuchung.

Die Rolle von Gender wird in „Cartoons of Self: Portrait of the artist as a young murderer – Art Spiegelman’s Maus“ von Nancy K. Miller thematisiert. Da Vladek die Aufzeichnung Anias verbrannt hat, ist seine Geschichte der einzig existierende Zugang zu der Lebensgeschichte der beiden, und er ist ein unzuverlässiger Erzähler. Die weibliche Perspektive ist konsequent ausgeblendet, weil weder Art noch Vladek Zugang zu ihr haben. Das ist für Holocaust-Berichte typisch; diese sind überwiegend männlich dominiert, weil die Erinnerungen von Frauen oftmals nicht genug wertgeschätzt wurden – wie so oft werden sie aus der Geschichte herausgeschrieben.

Der Holocaust als spezifisch jüdische Geschichte wird in „We were talking Jewish: Art Spiegelman’s Maus as Holocaust Production“ von Michael Rothberg kontextualisiert. Zahlreiche Elemente jüdischer Sprache und Kultur sind im Graphic Novel miteinander verwoben, Selbstkonzeptionen und Konflikte der Community im Umgang mit der eigenen Vergangenheit werden exemplarisch verhandelt. Besonders gut kann man das an dem Kontrast zwischen Vladek und Mala oder den Vladek und seinen jüdischen Nachbarn untersuchen, die allesamt sehr unterschiedlich aus dem Holocaust herausgekommen sind und andere Deutungszugänge aufweisen.

Die sprachliche Dimension des Graphic Novel untersucht Alan Rosen in „The langauge of survival: English as a metaphor„. Die Geschichte handelt überwiegend von polnischen Charakteren, aber alle Texte sind in Englisch gehalten. Die englische Sprache dient zugleich als Metapher: Vladek spricht Englisch, weil er den Traum von einem anderen Leben in den USA hatte. Beständig hilft ihm die Beherrschung der Sprache, weil diese von den Menschen um ihn herum mit allerlei Bedeutung aufgeladen wird. Sie ist, vielmehr als Deutsch, die Sprache der Elite, die ihm zu überleben hilft.

Aber das Englische wird von Spiegelman auch eingesetzt, um andere Unterschiede aufzuzeigen. Die Sprache seines Vaters beschreibt der Autor stets als kondensierte Version dessen, wie er wirklich spricht, aber die Tonbänder zeigen, dass er in Wahrheit flüssiger redete. Das gebrochene Englisch Vladeks in der Vorlage wird so zu einem eigenen Stil, der Vladek von den anderen Charakteren absetzt – auch und gerade vom Immigranten der zweiten Generation, Art.

In seinem Essay „Holocaust Laughter?“ spricht Terrence des Pres über Humor in Maus. Er sieht die düstere Atmosphäre des Graphic Novel immer wieder von schwarzhumorigen Einlagen unterbrochen, etwa wenn Art in einer Passage über die Gaskammern lästige Fliegen mit Insektenspray beseitigt, und sieht in diesen Einsprengseln essenzielle Bestandteile für die Funktion des Graphic Novel. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich da mitzugehen bereit bin, denn wirklich humorig empfand ich diese Episoden nicht.

Komplett intertextuell wird es mit „Of Mice and Memesis: Reading Spiegelman with Adorno“ von Andreas Huyssen. Diesen Essay habe ich weitgehend übersprungen. Weder kenne ich mich Adorno aus, noch finde ich die Bezüge sonderlich interessant.

Der dritte Teil des Aufsatzbandes fasst unter dem Schlagwort „Legacy“ die Nachwirkungen des Graphic Novel zusammen.

In „The Shadow of Past Time: History of Graphic Representation in Maus“ spricht Hillary Chute über die verschiedenen Ansätze Spiegelmans, Geschichte visuell aufzubereiten. Sie bezieht sich viel auf ein späteres Werk von ihm über 9/11, „In the Shadow of No Towers“, in dem er die Leerstelle, die der Anschlag hinterließ, deutlich macht. Solche Leerstellen durchziehen auch die Geschichte des Holocaust. Insgesamt war mir als jemand, der von Spiegelmans Oevre nur „Maus“ kennt, der Aufsatz aber nicht sonderlich ergiebig.

Tief in die Meta-Geschichte des Graphic Novel dringt Ruth Franklin in „Art Spiegelman’s genre-defying Holocaust work, revisited“ ein, indem sie aus einem 2011 neu erschienen, langen Interview mit Spiegelman einerseits und der Quellenfundgrube „MetaMouse“, einer DVD mit fast allen Quellen, tonnenweise Entwürfen und Verweismaterial herausarbeitet, wie der dreizehnjährige Arbeitsprozess für Spiegelman verief. Sein obsessiver Zugang, die schmerzhaft detailgetreue Recherche und vieles mehr werden hier kontextualisiert, um bei dem Fazit anzugelangen, dass niemand anderes als er dieses Werk verfassen konnte.

Weniger interessant fand ich auch das „Q&A with Art Spiegelman, creator of Maus“ von David Samuels. Einmal abgesehen davon, dass es im Hörbuch einfach anstrengend war, weil nur die Initialien benutz wurden (AS und DS klingen jetzt auch nicht so unterschiedlich) und nur von einer Person vorgelesen wurden, waren die Themen für mich zu speziell, weil auch hier gilt, dass ich kein Spiegelman- oder Undergroundcomics-Experte bin.

Hans Kruschwitz‘ „Everything depends on images: reflections on language and image in Spiegelman’s Maus“ ist demgegenüber schon interessanter, wenngleich es einige Dopplungen mit den Betrachtungen Alan Rosens Essay im zweiten Teil hatte. Ein ähnliches Problem mit Dopplungen gibt es in Alisa Solomons „The Haus of Maus: Art Spiegelman’s twitchy irreverence„. Die Autorin fasst noch einmal die Karriere Spiegelmans zusammen, analysiert Teile von MetaMaus, aber ohne allzuviel Neues hinzuzufügen.

Insgesamt waren zwar einige der Essays durchaus interessant. Der Band hätte aber von einem wesentlich entschlosseneren Lektorat profitiert, das die Originaltexte besser zusammenfasst und kürzt. Die Autor*innen wiederholen sich permanent. Ich hätte irgendwann schier in die Tastatur gebissen, als mir zum sechsten Mal erklärt wurde, dass Spiegelman in „Maus“ den Charakteren Tieridentitäten gegeben hat. Ach was! Auffällig war hier auch, wie sehr sich die Formulierungen glichen. Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne, und in so einem Band fällt das besonders auf. Auch in anderen Erkenntnissen findet sich das immer wieder, etwa in der Verwendung von Schweinsmasken zur Tarnung, auf die in sicherlich drei Essays identitisch hingewiesen wird, oder die Familiengeschichte Spiegelmans, aus der die immer gleichen Details zitiert werden. Ich fand das extrem nervig.

Letztlich aber ist natürlich die intensive Beschäftigung mit „Maus“ trotz allem immer der Mühe wert. Der Graphic Novel bleibt stets bei mir, und ich werde bei meiner nächsten Lektüre sicherlich auf manche hier diskutierten Aspekte besonders achten.

Paul Jankowski - All against all. The Long Winter of 1933 and the Origins of the Second World War (Hörbuch) (Das Wanken der Welt - Wie 1933 der Weltfrieden verspielt wurde)

Angesichts des Kriegs in der Ukraine und der steigenden internationalen Spannungen in den frühen 2020er Jahren generell ist die Frage nach der Vermeidung von Kriegen angesichts der Herausforderung autokratischer oder diktatorischer Systeme aktuell wie lange nicht mehr. Zwischen Rufen von "Nie wieder Appeasement!" und "Verhandlungen statt Waffen" wird die Diskussion allzugerne auf die Vorgänge des Jahres 1938 verengt, die kaum in Betracht zieht, welche Chancen es vielleicht vorher bereits gegeben hätte. Paul Jankowski jedenfalls geht einige Jahre in der Geschichte zurück und betrachtet den Winter 1932/33, in dem in seinen Augen der Weltfrieden tatsächlich verspielt wurde. Dazu entführt er die Lesenden nach Genf, wo 1932 die große internationale Abrüstungskonferenz tagte - das größte Treffen hochrangiger Diplomanten und Staatschefs seit den Verhandlungen des Versailler Vertrags.

Bevor Jankowski sein großes Narrativ entfaltet, beschäftigt er sich in einem Vorwort noch ausführlich mit der Frage des Realismus - im Sinne der politischen Theorie. Diese postuliert, dass Staaten in ihren Verhältnissen untereinander, unabhängig von ihrer vorherrschenden Ideologie, Staatsform oder regierenden Person, in eine Art anarchischen Hobbes'schen "Alle gegen Alle" (daher der Titel des Buchs) verfallen, in dem sie andere Staaten fürchten und nach möglichst großer Sicherheit für sich selbst trachten. Jankowski steht dieser Idee eher kritisch gegenüber (wobei er es sich natürlich recht einfach macht, indem er gegen eine recht holzschnittartige Version des Realismus argumentiert, die Politikwissenschaftler*innen, die diese tatsächlich vertreten, vermutlich die Haare zu Berge stehen lässt). Er argumentiert, dass die spezifischen ideologischen Fanatismen eine gewaltige Rolle spielten und es problemlos hätte andere Entwicklungen geben können, die eine mulilaterale, durch Abkommen, gemeinsame Institutionen und Verträge gekennzeichnete Weltordnung wie unsere heutige produziert hätten.

Das führt unweigerlich zu der Frage, inwieweit 1932/33 ein Referenzpunkt für unsere Gegenwart ist. Jankowski beantwortet die Frage mit einem klaren "nicht besonders"; er erachtet die Welt um 1900 für wesentlich relevanter. Den Grund dafür sieht er nicht so sehr in der Unsicherheit per se, die auch unsere Gegenwart plagt, sondern im aktuellen Fehlen eines ideologischen Grundkonflikts wie dem zwischen Faschismus, Kommunismus und Liberalismus in den 1920er und 1930er Jahren und der, wie er es nennt, apolaren Weltordnung. Anstatt wie vor 1900 eine multipolare Welt zu haben, wie im Kalten Krieg eine bipolare oder wie in den 1990er Jahren eine unipolare zeichnete sich die von 1932/33 dadurch aus, stets wechselnde, extrem fluide Pole zu haben, mit manchen Ländern, die versuchten welche zu werden und anderen, die diese Funktion bewusst und entschieden ablehnten.

Der Möglichkeitsrahmen der Geschichte ist ihm dabei ungemein wichtig. Es gibt keinen Automatismus in die Ereignisse der späteren 1930er Jahre, auch nicht aus der jeweiligen Ideologie. Der amerikanische Exzeptionalismus etwa, so erklärt Jankowski, konnte genauso zur Rechtfertigung und ideologischen Überhöhung des Isolationismus wie zu dem des Interventionismus dienen und tat ja auch beides zu verschiedenen Punkten des 20. Jahrhunderts.

Aber nun genug der Vorrede, das eigentliche Narrativ beginnt in Kapitel 1, "Locust Years". Die "gefressene Zeit" betrifft in einem größeren, allgemeineren Rahmen die gesamte Nachkriegsära, in der sich die Wirtschaften der Welt nie vollständig von den Kriegswirren erholten und in denen sie stets unter ihren Möglichkeiten blieben, stets verbunden mit Kriegskrediten, Reparationen und der Notwendigkeit, die Schäden der Kriegszeit zu beheben und die Folgewirkungen zu verwalten. Die eigentliche, beinahe schon biblische Heuschreckenplage beginnt aber 1929 mit der Weltwirtschaftskrise, die 1931 mit zahlreichen Bankencrashs und einer deflationären Spirale ihren Höhepunkt erreicht.

Jankowski beschreibt die Weltwirtschaftskrise vor allem als psychologisches Ereignis; in den Streit um ihre Ursachen und die genauen ökonomischen Abläufe mischt er sich nicht sonderlich ein. Stattdessen ist für ihn relevant, wie die Betroffenen in einer Ära ohne wirksame Sozialstaaten entwurzelt werden, wie jede Arbeit nicht mehr der eigenen Identitätsbildung dient, sondern nur noch dem eigenen Überleben, und wie eine fatalistische Hoffnungslosigkeit sich der Menschen bemächtigt. Für mich erweckte Jankowskis Narrativ den Eindruck eines Zeitverlusts, eines Verlusts jeglicher Zukunft: die Menschen lebten nur noch in der Gegenwart, ohne den Luxus, Zukunftspläne zu machen.

Das, wenig überraschend, war für die Stabilität liberaler Regime nicht sonderlich gut. Stattdessen gab es Gruppierungen von Menschen, die wenig zu tun und noch weniger zu verlieren hatten. Gleichzeitig zeigt Janowski bereits hier die scharfe ideologische Spaltung jener Zeit auf: die Krise ist eine Krise des Kapitalismus und des Liberalismus, und sowohl Faschismus als auch Kommunismus bieten radikale Heilsversprechen in scharfer Abgrenzung, die zwar überwiegend keine Mehrheiten finden, aber mit immer mehr gewaltbereiten Anhängern willens sind, diese durchzusetzen.

Die Theorie, diese Aggression unterfüttert, ist die eines manichäischen Weltbilds der Weltwirtschaft, in der es industriell und agrikulturell produzierende Staaten geben muss und in denen ein Wachstum der einen Seite notwendig eine Schmälerung der anderen bedeutet. Ein vormals agrarischer Staat, der sich industrialisiert, wird abhängig von Lieferungen agrarischer Staaten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit mächtiger Industriestaaten, eine Peripherie agrarischer Satellitenstaaten zu unterhalten, die die notwendige Nahrung liefern, und diese von einer Weiterentwicklung abzuhalten. Es ist das Weltbild brutaler Eroberer und Diktatoren, das mit den liberalen Gedanken von Wachstum und Effizienz für alle wenig anfangen kann - verständlich in den Heuschreckenjahren, in denen das wie blanker Hohn erscheint, aber deswegen nicht weniger irregeleitet.

Die Szene derart gesetzt beleuchtet Jankowski in Kapitel 2, "Rom and Tokyo", die Rolle Italiens und Japans.

Japan hatte mit seiner Annexion Mandschukos 1931 als erstes die Brandfackel an die liberale Weltordnung gelegt (siehe dazu mein Artikel hier). Da aber China kein gleichwertig akzeptiertes Mitglied der "Weltgemeinschaft" war - einerseits wegen seiner inneren Zerrissenheit ohne klare Regierung, andererseits aus rassistischen Motiven - sahen die Großmächte darüber hinweg. Es gab wenig Interesse, Geld oder gar Blut für den Erhalt der territorialen Integrität der Mandschurei zu investieren, weder in den USA noch in Europa.

Doch die Lage wurde mit dem japanischen Angriff auf Shanghai, der zeitlich genau mit dem Beginn der Abrüstungskonferenz in Genf zusammenfiel und diese von Beginn an überschattete, wesentlich kompliziert. Hier war eine kosmopolitisch, seit Jahrzehnten auch europäisch geprägte Stadt, in der zahlreiche europäische Eliten ein- und ausgingen und nun auch von den Kämpfen (sofern man den Beschuss der Stadt durch japanische Kriegsschiffe und die Stürmung der Stadt als solche bezeichnen will) betroffen waren.

Japan war in den 1920er Jahren ein Musterbild des liberalen Staats gewesen. Seine Währung war ohne Fehl und Tadel an den Goldstandard angelegt, sein Parlament von den wirtschaftlichen Eliten dominiert, seine Einhaltung internationaler Verträge wie des Flottenabkommens von 1922 ohne jeglichen Makel. Doch angesichts der Weltwirtschaftkrise, die die Absatzmärkte gegenüber japanischen Produkten verschloss und damit wirtschaftliche Deprivationen in das Land brachten, auf die die Regierung keine Antwort hatte, ließen die Stimmen der japanischen Politik, die für territoriale Expansion und eine Art "japanischen Völkerbund" in Asien drängten (ein Wetterleuchten der "Großasiatischen Wohlstandssphäre" späterer Jahre) erstarken.

Dieses Erstarken nahm gleichzeitig die Form politischer Gewalt an, mit rechten Attentaten auf liberale Politiker, die bezeichnenderweise in der breiten Öffentlichkeit zwar in allgemeiner Form verurteilt wurden - ohne aber je auf die zugrundeliegende politischen Motive einzugehen oder die dahinterstehenden Forderungen und Theorien zu thematisieren. Bei der Lektüre kann man sich eines unguten Gefühls in der Magengrube angesichts unseres heutigen Umgangs mit rechter Gewalt nicht ganz erwehren. Die eigentliche Machtübernahme des Militärs aber steht noch aus; Japan befindet sich noch auf Messers Schneide.

Italien, bereits seit einem Jahrzehnt ein faschistischer Staat und mitten in den Jubiläumsfeiern für sein erstes Jahrzehnt, beschreibt Jankowski als grundsätzlich instabil. Seine Wirtschaft steht in keinem Verhältnis zu seinen Aspirationen. Seit zehn Jahren ist die Rhetorik auf den Erwerb eines großen Kolonialreichs gerichtet, ohne dass Italien die Möglichkeiten hätte, dieses zu erwerben. Zwar hatte man Eriträa als Kolonie gewonnen, aber bereits die Abpressung Korfus von Griechenland und der Erwerb Libyens dehnte die vorhandenen Ressourcen über den Zerreißpunkt, rief andere europäische Mächte auf die Bühne.

Mussolini machte aus der Not eine Tugend, inszenierte Italien trotz aller rhetorischen Aggression, deren "Imperium! Imperium!"-Rufe liberale Beobachtende natürlich als reine Rhetorik für die tumben Massen identifizierten, die sicherlich auf höherer Ebene einer rationalen Politik Platz machen musste - aber wenn Jankowski ein Leimotiv betont, dann, dass Ideologie, Fanatismus und fehlgeleitete Ideen gerade auf dieser Ebene furchtbare Konsequenzen haben.

Generell ist auffällig, wie das flexible Verständnis gegenüber der Verpflichtung internationaler Verträge des Duce dem Hitlers später gleicht. Das faschistische Italien benahm sich als mustergültiger Nationalstaat unter Nationalstaaten, schloss Abkommen und Kompromisse und erlaubte es den liberalen Staaten stets, seine Aggressionen als einmalige Ausrutscher abzutun - genauso wie bei Japan. Mussolini betätigte sich als Friedensbringer und versuchte, auf Ebene des Völkerbunds zu vermitteln. Obwohl Italien stets ein Auge auf Deutschland als potenziellem Verbündeten hatte, betätigte es sich als Garantiemacht der Grenzen von Versailles - bis es Mussolini in den Kram passte, das nicht mehr zu tun.

Deutschland indessen, das Subjekt des 3. Kapitels "Berlin", sah sich in einer noch viel prononcierteren, aber vergleichbaren Abwärtsspirale wie Japan. Jankowski beschreibt die sattsam bekannte Geschichte des Endes der Demokratie nach dem Bruch der Großen Koalition 1930, den Präsidialregimen Brünings, dann Papens, und des Aufstiegs der Nationalsozialisten. Er legt viel Gewicht darauf, wie unwahrscheinlich Hitler als zukünftiger Diktator schien. Fast alle Beobachtende der damaligen Zeit betrachteten ihn als durchschnittlichen, wenig interessanten, ins Hysterische neigenden Kleinbürger, der niemals das Zeug haben könnte, ein Land wie Deutschland zu regieren, ein Emporkömmling und Schwätzer.

Ähnliches galt für die NSDAP selbst, ein Haufen gewaltbereiter Schläger, die sich Straßenschlachten mit den Kommunisten lieferten, deren eigene Gewaltbereitschaft und Ablehnung der Demokratie der der Nazis in nichts nachstand (wenngleich sich Jankowski wenig mit den Kommunisten aufhält; er schätzt ihre Bedeutung - ich denke korrekt - als abgesehen von ihrer Blockade insgesamt als gering ein und konzentriert sich zu Recht auf die Vorgänge auf der Rechten).

Aus der Abfolge von Wahlen in Weimar konstruiert Jankowski ein Bild der demokratischen Ermüdung. Das Land befindet sich in einer tiefen Verfassungskrise, und niemand glaubt, dass die Wahlen von November 1932 - die den narrativen Rahmen des Kapitels bilden - irgendetwas ändern werden. Tatsächlich tun sie das auch nicht. Jankowski verwehrt sich gegen die häufige Erklärung, nach der die Wahlverluste der NSDAP den Anfang vom Ende der Partei bedeutet hätten. Sie war immer noch stärkste Partei, ihre Gegner hatten eher noch mehr verloren. Ich halte diese Erklärung für unvollständig, aber die Analyse dieser Vorgänge bildet auch nicht den Fokus des Buchs, weswegen ich den Punkt nicht weiter vertiefen will.

Stattdessen beschäftigt sich Jankowski ausführlich mit den Wahlkämpfen und spezifisch der NS-Ideologie und -Rhetorik selbst, in denen er ein beeindruckendes Fehlen jeder Außenpolitik ausmacht. Die vermeintliche Harmlosigkeit Hitlers sieht er in dem Resultat der bewussten Strategie des späteren Diktators, die eigene Politik möglichst vage zu halten, die "Niederlage" 1932 als Ergebnis einer Stärkung der sozialistischen Rhetorik zulasten typischer rechtsextremer Identitätspolitik. Ungeachtet des Namens der Partei und den nominallen Verankerungen von Kapitalismuskritik im Parteiprogramm von 1924 und gelegentlich der Rhetorik war das kein besonders wirksamer Magnet für Wählende; diese kamen für das Ressentiment über Versailles, den Hass auf Linke und Juden, die Bereitschaft zu einer radikalen Durchschlagung des Gordischen Knotens.

Über Außenpolitik habe man nichts erfahren, von keiner Partei. Deswegen sei es für Zeitgenoss*innen auch so schwer gewesen, Hitlers spätere Politik vorherzusenen: rhetorisch war er fast nicht von anderen Rechten zu unterscheiden; Substanz gab es überhaupt nicht (noch weniger als beim Rest), weswegen alle Wählenden die NSDAP als ihre persönliche Projektionsfläche gebrauchen konnten. Man sah in ihr die eigenen Positionen und ignorierte alles, was nicht dazu passte. Dass kein Nazis je auf Reichsebene Verantwortung getragen hatte, erschwerte diese Einschätzung zusätzlich.

Deutschland Ende 1932 bewegte sich daher im Stand einer ständigen Verfassungskrise, im Unklaren darüber, was man mit seiner größten aber so manifest zur politischen Verantwortung ungeeigneten Partei tun sollte, von Politikern regiert, die die Ablehnung der breiten Masse als Ausweis ihrer Eignung betrachteten. Das Reich verlangte nach Aufrüstung und Akzeptanz auf internationaler Ebene, nach einer Zerschlagung der "Fesseln von Versailles" (die real kaum mehr vorhanden waren) und befasste sich vor allem mit sich selbst und einer ungewissen Zukunft.

Überhaupt nicht ungewiss dagegen war die Zukunft für den Diktator der Sowjetunion, Josef Stalin. Im 4. Kapitel "Moscow" beleuchtet Jankowski die Lage der UdSSR. Diese feierte das fünfzehnjährige Jubiläum der Revolution mit gewaltigen Paraden, die von den ausländischen Diplomaten und Journalisten mit einem gewissen Befremden beobachtet wurden: die Sowjetunion war ein fundamental unbekannter Staat, der sich jeder Einordnung zu entziehen schien. Im einen Moment aggressiv und die Weltrevolution proklamierend, im anderen Verträge schließend und eine normale Außenpolitik betreibend.

Ihre Rhetorik war internationalistisch und pazifistisch, ihre Handlungen nationalistisch und beliziös. Die Sowjetunion steckte in ihrem Fünf-Jahres-Plan, der der Aufrüstung diente. Stolz proklamierte man Produktionszahlen von Panzern, ließ Geschütze auf dem Roten Platz auffahren und trainierte die Arbeiter in den Fabriken in Drills für den Ernstfall. Scharfsichtige ausländische Beobachter erkannten, dass viele Fabriken in der Lage waren, auf Zuruf auf Kriegsproduktion umzuschalten, und dass selbst ausländische Lizenzmodelle "made in the USSR" waren. Das Land hatte gewaltige Mengen militärischen Materials aufgebaut und pflegte einen Kult der Offensive.

Die Gegner wechselten mit den propagandistischen Moden. Mal war es der Dauerbrenner einer polnischen Offensive in einer grotesken Wiederholung des Kriegs 1920-1922, mal war es eine Intervention der kapitalistischen Mächte in einem nicht minder absurden Reenactment der Intervention 1917-1920, mal Frankreich, das die Rolle des zentralen Bösewichts spielte. Ein wiederbewaffnetes Deutschland schien genaus gefährlich wie es 1932 Japan war, gegen das man mit großem propagandistischen Applomb Truppen mobilisierte und an die Grenze zur Mandschurei entsandte.

Diese ostentative Verschwendung von Ressourcen geschah zu einer Zeit, in der eine gewaltige Hungersnot die Ukraine heimsuchte und die Menschen im ganzen Land Not litten. Daran schuld waren natürlich ausländische Agitatoren und Sabotage, eine völlig abwegige, aber mit ihrer eigenen Logik und tödlichen Konsequenz durchgezogene Linie. Die miese Lage ließ real existierende Opposition und Putschpläne aufkommen, die Stalin ironischerweise bei weitem nicht so blutig niederschlug wie die völlig eingebildete Opposition und Putschpläne 1938 in der "Großen Säuberung". Die Sowjetunion sah sich von Gegnern umzingelt, bedroht und gleichzeitig bereit, die Revolution in die Welt zu tragen.

All das nahm man im weit entfernten Amerika praktisch nicht zur Kenntnis. Das 5. Kapitel, "New York", spielt während der Wahlen im November 1932 - eine auffällige Parallele zum dritten, in Deutschland angesiedelten Kapitel. Die Ähnlichkeiten enden nicht beim Datum. Der Wettstreit zwischen Herbert Hoover und Franklin D. Roosevelt beschäftigte sich praktisch nicht mit Außenpolitik. Stattdessen spielte das Ausland allenfalls als Schuldiger des Crashs von 1929 eine Rolle. Die amerikanischen Wählenden wollten nichts weniger als einen Schuldenerlass oder eine Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten. Weder Hoover noch Roosevelt versprachen etwas anderes.

Roosevelt gewann die Wahl mit den Stimmen der isolationistischen Teile des Landes, vor allem des Westens, die nach Schutzzöllen und einer klaren Absage zu Interventionen und Einmischung verlangten. Sein Programm, der New Deal, war praktisch ohne Substanz, ein Versprechen der Tat (wo Hoover nur eine Verwaltung des Status Quo bot), eine Tat, die in sich unklar war und unklar sein sollte. Interventionisten konnten hineindenken, dass Roosevelt schon aktiv würde, sobald er die Wahl gewonnen hätte; Isolationisten, dass er einer der ihren war und sie verteidigen würde.

So oder so zwangen die politischen Umstände den neu gewählten Präsidenten dazu, den Isolationisten zu folgen. Die Vorstellung, dass die USA die Mandschurei gegen japanische Aggression verteidigen würden, war absurd. Die Lage des Landes zeigt sich am deutlichsten darin, dass es zwar den Kellogg-Briand-Pakt ratifiziert hatte, der kriegerische Aggression verbot, aber kein Statut zur Durchsetzung dieses Verbots enthielt, während es den Völkerbundsvertrag, der ein solches enthielt, nicht ratitifiziert hatte. Dies führte dazu, dass Amerika sich "überall einmischte, aber nirgendwo handelte". Die einzige Ausnahme war Lateinamerika, das es weiterhin als seinen persönlichen Hinterhof betrachtete. Hier leitete Roosevelt mit der "Politik der guten Nachbarschaft" einen sanften Kurswechsel ein, der aber in seinem Verzicht auf militärische Interventionen auch hauptsächlich den ohnehin prävalenten isolationistischen Neigungen der Öffentlichkeit entsprach.

Unzufriedenheit mit dem Status Quo herrschte auch bei den eigentlichen Siegern von 1918. Das 6. Kapitel, "London and Paris", öffnet mit den Feierlichkeiten zum Waffenstillstand am 11.11., die in Großbritannien wie Frankreich sehr zivile und nüchterne, geradezu melancholische Züge annahmen. Der Erste Weltkrieg war in seinem Ausgang auch für diese Länder kein Grund zur Zufriedenheit. Vielmehr wünschte man nichts mehr, als eine weitere solche Kalamität zu vermeiden - wenngleich die jeweilige Analysen und Handlungswünsche komplett andere waren.

In Frankreich war ein über 50jähriger Prozess abgeschlossen, in dem die Linke und Rechte ihre Haltung zu Krieg und Deutschland komplett getauscht hatten. War es 1871 noch die Konservative Partei, die davor warnte, dass eine Stimme für Gambetta Krieg bedeute und für Frieden und zivilen Wiederaufbau agitierte, war es 1932 die französische Rechte, die gegen jedes weitere Zugeständnis an Deutschland wetterte und für harten militärischen Druck plädierte. Tod und Begräbnis von Aristide Briand im selben Jahr markierten diesbezüglich das Ende einer Ära. Seine pazifistische Grundhaltung und der Versuch, mit Deutschland ein Auskommen zu finden und es in ein internationales System einzubinden, wurde von der Rechten als gescheitert zurückgewiesen - eine Ansicht, die spätestens mit dem Exit der deutschen Delegation von der Rüstungskontrollkonferenz in Genf bestätigt zu werden schien.

Nichts beschäftigte Frankreich so sehr wie der Versuch, Sicherheitsgarantien zu erlangen. Doch Russland war eine feindliche Macht, Großbritannien weigerte sich, die Entente Cordiale von 1904 wiederaufzulegen, geschweige denn ein festeres Bündnis, und die USA hatten hinreichend deutlich gemacht, dass sie die ganze Intervention von 1917-1918 als riesigen Fehler betrachteten und den Franzosen nicht helfen würden, im Gegenteil. Die Kriegskredite mussten bezahlt werden, auch wenn Deutschlands Reparationen fielen. Die Bündnisse, die Frankreich mit Polen und der Tschechoslowakei geschlossen hatte, waren von mehr als zweifelhaftem Wert - für beide Seiten.

Der Mangel an waffenfähigen Männern - um dem Ganzen psychologisch die Krone aufzusetzen, würden aktuell die nicht geborenen Kinder des Ersten Weltkriegs dienen - und an Material sowie der Mangel an verlässlichen Partnern trug zu einer Festungsmentalität der französischen Rechten bei, die ihren betongewordenen Ausdruck im Bau der Maginotlinie fand. Auch die Linke war damit zufrieden, zeigte die Maginotlinie doch aller Welt deutlich den rein defensiven Ausdruck französischer Politik. Die ganze Strategie erlaubte eine Offensive nur nach einer langsamen, gründlichen Mobilisierung. Auf eine solche richtete sich die französische Strategie im Umgang mit dem Albtraum einer neuerlichen deutschen Bewaffnung.

In Großbritannien war der Pazifismus stärker ausgeprägt als in irgendeiner anderen europäischen Großmacht. Man war sich in den 1920er Jahren sicher geworden, dass der größte Fehler das hineinziehen Lassen in die Politik der europäischen Festlandsmächte gewesen war. Die Rufe Deutschlands nach Gleichberechtigung hatten deswegen in Großbritannien ein offenes Ohr gefunden; Frankreich hatte als der größte Blockierer eines friedlichen Europa gegolten. Doch angesichts des deutschen Verhaltens in Genf wurde immer mehr deutlich, dass Deutschland nicht der britischen Politik folgte - wie sie durch den Briand-Kellog-Pakt und viele ähnliche Abkommen in den 1920er Jahren erforderlich war - und ein Abrüsten der Welt auf sein Niveau verfolgte, sondern stattdessen Aufrüstung, full stop, um größer und besser zu werden als seine Nachbarn. Langsam und voller Unwohlsein kam diese Erkenntnis in London an.

Die britische Politik aber blieb zerrissen zwischen zahlreichen Polen. Das Empire, dessen Erhalt die oberste Staatsräson darstellte, knirschte an allen Ecken und Enden und erforderte einen permanenten, delikaten Ausgleichsprozess. Die Weltwirtschaftskrise, in der ausgerechnet Großbritannien mit seinem Abschied vom Goldstandard 1931 und der Einführung aggressiver Schutzzölle 1932 die liberale Weltordnung der Ideologie des Freien Handels zu Grabe trug, erschwerte dies zusätzlich und erforderte eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den USA, denn das Land konnte nicht riskieren, dass Dominions wie Kanada sich jemals zwischen dem Mutterland und dem großen Nachbarn im Süden entscheiden würden müssen. Zu klar war, wie diese Entscheidung ausfallen musste. Diese Erwägungen schränkten den Spielraum der Briten massiv ein, fraßen politisches Kapital und ließen wenig Raum für Geschehnisse in Osteuropa.

Das 7. Kapitel, "Warsaw and Budapest", befasst sich mit eben jenen. Angesichts von Feierlichkeiten der Polen zur Neugründung ihres Staats und zum Sieg über die Rote Armee 1922 (die Anzahl der Jubiläen, die 1932 gefeiert wurden, ist beeindruckend) entwirft Jankowski ein Bild der Lage des bedrängten Staats im Verhältnis zu seinem deutschen Nachbarn. Polnischer Nationalismus und unbedingter Überlebenswille angesichts mehrerer Teilungen traf auf deutschen Nationalismus. Die deutsche Innenpolitik beeinflusste hier massiv die Außenpolitik, weil die Rechtsradikalen den Polnischen Korridor und die Situation in Schlesien nutzten, um Panik zu schüren und mittels dieser Panik ihre Machtbasis zu erhalten: nirgendwo war noch so eine parasitäre Adelsklasse an der Macht wie in Ostpreußen, und sie tat alles, um im Verbund mit ihren Verbündeten diese Situation zu erhalten.

Polen selbst sah sich nicht zu Unrecht akut bedroht. Es existierte erst seit 1919 wieder als eigenständiger Staat und galt vielen Reaktionären in Deutschland wie Sowjetunion als unnatürliches, zu zerstörendes Gebilde. Seine Allianz mit Frankreich half den französischen Sicherheitsinteressen, aber wegen der defensiven französischen Taktik einerseits und dem Szenario, dass Deutschland das Rheinland im Konfliktfall unbesetzt ließe und nur einen Krieg im Osten führte, nicht den polnischen. Pilsudski, dem polnischen Schattendiktator, blieb daher wenig Alternative als seine Hauptgegner, Deutschland und die Sowjetunion, gegeneinander auszuspielen.

Die Ungarn demgegenüber waren die wohl vom Krieg am meisten gezeichnete Nation. Zwar hatte Österreich mehr Gebietsverlust erlitten, aber die österreichische Republik hatte sich mit ihrem neuen Status abgefunden. Anders Ungarn. Das Land war auf Revision eingeschworen, und die 1932 neu vereidigte Regierung wollte nichts mehr, als die durch die Präzedenzfälle mit Deutschland brüchig gewordene Nachkriegsordnung zu beseitigen. Dazu brauchte sie Verbündete. Polen und die Sowjetunion fielen aus, Frankreich ebenso. Budapest wandte den Blick daher nach Rom.

Auch seine Nachbarn waren häufig genug keine Freunde des Status Quo. Bulgarien hatte wie Ungarn Land an Rumänien verloren und wollte es zurück, und keiner seiner Nachbarn mochte das neue Königreich Jugoslawien, das diverse Konfliktlinien mit Italien besaß - ob über die Hafenstadt Fiume oder über den Status von Albanien. Osteuropa war beherrscht von Ressentiments und Revisionismus.

Solcherart die Szene bereitet, geht Jankowski in den zweiten Teil seines Werks über.

Die Abrüstungskonferenz von Genf 1932 war, wie Kapitel 8, "Doors ajar", aufzeigt, eine Feier der Widersprüchlichkeiten. Stets die Meinung der Weltöffentlichkeit im Blick gerierten sich die Teilnehmermächte allesamt als Friedensengel, während ihre eigene Politik zuhause teilweise diametral entgegengesetzt oder doch wenigstens in einem gewissen Spannungsverhältnis stattfand. Der Völkerbund, jenes ungeliebte Kind des Versailler Vertrags, unter dessen Ägide die Konferenz stattfand, war niemandem stark genug, um Sicherheit zu garantieren, aber doch so relevant, als dass man ihn nicht ignorieren konnte. Es waren vor allem die kleinen Mächte, die ihn als Arena nutzten, um in der großen Politik mehr mitspielen zu können, als dies vor 1914 möglich gewesen war - sehr zum Ärger der Großmächte selbst, muss man anmerken. Länder wie Polen oder die Tschechoslowakei, aber auch Belgien und die Niederlande formulierten ihre eigenen Ansprüche auf der Konferenz, und sie mussten in einem Ausmaß ernster genommen werden, das vor dem Völkerbund noch undenkbar gewesen war.

Nichtsdestrotrotz wurden die großen Linien natürlich weiterhin von den Großmächten entschieden. Frankreich versuchte, so viele Länder wie möglich mit seinen eigenen Sicherheitsinteressen zu verwickeln (eine Politik, möchte man anmerken, die es bis heute mit leidlichem Erfolg in der EU durchzusetzen versucht), Großbritannien, genau solche Verwicklungen um jeden Preis zu vermeiden. Die Briten sollten, so die Meinung der Zeit, sich nicht zu "Janitscharen" der Polen machen lassen; kein britischer Soldat würde je für den Polnischen Korridor kämpfen, oder irgendeine andere Grenze der Versailler Ordnung in Osteuropa for that matter.

Nutznießer dieser Haltung war Deutschland. Die Weltöffentlichkeit sah es als Opfer: sollte die Konferenz scheitern, so wäre dies nicht seine Schuld, seine Forderung nach "Gleichberechtigung" in der Bewaffnung - längst ohnehin weitgehend durch die starke Abrüstung Großbritanniens und Frankreichs und die heimliche Aufrüstung der Reichswehr weitgehend erreicht - wurde als berechtigt angesehen. Jankowski hält den Blick stets auf die Konferenz gerichtet, aber ich finde es auffällig, wie viel Goodwill die Weimarer Republik aufgebaut hatte und wie sehr dieser Anfang der 1930er Jahre rapide die Versailler Ordnung zerlegte. Hitlers Außenpolitik lebte letztlich von diesem Goodwill der Republik.

Die USA indessen hatten die Spielräume, die ihnen die Flottenverträge von 1922 und 1930 gegeben hatten, nicht ausgenutzt. Es war Roosevelt, der direkt nach seiner Wahl 1933 mit einem frisch mit demokratischer Mehrheit ausgestatteten Kongress ein Flottenbauprogramm aushob - eine nicht unwesentliche Vorbedingung des entscheidenden Kriegseintritts 1941. Den USA allerdings war Europa nur peripherer Schauplatz; ihr Blick war auf den Pazifik gerichtet, wo die japanische Marine der wahrscheinlichste Gegner war.

Auf der anderen Seite der Gleichung fand sich die Sowjetunion. Die Zahlen, die sie nach Genf brachte, waren geradezu lächerlich: die Rüstungsausgaben waren für 1931 doppelt, für 1932 dreifach so hoch wie angegeben. Die Sowjetunion rüstete in einem Ausmaß, das das aller anderen Länder bei weitem überstieg, und mit visionärem Geist: die Doktrin der "Tiefen Schlacht", noch in ihrem Kindheitsstadium, sah mechanisierte Verbände und verbundene Waffen ein Jahrzehnt vor den "Blitzkriegen" der Wehrmacht vor und straft einmal mehr die Idee der unterentwickelten Roten Armee Lügen.

Kapitel 9, "Japan closes a door", wirft den Blick auf den Fernen Osten. Nach dem Mukden-Zwischenfall 1931 waren Japan und die Sowjetunion in einem beständigen Mix aus Diplomatie und Kriegsvorbereitung. Auffällig ist, welche Rolle die Innenpolitik in beiden Staaten hier spielte, genauso wie andere, scheinbar unverbundene außenpolitische Schauplätze.

Japan sah in dieser Zeit, wie bereits besprochen, einen Aufstieg nationalistischer Kräfte, die sich mit ausgeprägtem Militarismus und einer prononcierten Feindschaft gegenüber allem Linken profilierten. Dies zwang die japanischen Liberalen dazu, sich dem Wettbewerb des "Aus-Japanisierens" (wer ist der japanischste Japaner) anzuschließen, was etwa zu stark propagierten Verhaftungen ausländischer Marxisten führte, die man dann unter großem Trara abschob, und zu Stärkungen des Militärs. Diese Stärkung aber gab nicht nur dem Militär und seinen Verbündeten mehr Macht in die Hände, sondern schadete auch Japans Position bei den Verhandlungen in Genf. Die Konflikte mit der Sowjetunion entlang der Grenze zur Mongolei, Mandschurei und der Region um Wladiwostok schürten in Japan die Angst vor einem möglichen Krieg und waren Wasser auf den Mühlen der Nationalisten. 1932 aber waren die Japaner durch den Angriff auf Shanghai und den internationalen Fallout gebunden, was weitere Konflikte mit der UdSSR unattraktiv machte. Während die Rhetorik gegenüber den Kommunisten immer schärfer wurde, suchte Japan hinter den Kulissen den Ausgleich mit Moskau.

Den Sowjets kam das gerade Recht, denn ihre massive Aufrüstung - im Widerspruch zu ihrer internationalen Rhetorik - wurde innenpolitisch durch das Schüren von Kriegsfurcht im Fernen Osten mit legitimiert, und die Natur der sowjetischen Öffentlichkeitsarbeit bereitete aller Art von Gerüchten und Falschmeldungen (heute würde man von Fake News sprechen) den Boden, so sehr, dass viele sowjetische Bürger*innen sogar der Überzeugung waren, man sei bereits in einem Krieg mit Japan. Während die Eskalations-Rhetorik Moskau sehr gelegen kam, wollte sie mit allen Mitteln einen Krieg mit Japan vermeiden, denn der katastrophale Zustand der eigenen Wirtschaft durch den 5-Jahres-Plan und die Hungersnot schwächten das Arbeiter-und-Bauern-Paradies nachhaltig. Diese Situation würde sich bis zu den Grenz-Geplänkeln 1939, die die Sowjetunion spielend für sich entschied, nachhaltig zu ihren Gunsten verändert haben.

Auch in den USA war Mandschuko eine entscheidende Kategorie: die Regierung verurteilte in Worten die japanische Aggression und weigerte sich, Mandschuko anzuerkennen (ein Bruch mit der Praxis des 19. Jahrhunderts und ein Zeichen für die neue, wertgebunden-liberale Weltordnung). In einem bewaffneten Konflikt mit Japan hätten sie wenig Chancen gehabt und hätten ihre Kolonie in den Philippinen gefährdet - für eine Konfrontation brauchte es Großbritannien, das diese Verwicklung emphatisch ablehnte, aber sich der moralischen Verurteilung der USA anschloss. Japan allerdings sah in seiner Isolation keinen anderen Ausweg, als den Völkerbund zu verlassen, dem es nach der Resolution gegen es nicht mehr angehören zu können glaubte (heutige UN-Mitglieder können da nur lachen).

Spannend ist, wie all diese Entwicklungen innenpolitisch getrieben sind: selbst die liberalen japanischen Regierungsmitglieder sehen "keine andere Wahl" als den Austritt aus dem Völkerbund, weil sie die "Blamage" nicht hinnehmen können, trotz der Sanktion zu bleiben, während die öffentliche Meinung im liberalen Westen zwar nicht erlaubt, das japanische Verhalten hinzunehmen, aber auch nicht, Substanzielles dagegen zu tun.

Jankowski bliebt hier in der Analyse merkwürdig diffus: einerseits betont er, dass die Mächte der damaligen Zeit den Völkerbund als weitgehend nutzlos und unbedeutend betrachteten; andererseits sieht sich Japan durch die Resolution so unter Druck, dass es seinen Austritt verkündet und seine Isolation so nur noch mehr unterstreicht. War die Grundidee hinter dem Völkerbund, dass die "öffentliche Weltmeinung" Druck auf die handelnden Staaten ausübte, nun ein Grundfehler, oder war sie es nicht?

In Kapitel 10, "The Reich under foreign eyes", wendet sich Jankowski der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zu. Er charakterisiert die politische Atmosphäre Berlins jener Tage als eine des ständigen Verrats und der Hinterzimmerpolitik und gesteht Schleicher nur einige dürre Zeilen zu, bevor er sich mit Hitler beschäftigt. Hier betont er erneut, wie unklar allen Beteiligten war, welche Ziele er eigentlich hatte. Dies scheint mir in gewissen Teilen auch ein Medienversagen zu sein; die Berichterstattung über Hitler ist bestenfalls eine von Berichten über ihn, keine, die eine Analyse dessen, für was er steht und was die Nationalsozialisten bereit waren zu tun, beinhalten würde. Dafür gab es nur wenig Vorlagen, aber die Regierungsbeteiligung in Thüringen wurde geradezu bewusst ignoriert. Jankowski zeigt das auch an dem berühmten Gespräch mit den Generälen Anfang Februar auf, in dem er klar seine genozidale Agenda skizzierte. Nicht nur akzeptierten die Militärs diese vorbehaltlos, was eine Standarderkenntnis der Quellenkritik ist; in Zeitungsberichten über das Treffen gibt es zudem keinerlei Informationen zu seinem Inhalt, und auch die Botschafter Frankreichs, Großbritanniens etc. scheinen sich nicht groß dafür interessiert zu haben. Man nahm Hitler offensichtlich nicht ernst.

Im Februar 1933, als im Zuge der Reichstagsbrandverordnung bereits politische Gegner verfolgt und Parteien verboten wurden, spekulierte man in vielen ausländischen Zeitungen über mögliche Konflikte innerhalb der deutschen Regierung, Winkelzüge der Konservativen gegen die Nazis und umgekehrt, über möglichen Bürgerkrieg, eine Sezession Süddeutschlands, allen möglichen Unfug. Die deutsche Außenpolitik, so nahm man an, werde in der Kontinuität der bisherigen stehen. Personen wie von Neurath, der konservative Außenminister, schienen das zu garantieren. Die Konzentration auf die Innenpolitik war eine Konstante der ausländischen Berichterstattung; sie beschäftigte sich kaum mit der deutschen Außenpolitik.

Jankowski macht auch eine merkwürdige Trennung zwischen der Außen- und Innenpolitik aus. Obwohl die Nationalsozialisten offensichtlich ohne jede Rücksicht auf Verträge und geltendes Recht im Inneren mit massiver Gewalt herrschten, ging man davon aus, dass genau das in der Außenpolitik nicht der Fall sein würde. Die Nationalsozialisten selbst versuchten diesen schwerwiegenden Irrtum mit zahlreichen Nebelkerzen auch zu verstärken.

Eine weitere Auffälligkeit war die parteipolitisch angepasste Sicht auf Deutschland. Hatte die rechte Presse früher deutschfeindliche Artikel veröffentlicht, Aufrüstung gefordert und vor Deutschland gewarnt, begann sie nun, wesentlich freundlicher und auf Frieden bedachter zu werden. Die linke Presse machte eine umgekehrte Entwicklung durch; hatte sie zu Weimarer Zeiten noch auf Mäßigung und Verständigung, Verhandlungen und Frieden gepocht, so forderte sie nun entschlossenes Vorgehen gegen NS-Deutschland. Besonders krass ist hier der Daily Express, der angesichts des "Judenboykotts" im April 1933 titelte "Das Weltjudentum erklärt Deutschland den Krieg". Auch die rechtskonservative Figaro in Frankreich befürchtete vor allem eine Welle von Flüchtlingen angesichts der antisemitischen Politik Deutschlands.

Jankowski führt diese Wahrnehmungen auch darauf zurück, dass einerseits Hitlers "Zweites Buch" (in dem er über Außenpolitik spricht) nie erschienen war und andererseits "Mein Kampf" 1933 noch keine englische Übersetzung hatte, so dass der Text den meisten Menschen unbekannt war. Zudem glaubten viel zu viele Beobachtende, dass das NSDAP-Programm von 1924 irgendeine Bedeutung hätte, während Hitler sich daran überhaupt nicht gebunden fühlte.

Kapitel 11, "Unwilling accomplices", wirft dann den Blick auf Großbritannien. Anhand einer Episode aus dem Cambridge-Debattenclub, in dem die Frage des Pazifismus diskutiert wurde und zu einem Skandal führte, der an die moralische Panik der Cancel-Culture-Debatte erinnert (der Daily Express warnte natürlich vor einer kommunistischen Unterwanderung der Universitäten), zeigt Jankowski den Stand der der Debatte im Vereinigten Königreich auf.

Entscheidender aber war die Rolle der Sowjetunion. Nach dem Vertrag von Rapallo 1922 hatte die Weimarer Republik mit dem Land zusammengearbeitet: deutsche Technologie und Fertigwaren gingen im Austausch für Rohstoffe und die unter Versailles verbotene Rüstungskooperation in das Land, das 1933 über 30% der deutschen Exporte aufnahm (und die deutsche Wirtschaft dazu brachte, Hitlers Anti-Bolschewismus anfangs im wirtschaftlichen Interesse einzudämmen).

Die Sowjetunion musste einen Drahtseilakt bestehen: die deutsche Kooperation hatte die drastische militärische Aufrüstung ermöglicht, die seine Sicherheit garantieren sollte, aber der Fünf-Jahr-Plan hatte das Land tiefgreifend destabilisiert. Die Sowjetunion musste an mehreren Fronten für Ausgleich sorgen: einerseits Japan beruhigen (siehe oben), andererseits versuchen, Deutschland einzudämmen und gleichzeitig als Ausgleich gegen die kapitalistischen Mächte zu gebrauchen, die man ideologisch als die Hauptgegner sah. Die Nazis ihrerseits mussten die Quadratur des Kreises vornehmen und eng mit der ideologisch verhassten Sowjetunion kooperieren.

Genau das Gegenteil geschah mit Italien: hier war die Rhetorik herzlich - immerhin waren es zwei faschistische Diktaturen -, aber Mussolini misstraute Hitler und hielt wenig von ihm und versuchte, Deutschland einzudämmen - wozu er die Zusammenarbeit mit Osteuropa und Frankreich brauchte. Letzteres aber würde er praktisch sicher mit seinen aktuellen Plänen zur Eroberung Äthiopiens verstimmen. Ein Achsnagel seiner Strategie war Österreich, das er in enger Zusammenarbeit mit dem 1932 an die Macht gekommenen Austro-Faschisten Dollfuß zu einem italienischen Protektorat formte.

Italiens Wünsche deckten sich zu einem gewissen Teil mit den deutschen, aber nur zu einem Teil. So verlangte es Mussolini nach einer wirtschaftlichen Partnerschaft in der Donauregion, was die Deutschen ablehnten - Italien konnte wenig bieten, aber viel nehmen. Gleichzeitig waren Italiens Versuche, die "kleine Entente" Jugoslawiens, der Tschechoslowakei und Polens mit Frankreich aufzubrechen, von wenig Erfolg gekrönt - zu tapsig ging Italien vor. Verglichen mit der Abwehr, die Deutschland auf sich zog, und seiner rapiden Isolierung war die italienische Diplomatie aber nachgerade brillant.

Zuletzt behandelt Jankowski in Kapitel 12, "Washington closes another door", die wirtschaftliche Komponente. Denn neben der (politischen) Abrüstungskonferenz in Genf fand 1932/33 auch eine wirtschaftliche Konferenz in London statt. Sollte in Genf der Weltfriede gerettet werden, ging es in London um die Weltwirtschaft. Treibende Kraft waren die USA: Roosevelt hatte sein Wahlversprechen, den Dollar vom Gold zu entkoppeln, überraschend wahrgemacht. Überraschend deswegen, weil Roosevelt wie der Rest seines Teams von Geldpolitik keine Ahnung hatte und deswegen im Wahlkampf gegen Hoover ins Horn der Austerität und Golddeckung gestoßen hatte - um jetzt eine 180°-Wende zu vollziehen.

Die Logik war sauber. Zwar hatten die USA, anders als das 1931 aus dem Goldstandard ausgestiegene Großbritannien, kein Problem, die Forderungen in Gold zu begleichen; es kontrollierte die Hälfte der weltweiten Goldreserven. Aber die Bindung ans Gold brachte im Fahrtwind der Weltwirtschaftskrise das uralte Problem der Geldknappheit mit sich, das die Menschen im Land vor enorme Probleme stellte. Anders als bei den anderen Staaten der Welt war der Druck vom Goldstandard weg INNEN-, nicht außenpolitisch. Das hatten die anderen Nationen nicht auf dem Schirm gehabt. Und Roosevelt interessierte sich genauso wenig für die Rettung des Weltwirtschaftssystems in seiner Form der 1920er Jahre wie für die Rettung der politischen Weltordnung jener Epoche.

Darin deckten sich die Interessen der USA und Großbritanniens weitgehend. Frankreich führte demgegenüber eine Koalition kontinentaleuropäischer Staaten an, die mit vorwiegend moralischen Argumenten (sie litten für den Goldstandard, warum also sollten andere nicht auch leiden?) für den Erhalt des Goldstandards ankämpften (Frankreich würde ihn als eines der letzten Länder 1935 aufgeben). Die Deutschen dagegen, komplette ökonomische Analphabeten, hielten in London weitgehend die Klappe, vor allem die Nazis, die von Geldpolitik überhaupt nichts verstanden und davon ausgingen, dass sie das Ganze ohnehin nicht betreffe. Die Ausnahme war der konservative Extremist Alfred Hugenberg, der in London eine Grundsatzrede für Lebensraum im Osten hielt, die für reichlich Befremden sorgte und der Anlass für seine Abberufung war - und seinen Abschied aus der Politik, ausmanövriert wie seine andere konservativen Kollegen, die ahnungslos, aber mit viel Selbstsicherheit geglaubt hatten, die Geschicke Deutschlands zu bestimmen.

Es waren die USA, die in London den Schwenk hin zu national orientierter Wirtschaft vollzogen und damit einer weltweit koordinierten Wirtschaft den Todesstoß versetzten. Japan, Deutschland und Italien erkannten darin eine Verwandtschaft zu ihren eigenen Plänen und weinten der Konferenz, die mit einigen unverbindlichen, allgemein gehaltenen Erklärungen endete, keine Träne nach.

Demgegenüber endete die Abrüstungskonferenz in Genf mit einem Knall. Im Epilog "Geneva" wird noch einmal deutlich, dass Deutschland die faktische Gleichberechtigung mittelfristig absehbar bekommen hätte. Die Siegermächte verschlossen willentlich vor der ohnehin bereits erfolgten Aufrüstung die Augen, die flagrant den Versailler Vertrag brach. Den Nazis freilich war das nicht genug. Göring stolzierte auf der Konferenze herum, verkündete die Nutzlosigkeit des Völkerbunds, und Hitler vollzog gegen Jahresende den deutschen Austritt. Weitere sollten folgen, und die vier Nationen, die aufrüsten wollten - Japan, Deutschland, Italien und die Sowjetunion - würden sich in wenigen Jahren im Krieg mit denen befinden, die es nicht wollten - Großbritannien, Frankreich und den USA.

Insgesamt war die Darstellung Jankowskis eine sehr interessante, die die internationale Lage der Jahre 1932 und 1933 gut darstellt. Weniger überzeugt war ich von der Grundthese des Buchs und der narrativen Rahmensetzung um die Abrüstungskonferenz in Genf, denn letztlich widerlegt Jankowski die eigene Idee, dass hier der Friede verspielt worden sei. Das würde ja voraussetzen, dass die Konferenz ernsthaft eine Alternative hätte sein können, aber alle Dynamiken, die er für die vier aggressiven Mächte beschreibt, weisen in die entgegengesetzte Richtung. Mit diesem Widerspruch setzt er sich aber nie auseinander, weswegen das Buch eher erklärt, wie die Welt auf den Kriegspfad geriet, als wie sie den Frieden verspielte.

Diese Setzung findet sich auch formal wieder. Jankowski schreibt in einer sehr lyrischen Sprache und legt viel Gewicht auf ein packendes Narrativ. Das macht die Lektüre sehr angenehn und flüssig, erzeugt aber gleichzeitig einen Eindruck von Unausweichlichkeit, der aus eben jener flüssigen, narrativ orientierten Sicherheit entsteht. Das ist nicht zwingend schlecht, aber eine bemerkenswerte Eigenschaft eines Buches, das ich insgesamt in jedem Fall zur Lektüre empfehlen würde.

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