Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Amerikanische Mythen, Letzter Ronin, Gottes Monster, Sonderkommando Auschwitz

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -

Bücher

Kevin M. Kruse/Julian Zelizer – Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)

Gründungsmythen gehören zu jeder Nation. Es sind Geschichten, die erzählt und ständig wieder erzählt werden, oftmals in geradezu ritueller Form, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Mit historischen Realitäten haben sie häufig wenig zu tun; sie ssagen mehr über die Selbstwahrnehmung der Gegenwart, was man als wichtig empfindet. So erfinden die Franzosen Jahr für Jahr einen Aufstand des gesamten Volkes gegen den korrupten Adel, imaginieren die Briten einen die gesamte Bevölkerung umfassenden Stolz auf das die Wellen beherrschende Britannia, sind die Deutschen stolz auf auf den Fleiß, mit dem sie sich selbst und ohne Hilfe aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet haben und feiern die Amerikaner ihre Unabhängigkeit als demokratisches Urereignis. Die USA, als einer der ältestens Staaten der Erde, haben erwartbar mehr Mythen als die meisten anderen Länder, und die polarisierte Gesellschaft sorgt dafür, dass es umso mehr werden. Die Herausgeber Kevin Kruse und Julian Zelizer haben 20 Beiträge amerikanischer Historiker*innen gesammelt, die diesen Mythen auf den Grund gehen.

Im Vorwort etablieren die beiden Herausgeber die Menge dieser Mythen, die ihre Gestalt über die Zeit auch immer wieder gewandelt haben und die Kenntnis der realen Situation längst hinter sich gelassen haben. Die beiden kommen eindeutig von liberaler Seite her, weswegen viele der hier kritisierten Mythen und der sie umgebenden „Fake News“ sich eher gegen die Rechte richten; gleichwohl erklären sie, dass die hartnäckisten und dauerhaftesten Mythen von beiden Seiten des Spektrums geteilt werden.

Der erste Mythos in Kapitel 1, „American Exceptionalism„, von David A. Bell, geht den wohl fundamentalsten und berühmtesten Mythos an: den des amerikanischen Exzeptionalismus, also dass die USA eine besondere Nation seien, klar abgehoben von allen anderen. Bell stellt fest, dass grundsätzlich jede Nation sich als exzeptionell sieht – und das grundsätzlich auch zu Recht, denn jede unterscheidet sich irgendwie von anderen. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist, wohl wenig kontrovers, dass die USA auch besser seien als alle anderen Länder. Bell findet die Genese des Begriffs bei den amerikanischen Kommunisten, die damit zu erklären versuchten, warum in den USA keine Arbeiterbewegung entstand. In den späten 1920er Jahren verbot Stalin die Verwendung des Begriffs. In der Folgezeit wurde er von rechts aufgegriffen, aber immer mehr zu einem allgemein genutzten Konzept. Erst Reagan begann es dann spezifisch zu einem rechten talking point zu machen. Als Waffe gegen links instrumentalisierte es dann Newt Gingrich; seither gehört es zum Standardrepertoire der GOP, den Democrats mangelnden Patriotismus vorzuwerfen, weil sie nicht an den Exzeptionalismus glaubten. Dass diese sich beständig dazu bekennen, hat wenig daran geändert. In jüngster Zeit hat sich der Begriff weiter enthöhlt, weil Trump selbst offen erklärte, wenig damit anfangen zu können, was die weitere Verwendung als Angriff aber nicht gestört hat.

Wesentlich akademischer wird es Kapitel 2, „Founding Myths„, in dem Akhil Reed Hamar auf Madison und seinen berühmten „Federalist No°10“ eingeht. In diesem konstruierte Madison einen Gegensatz des Konzepts der Republik und der Demokratie. Oft wird auch die Behauptung abgeleitet, dass Demokratien nur in kleinen Entitäten funktionierten, während große die Minderheitenrechte untergrüben (während die Staaten diese schützen könnten). Hamar weist nach, dass der Federalist °10 seinerzeit keine große Rolle spielte; die Zeitgenossen rezipierten weitgehend die Argumente aus °2 bis °8, die außenpolitische Überlegungen voranstellten. Der Federalist °14, dem eine Zusammenfassung von 2-8 vorangestellt war, war der meistgelesene aus der Feder Madisons.

Genauso widerlegt Hamar die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Versammlung ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie die Articles of Confederation verwarf; dies sei von Beginn an akzeptiert gewesen. Er hebt auch Washingtons Rolle bei dem Prozedere hervor, der wesentlich aktiver und gestaltender war, als dies oft zugestanden wird; die mächtige Rolle des Präsidenten etwa sei vor allem auf seine Person zurückzuführen. Gefährdungen für Minderheitenrechte, das kann kaum bestritten werden, entstanden zudem in den Einzelstaaten nicht im Bund. Man erkennt dies zweifelsfrei nach 1865, als diese vorher rein theoretische Betrachtung Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen wurde.

Einem ganz anderen Mythos geht Ari Kelman in Kapitel 3, „Vanishing Indians„, auf die Spur. Die oft gehörte Behauptung, die Ureinwohner*innen hätten nichts Bleibendes hinterlassen – entweder weil sie keine nennenswerte eigene Kultur besessen hätten oder weil sie von den Weißen komplett erledigt wurden – sei weder haltbar noch harmlos. Der Mythos war im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich einer, der zur Rechtfertigung der Landnahme benutzt wurde: demzufolge war es das gottgegebene Schicksal der Natives, zu verschwinden. Das enthob gleichzeitig die Weißen selbst von ihrer Schuld an diesem Verschwinden, das ein merkwürdig passives Phänomen wurde. Einen Wandel in der Wahrnehmung erhielt dieses Verschwinden in den 1960er Jahren durch die New-Age-Bewegung und den Bestseller „Bury my heart at Wounded Knee„, der das Thema identitätspolitisch veränderte (weil von links der „Imperialismus“ der USA gegen die Natives kritisiert wurde, während dies von rechts emphatisch geleugnet wurde), aber ebenfalls die „verschwindenden“ Natives thematisierte, wenngleich nun nostalgisch verklärt. Dieser Verschwinden-Mythos, der von beiden Seiten gepflegt wird, schadet aber den Natives, die immer noch existieren und ihre Anliegen deutlich machen wollen.

Der ständig beschworenen Horrorvision einer Flut von Immigrant*innen, die die amerikanische Kultur zerstören, spürt Erika Lee in Kapitel 4, „Immigration„, nach. Überraschend ist vor allem das Alter dieses Narrativs bei gleichzeitiger struktureller Konsistenz. Immer geht es um eine Gruppe von Einwandernden, die sich anders als die vorherigen Gruppen nicht amerikanisieren und drohen, die USA zu zerstören. Im 18. Jahrhundert, noch vor der Gründung des Landes, waren es die Deutschen, danach allgemeiner katholische Einwanderende, dann die irischen, dann die chinesischen, bevor plötzlich Mexikaner*innen und schließlich andere Südamerikaner*innen der große Feind wurden, der das Gefüge der USA bedrohte. Lee betont, dass die Einwanderung zwar stets narrativ als Invasion oder Welle gefasst wurde, aber stets auch massive Pull-Faktoren eine Rolle spielen: die Wirtschaft hat Bedarf an undokumentierten und leicht ausbeutbaren Arbeitskräften, die in Flauten einfach abgeschoben werden können. Die amerikanische Wirtschaftstätigkeit sei daher maßgeblich für die Wanderungsströme. Zudem sei der Mythos der Realität hinterher: seit Jahren ist die Einwanderung aus Mexiko leicht negativ, aber das Land bleibt der viel beschworene Ursprungspunkt.

In Kapitel 5, „America First„, beschreibt Sarah Churchwell die Herkunft von Trumps Leitspruch. Bereits 2015/16 gab es eine große Debatte über dessen rechtsradikale Ursprünge in der amerikanischen faschisten Bewegung der 1930er Jahre, die von den Republicans rundheraus geleugnet wurden, die stattdessen betonen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei: welche Nation stelle nicht die eigenen Interessen vorne an? Lee weist nach, dass der Spruch wesentlich älter ist als die 1930er Jahre. Erstmals wurde er in den 1850er Jahren von den Know-Nothings benutzt, die damit gegen Immigrierende mobil machten. Eine Renaissance erlebte er um 1915, als der zweite Ku-Klux-Klan gegründet wurde. Woodrow Wilson verwendete den Begriff, um eine rassistische Kampagne gegen „Bindestrich-Amerikaner“ zu unterfüttern, und der Klan adoptierte den Slogan in den 1920er Jahren selbst. Die Neutralität der USA bis 1917 wurde mit „America First“ ebenso begründet wie der Red Scare von 1919. Der prominenteste Vertreter des Slogans war Henry Ford, der ihn massiv antisemitisch auflud. In den 1930er Jahren nutzten ihn dann die Faschisten für ihre dog whistles, ehe Charles Lindbergh den Subtext zum Text machte und damit direkten Widerspruch herausforderte. Der Angriff auf Pearl Harbor erlaubte es Roosevelt, gegen die Extremisten vorzugehen, und der Krieg sorgte für eine 180°-Wende der öffentlichen Wahrnehmung, der nun mit Faschistenfreundschaft gleichgesetzt wurde. Bereits in den 1950er Jahren wurde er aber im zweiten Red Scare wieder von rechts übernommen, dann von George Wallace, David Duke und Pat Buchanan benutzt und schließlich prominent von Trump vorgebracht. Stets war er mit nativistischen, rassistischen Untertönen versehen, nie ein allgemeiner Slogan.

Ein überparteilicher Klassiker wird in Kapitel 6, „The United States is an Empire„, von Daniel Immerwahr besprochen. Es gehört praktisch seit der Gründung der USA zum Selbstbild, kein Imperium zu sein, sondern solche zu bekämpfen (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) und ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“ für die Welt darzustellen. Das allerdings sei Unfug. Bereits kurz nach ihrer Gründung inkorporierten die USA große Territorien, die zwar die Möglichkeit hatten, Staaten zu werden, dies aber (nach rassistischen Kriterien) lange nicht wurden. Oklahoma etwa war über 100 Jahre Territorium, länger als viele Kolonialreiche bestanden. Immerwahr hebt auch die karibischen und pazifischen Besitzungen der USA hervor, die heute noch Territorien und deutlich ärmer als die kontinentalen USA sind. Zudem stellt er die Reservate und Tribal Nations in den kolonialen Kontext und verweist auf das ausgeprägte Netz von Basen, das die USA unterhalten. Informeller Einfluss statt direkter Landnahme sei immer US-Politik gewesen, weswegen die Existenz des Imperiums auch meist nicht anerkannt werde.

Eher zurück in den Bereich rechter Mythen geht es in Kapitel 7, „The Border„, in dem Geraldo Caralva die Idee zurückweist, dass die Grenze seit jeher eine Markierung zwischen den reichen, höherstehenden USA auf der einen und den gefährlichen Ursprüngen von Kriminalität und Immigration auf der anderen Seite sei. So weist er darauf hin, dass für viele Natives und Schwarze das Land südlich der Grenze das Land der Freiheit war und das Vordringen der Grenze etwa im Krieg von 1846-1848 einen empfindlichen Perspektivverlust bedeutete. Für die Natives war weder das amerikanische Vordringen noch die mexikanischen Unabhängigkeit eine gute Nachricht; sie wurden von beiden Seiten bekämpft. Die Grenzregion sei für Jahrzehnte eine Zone interkulturellen Austauschs geblieben, frei Grenzübergänge waren die Norm. Die Immigrationsbeschränkungen Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts galten explizit nicht für Mexiko. Erst mit der Weltwirtschaftskrise habe sich das geändert und das Narrativ von der Grenze zu Mexiko als Hort von Migration und Kriminalität, den es durch verstärkte Restriktionen zu kontrollieren gelte, übernahm. Caralva schließt mit einem Plädoyer, die diverse Geschichte der Grenzregion und ihr interkulturelles Potenzial mehr zu sehen.

Kapitel 8, „American Socialism„, beginnt mit dem Vortrag des Walisers Robert Owen vor dem Kongress vor über 200 Jahren, in dem dieser sozialistische Ideen unter großem Interesse und Anteilnahme vortrug. Für Michael Kazin ist das ein Beleg dafür, dass die Amerikaner*innen nicht so grundlegend antisozialistisch eingestellt sind, wie das oft behauptet werde. Zahlreiche Intellektuelle hätten in den folgenden Jahrzehnten sozialistische Ideen verbreitet, Organisationen wie Gewerkschaften dafür gekämpft und diverse Abgeordnete auf ihrer Basis Mandate errungen. Sozialistische Ideen hätten Druck auf die gemäßigte Linke und selbst Rechte ausgeübt, die sie übernommen hätte (etwa im New Deal) und die ob ihrer Popularität auch unter Rechten wie Reagan nicht zurückgefahren worden wären. Der mangelnde elektorale Erfolg sei maßgeblich auf diese Kooptierung sozialistischer Ideen zurückzuführen. Dass Sozialisten meist als Democrats gewählt wurden, zeige ihre moderate, reformorientierte Haltung.

In eine ähnliche Kerbe schlägt das von Naomi Oreskes und Erik M. Conway verfasste Kapitel 9, „The Magic of the Marketplace„. Den Glauben, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Staat sich nur komplett heraushielte – wie er heute in der GOP rhetorisch oft, in der Praxis nie vertreten wird – wird von den beiden auf GOP-nahe Think-Tanks in den 1930er Jahren zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert seien Staatseingriffe von Indian Removal bis Eisenbahnbau schließlich die Norm gewesen, weswegen eine mythische Vergangenheit unter dem Zauber des Markts erst konstruiert werden musste. Von dort ziehen die Autor*innen eine Linie zu Hayek und Mises über Friedman, die alle dank tatkräftiger Finanzierung der Business-Lobby öffentliche Wirkung entfalten konnten. Sie postulierten eine Unteilbarkeit ökonomischer und anderer Freiheiten. Oreskes und Conway weisen diese Idee zurück und verweisen auf die offensichtliche Vereinbarkeit von Sozialstaat und staatlicher Investitionstätigkeit mit Freiheit.

Ein verwandtes Thema greift Eric Rauchways Kapitel 10, „The New Deal„, auf. Ausgehend von einer Behauptung des Republican Chuck Grassley, der New Deal sei ein Fehlschlag gewesen, der Arbeitslosigkeit erhöht und Wirtschaftswachstum gedämpft habe, weisen sie nach, dass beides nicht korrekt ist. Die Periode des New Deal war die des größten Wirtschaftswachstums der US-Geschichte (wenngleich man natürlich die schlechte Ausgangslage durch die Weltwirtschaftskrise einberechnen muss); die Arbeitslosigkeit sank allein bis 1936 um fast die Hälfte. Rauchway zeichnet vor allem nach, warum sich der von Grassley reproduzierte Mythos so lange halten konnte. Der Grund dafür liege in der von Gegnern des New Deals im Statistikamt begonnenen Praxis, die durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der WPA beschäftigten Arbeiter*innen als arbeitslos zu zählen. Die Argumentation war, dass es sich dabei um dieselbe Zwangsarbeit handle wie in den Nazi-Konzentrationslagern (!) oder dem Reichsarbeitsdienst, was vollkommener Unsinn ist: die WPA war freiwillig, enthielt Streikrecht und die Arbeitenden sahen sich selbst auch als solche, mit Lohn und allen Rechten und Pflichten. Rauchway verweist außerdem darauf, dass Grassleys weiteres Argument, die Weltwirtschaftskrise sei erst durch den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überwunden worden, eher dafür spricht, dass die Staatsintervention des New Deal zu gering ausfiel als zu groß, gab es doch keine Periode der US-Geschichte, in der der Staat größeren Anteil am Wirtschaftsleben nahm als 1941-1945.

In Kapitel 11, „Confederate Monuments„, greift Karen L. Cox die Lost-Cause-Mythologie auf, die mit dem Ende der Reconstruction um sich zu greifen begann und ihren sichtbaren Ausdruck in einer Flut von Monumenten zu Ehren der Konföderierten und ihrer Sache fand. Die Monumente entstanden überwiegend, aber nicht nur, im 20. Jahrhundert und waren explizit mit weißer Suprematie verknüpft. Bereits zu ihrer Entstehungszeit waren sie von Kritiker*innen dafür angegriffen worden. Das Land akzeptierte aber in seiner weißen Mehrheitsbevölkerung die Lost-Cause-Mythologie überwiegend; auch im Norden spielte das Thema Emanzipation keine Rolle mehr. Bis heute wird vor allem in den Südstaaten eine Version der Geschichte gelehrt, die mit der Realität wenig zu tun hat.

Die politische Seite dieser Thematik wird in Kapitel 12, „The Southern Strategy„, von Kevin M. Kruse beleuchtet. Die Democrats waren historisch die Partei der Segregation, während die Republicans für Emanzipation standen (und entsprechend die Loyalität der afroamerikanischen Wählendenschaft genossen). Nach der Reconstruction wendete sich auch die GOP von dieser Thematik ab, die keine politische Vertretung mehr besaß; schwarze Repräsentant*innen in den Parlamenten verschwanden praktisch völlig, ihre rechtliche Stellung verschlechterte sich drastisch. Dies änderte sich erst mit dem New Deal, der ihre wirtschaftliche Lage (nicht aber die politische) wesentlich verbesserte und zu einem dramatischen Loyalitätswechsel zu den Democrats führte. 1948 setzte Truman einen Fokus auf Bürgerrechte durch, der zu einem Aufstand der Südstaaten (mitsamt eigenem Präsidentschaftskandidaten) führte. In der folgenden Zeit begannen die Republicans, mehr und mehr um die Rassisten des Südens zu werben. Diese Entwicklung wurde mit der Bürgerrechtsgesetzgebung Kennedys und vor allem Johnsons deutlich verstärkt.

Die Rassisten bildeten zuerst eine eigene Partei (die „Dixiecrats“) mit eigenen Kandidaten, doch in den 1960er Jahren entschied sich der interne Machtkampf der Republicans zwischen den Konservativen und den Liberalen für erstere, die mit Barry Goldwater einen Kandidaten aufstellten, der zum ersten Mal den tiefen Süden gewann. Dieses realignment geschah auf zwei Ebenen: mit Goldwater in der Präsidentschaftskandidatur und auf lokaler Ebene in den dortigen Wahlkämpfen. Die Abgeordneten im Kongress stimmten zwar oft mit der scharf nach rechts rückenden GOP, blieben aber offiziell Democrats, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, so dass der Wandel dort langsamer vonstatten ging. Die liberale wirtschaftliche Haltung dieser Leute sorgte zudem dafür, den Wechsel nicht offiziell zu machen, da die Marktideologie (siehe Kapitel 9) teilweise abgelehnt wurde. Der Kongress blieb deswegen von den Democrats kontrolliert.

Goldwaters Kandidatur war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Auf der National Convention waren fast keine Schwarzen und gar keine Juden. Die Schwarzen wurden angepöbelt und teils körperlich attackiert; die Stimmung war pogromartig. Damit war ein neuer Ton gesetzt. Gleichwohl führte dieser zwar zum Sieg Goldwaters im Deep South, aber zum Verlust des Rests des Landes. Nixons nun explizit als southern strategy benanntes Vorgehen bestand in einem Zickzackkurs, um als der moderatere Kandidat zu erscheinen. Als die GOP bei den Midterms 1970 offen rassistisch agierte, erlebte sie einen milden Backlash. 1972 fuhr Nixon dann die Ernte des gemäßigteren Kurses ein und errang 49 der 50 Staaten. Die Verhandlungen für den Wechsel demokratischer Abgeordneter liefen, als Watergate unerwartet eine Gegenbewegung einläutete. Der Wandel des Kongresses in republikanische Hände dauerte zwei Jahrzehnte länger.

Ob Reagan eine southern strategy fuhr, ist durchaus kontrovers. Atwater verneinte dies stets vehement, was Kruse nicht als unüberzeugend ansieht. Reagan sprach hauptsächlich Wirtschaft und Verteidung, aber nutzte die dog whistle der states rights, um auch deutlich nach rechts zu blinken. Insgesamt blieb aber auch er auf der „moderaten“ Siegerstraße. Der Durchbruch des langen Realignments erfolgte mit dem Sieg in den Repräsentenhauswahlen 1994 durch Newt Gingrich, aber die Moderierung blieb auch durch die Präsidentschaft George W. Bushs immer ein ausgleichendes Element, ehe die Partei nach 2008 eine scharfe Rechtswendung hinlegte.

In Kapitel 13, „The Good Protest„, beschreibt Glenda Gilmore den verbreiteten Mythos bezüglich der Bürgerrechtsbewegung, dass diese einerseits quasi mit Rosa Parks aus der Taufe gehoben und andererseits weitgehende Zustimmung der weißen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten. Dies ignoriere einerseits die lange Geschichte afroamerikanischer Proteste – die ersten Sit-Ins fanden bereits in den 1930er Jahren statt – und sorge andererseits dafür, das Doppel-Narrativ afroamerikanischer Akzeptanz der Segregation vor den 1950er Jahren einerseits und das einer schnellen weißen Akzeptanz der Anliegen und eines raschen Bewusstseinswandels andererseits zu reproduzieren, die beide vollkommen unhistorisch sind.

MLK sei politisch kooptiert und ihm so die Zähne gezogen worden, eine Karikatur entstanden, die mit der realen Position wenig zu tun habe. Sogar Trump zitierte aus dem Kontext gerissenene King-Zitate; zuerst hatte damit Reagan 1985 begonnen. Gilmore weist nach, dass der reale King wesentlich radikaler war als das heute verwaschene Bild. Zudem habe damals mitnichten eine weiße Akzeptanz der Proteste bestanden; diese seien vielmehr radikal abgelehnt worden.

Dieser Gedanke wird in Kapitel 14, „White Backlash„, von Lawrence B. Glickman fortgesetzt. Unter dem Begriff wird die Idee gefasst, dass eine Radikalisierung der Weißen gegenüber ethnischen Minderheiten und ihre gewalttätige Reaktion eine Folge auf die Proteste sei. Diese Vorstellung wurde in den 1960er Jahren popularisiert, aber Glickman weist nach, dass die Begründung erstmals in den 1890er Jahren verwendet wurde. Das Muster ist dabei jedes Mal gleich: Forderungen oder Proteste ziehen eine gewalttätige Reaktion nach sich, etwa Terror des Ku-Klux-Klans, die damit relativiert wird, dass sie eine „Reaktion“ auf die vorangegangenen Proteste sei. Glickman postuliert einerseits, dass dies nicht zutreffe – die Gewalt war bereits vorher vorhanden – und so Ursache und Wirkung verkehre. Andererseits schaffe es eine passive Rolle für diejenigen, die sich radikalisieren lassen, eine Unausweichlichkeit, die die Täter*innen aus der Verantwortun nimmt.

Das Komplementärstück zum im Kapitel 10 besprochenen New Deal ist Gegenstand von Joshua Zeitz‘ Kapitel 15, „The Great Society“. Das große Reformwerk Lyndon B. Johnsons (siehe auch „LBJ’s Neglected Legacy„, hier rezensiert) wurde wie auch der New Deal von Republicans für gescheitert erklärt, prominent etwa von Ronald Reagan. Dieser scherzte, dass Johnson einen „Krieg gegen die Armut“ erklärt habe, den die Armut gewonnen habe. Wenig überraschend widerspricht Zeitz dem. Der War on Poverty habe zwar natürlich die Armut nicht beseitigt, aber deutlich reduziert (analog zum New Deal werde dies in den Statistiken unzureichend wiedergespiegelt, weil diese geldwerte Leistungen wie die von Johnson eingeführten Food Stamps nicht zählten und deswegen künstlich hoch seien).

Zudem habe das Reformwerk den heutigen amerikanischen Wohlfahrtsstaat überhaupt erst geschaffen, vor allem das dauerhaft beliebte Medicare und das Rentensystem, das bis heute ein Fundament der Gesellschaft darstelle. Die Annahmen, auf denen dieses System geruht habe – niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit, hohes Wachstum – hätten sich gleichwohl in den 1970er Jahren aufgelöst. Die Liberalen hätten zudem auf ein Wachstums- statt ein Umverteilungsmodell gesetzt (und tun das bis heute).

Die andere Hälfte des Kapitels beschäftigt sich mit den Erfolgen der Great Society im Umgang mit rassistischer Diskriminierung. Der in Kapitel 14  besprochene white backlash findet hier sein bekanntestes Schlachtfeld, wo der Kampf gegen den Civil Rights Act motivierte (siehe dazu auch Kapitel 17), der nichtsdestotrotz zu einer weitgehenden Desegregation der staatlichen Institutionen des Südens führte. Die USA um 1970 und folgende seien eine fundamental andere Gesellschaft als die USA um 1960 und davor.

Ein in letzter Zeit hauptsächlich rezipierter Anlass für den in Kapitel 14 besprochenen white backlash folgt in Kapitel 16, „Police Violence„, von Elizabeth Hinton. Sie zeigt anhand von Ausschreitungen in den 1960er Jahren, dass Polizeigewalt oft die Ursache, nicht die Folge von Ausschreitungen war. Dieses Muster, das sich in Ferguson, bei George Floyd und in vielen anderen Fällen in den 2010er und 2020er Jahren beobachten ließ (#BlackLivesMatter), hat seinen Ursprung bereits wesentlich früher. In den 1960er Jahren wurde die systemische Polizeigewalt nur erstmals überhaupt wahrgenommen, wenngleich die weiße Mehrheit sie überwiegend begrüßte. Das galt auch für die Proteste Martin Luther Kings (siehe Kapitel 13), die ebenfalls massiver und unprovozierter Polizeigewalt ausgesetzt waren, die die Zeitgenossen nicht etwa den rassistischen Terrorregimen der Südstaaten, sondern den Protestierenden zuschrieben.

Gleiches gilt für die Militarisierung der Polizei. Sie hatte ihren Ursprung nicht in den 2000er Jahren (wo sie gleichwohl einen Schub erlebte, wie ich hier beschrieben habe), sondern in den 1960er Jahren, als das US-Militär erstmals seine Restbestände aus einem abgewickelten Krieg an die Polizeibehörden weitergab, die es benutzten, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Hinton beschreibt als Fallbeispiel die exzessive Nutzung von Tränengas, das 1925 in der Genfer Konvention verboten wurde, zur Auflösung friedlicher Proteste. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit ihrer Kriminalisierung in jüngster Zeit; in vielen südlichen Bundesstaaten drohen für einen Protest bis zu 15 Jahre Gefängnis (!), während es gleichzeitig straffrei gestellt wurde, Protestierende versehentlich mit dem Auto zu töten.

Diese staatliche Freundlichkeit gegenüber Gewalt von Rechts ist auch Thema von Kapitel 17, „Insurrection„. Ausgehend von der viel gehörten Behauptung, der Putschversuch vom 6. Januar sei nicht „wer wir sind“, weist Kathleen Belew nach, dass Aufstände gegen den Staat vielmehr schon lange in der amerikanischen DNA stecken. Rechtsextreme Aufstände gegen den Staat und ein Netzwerk von Terroristen habe es viel mehr immer wieder gegeben. Im Zentrum stehen in ihrem Kapitel die „Turner Diaries“, eine Art als Roman getarnten politischen Programms, das einen Rassekrieg mit vollständiger Vernichtung aller Nicht-Weißen weltweit voraussieht und das seit den 1970er Jahren immer wieder mit Terroristen in Verbindung steht. Diese Terroristen werden von Politik und Medien stets als Einzeltäter angesehen, wogegen Belew die Existenz eines verbindenden Netzwerks postuliert.

Sie erklärt, dass in den 1960er Jahren die Mitgliedszahlen in radikalen rechten Organisationen deutlich absanken, was aber gleichzeitig einen Radikalisierungsprozess mit sich gebracht hätte. Um der Verfolgung zu entgehen, verschrieben die Rechtsextremisten sich der Idee der leaderless resistance – einer Vernetzung ohne klare Strukturen. Dazu nutzten sie bereits 1984 das Internet. Sie sammelten Spenden, kauften davon Computer und verteilten diese zusammen mit Kursen unter den Zellen, die sich dann in passwortgeschützten Foren austauschten. Heutige Netzwerke wie Stormfront seien daher nur Evolutionen eines mittlerweile 40 Jahre alten Trends.

Besonders bedrückend ist, wie viele der Prozesse gegen rechtsextreme Terroristen mit deren Freispruch endeten, weil die Jurys der Prozesse in den Einzelstaaten selten überhaupt schwarze Mitglieder besaßen und meist sehr empathisch gegenüber den Anliegen der Rechtsextremisten waren. Die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge ist wahrlich kein deutsches Problem.

Eine gänzlich andere Richtung schlägt Kapitel 18, „Family Values Feminism„, von Natalia Mehlman Petrzela, ein. Sie wendet sich gegen die konservative Behauptung, der Feminismus wolle die Familie zerstören und stellt dem die These gegenüber, dass er in Wahrheit die Familie unterstütze. Treibende Kraft hinter der Etablierung der Idee war Phyllis Schlaefli, die konservative Aktivistin, die das Equal Rights Amendment verhinderte und eine wichtige Unterstützerin Reagans war. Viele der frühen Feminstinnen, allen voran Betty Friedan, hatten aber die heterosexuelle Familie ausdrücklich verteidigt und neue Formen wie die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt. Erst in den späten 1970er Jahren gelang die Anerkennung von Lesben als Bestandteil der feministischen Bewegung (was dann wiederum zu backlash führte).

Petrzela führt ihren Argumentationsrahmen zum einen in die Vergangenheit bis zu den Aktivistinnen des 19. Jahrhunderts, die stets im Rahmen der Familie und weiblicher „Zuständigkeiten“ wie Fürsorge und Pflege agiert hatten, und zum anderen in die Gegenwart, wo Forderungen und Erfolge der feministischen Bewegung den Status von Familien durch Hilfen für Kinder und Eltern und die Stärkung der Rechte von Müttern eigentlich verbessert hätten, während Konservative mit ihren Kürzungen solcher Maßnahmen familienfeindliche Politik machten.

Ein weiterer Mythos aus dieser Zeit ist die in Kapitel 19, „Reagan Revolution„, von Julian Zelizer besprochene Amtszeit Ronald Reagans. Von folgenden Generationen von Republicans als „Reagan Revolution“ verklärt besteht Zelizer darauf, dass diese Begrifflichkeit stark übertrieben sei und in historischer Analyse nicht verwendet werden sollte. Reagan scheiterte mit den selbst gesteckten Zielen seiner Revolution weitgehend. Trotz beeindruckender Siege bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 waren die Midterms ein ziemliches Desaster; Reagans persönliche Beliebtheitswerte lagen deutlich unter denen Johnsons, Kennedys, Clintons, Bushs und Obamas und nur marginal über denen Nixons (wenngleich deutlich über Ford und Carter). Stattdessen führte seine Politik zu einem gewaltigen Defizit, das nur durch einen Kompromiss der GOP im Kongress mit den Democrats zu retten war – der deutliche Steuererhöhungen enthielt und effektiv die Reagan Revolution konterkarierte.

Auch außenpolitisch scheiterte Reagan. Nicht nur wurde seine Präsidentschaft beinahe durch den Iran-Contra-Skandal gefährdet (der heute weitgehend vergessen, seinerzeit aber als größer als Watergate eingeschätzt wurde!); sein größter Erfolg, die Entspannung und Abrüstungsverträge mit Gorbatschow, widersprachen völlig der Rhetorik des Wahlkampfs 1980 und Reagans Feuerfresser-Persönlichkeit zuvor. Zelizer kommt zu dem Schluss, dass die Rede von der Revolution angesichts der mangelnden Dauerhaftigkeit von Reagans Agenda und seinem Scheitern wesentlich übertrieben sei; gleichzeitig betont er, dass keine Person jemals in einem demokratischen Staatswesen überhaupt solche Durchbrüche feiern könnte, weswegen das von vornherein auch die falsche Erwartungshaltung sei.

Der letzte Mythos wird in Kapitel 20, „Voter Fraud„, von Carol Anderson untersucht. Ihr geht es um die republikanischen, unter Trump inflationär gewordenen Vorwürfe, es finde „voter fraud“ statt, also die Vortäuschung einer anderen Identität zum Abgeben zusätzlicher Stimmen. So etwas hat es in signifikantem Umfang zumindest im 20. Jahrhundert nie gegeben. Anderson zeichnet nach, wie diese Schmierenkampagne (wie bei so vielen in diesem Band besprochenen Themen) in den 1960er Jahren begann und zu einem Standardwerkzeug wurde.

Gleichzeitig unterscheidet sie den Vorwurf vom wesentlich relevantaren „electoral fraud„, also der Wahlfälschung. Diese finde wesentlich häufiger und systematischer statt und betreffe zehntausende Menschen – pro Wahl, wohlgemerkt. So zeigt sie anhand Beispielen aus den 1960er Jahren, wie Polizisten außer Dienst in Uniform und Ausrüstung vor Wahllokalen in Distrikten mit starker afroamerikanischer Bevölkerung postiert wurden und die Wählenden einschüchterten. Dies senkte die Wahlbeteiligung nachweislich deutlich. Natürlich fehlt auch Bush v Gore in der Auflistung nicht. Während die Schimäre voter fraud also mit furchtbaren Folgen für die demokratische Legitimität permanent hervorgekramt werde, werde realer election fraud überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn verfolgt.

Das Buch erinnert mich stark an Howard Zinn’s „People’s History of the United States“ (hier rezensiert): eine dezidiert linke Interpretation der amerikanischen Geschichte, ein Interpretationsangebot für das eigene politische Spektrum. Das kann man machen, hat aber mit Geschichtswissenschaft nur sehr eingeschränkt zu tun. Entsprechend werden auch munter historische Analysen, politische Analysen, Appelle für die Gegenwart und Werturteile miteinander vermischt. Manchmal ist dieser Mix furchtbar, manchmal nicht.

Kapitel 1 (Exzeptionalismus) etwa ist insofern interessant, als dass es auf den Exzeptionalismus als kommunistisches Konzept hinweist. Gleichwohl hat das abgesehen von der Begrifflichkeit ja praktisch nichts mit dem Begriff zu tun, wie er überwiegend verwendet wird. Ob sein Ursprung dort liegt, bezweifle ich auch sehr. Wesentlich seriöser erscheint mir da die Analyse von Kapitel 2 (Federalist 10); die Herleitung ist hier wesentlich tragfähiger und quellenbasierter und das Ganze zudem viel sinniger als Fragestellung und These. Gleiches gilt für Kapitel 3 (Natives), das neue Perspektiven einbringt, ohne in eine zu starke Idealisierung abzurutschen. Kapitel 4 (Immigration) wird dann wieder viel zu sehr mit genereller Kapitalismuskritik vermischt. Sicher spielt der Bedarf an billigen Arbeitskräften der Wirtschaft eine große Rolle, aber das Ganze ist dann in seinen Anreizen und Abhängigkeiten wesentlich komplexer als ein „der Kapitalismus ist schuld“.

Kapitel 5 (America First) war eine schöne Geschichte eines Begriffes, und ich halte die These, dass „America First“ immer schon ein nativistischer Slogan war, jetzt nicht für sonderlich kontrovers. Die zugrundeliegenden Prämissen von einer zutiefst rassistischen Grundordnung der amerikanischen Gesellschaft kann man sicherlich kritisieren, aber die spielt glücklicherweise für die eigentliche Analyse keine Rolle, sondern läuft nur als stilistisches Grundelement mit. Kapitel 6 (Imperium) bringt erneut eine eigentlich weitgehend unkontroverse Feststellung – dass die USA ein Imperium waren bzw. sind – und vermengt diese mit zahlreichen nicht ausgesprochenen und thematisierten Normensetzungen, die zu unehrlichen Argumentationen führen. Die philippinischen Kriegstoten 1941-1945 etwa einfach den Opfern amerikanischen Imperialismus‘ zuzuschreiben scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen großer intellektueller Redlichkeit, um es milde auszudrücken. Auch, dass das System amerikanischer Basen eines ist, das weitgehend auf Freiwilligkeit beruht, handwedelt Immerwahr einfach weg und bringt einige willkürliche Beispiele aus dem besetzten Japan, das nicht glücklich damit war (tough luck, vielleicht sollte man dann keinen Weltkrieg anfangen). Auch die verhältnismäßig zurückhaltende Landnahme, verglichen mit anderen Imperien, findet keine Erwähnung.

Kapitel 7 (Grenze) schließlich ist voll von sozialromantischem Klimbim von der Grenze als Raum interkulturellen Austauschs. So wenig Sympathie ich für Trump’sche Horrorvisionen aufbringe, so wenig hat dieses rosaraote Bild aber mit der Realität zu tun. Diese völlige Weigerung, sich mit der Lage zu befassen und die damit verbundenen Ängste zu addressieren, ist eine der größten Schwächen der radikaleren Linken und ihrer open-borders-Fantasien. Kapitel 8 (Sozialismus) verbiegt sich auch ordentlich, um eine grundsätzliche amerikanische Offenheit für sozialistische Ideen aufstellen zu können (was ich für völlig haltlos halte). Einzelevents wie irgendwelche 200 Jahre alten Reden taugen jedenfalls als Beweise überhaupt nicht, das ist keine seriöse Geschichtswissenschaft. Auch die großzügige Sammlung aller Strömungen, die vage die bestehende Ordnung aus einer nicht-rassistischen oder -faschistischen Warte heraus kritisierten unter dem Label „sozialistisch“ (vor allem solche, die bestenfalls (!) als sozialdemokratisch (democratic socialism) gewertet werden dürften, ist völliger Quatsch. Der Aufsatz hat mich so hart mit den Augen rollen lassen, dass sie schier aus dem Kopf fielen. Der Versuch, alle guten Entwicklungen der USA auf Sozialisten zurückzuführen und deren mangelnden politischen Erfolg als Ausdruck ihrer Effektivität zu verklären, ist solch motivated reasoning, dass es eigentlich kaum der weiteren Kritik bedarf. Für Bismarck und Wilhelm II. wäre es jedenfalls bahnbrechende Neuigkeit, dass Kooptierung dazu führte, dass „Sozialisten“ keine Wahlerfolge feiern können. Mich erinnert das Ganze an die Abhandlungen der BernieBros 2016.

Kapitel 9 (Magie des Markts) zeichnet zwar den Import Haykes und Mises‘ sowie den Erfolg Friedmans als Elitenprojekt nach, weist diesen aber in meinen Augen viel zu viel Bedeutung zu (genauso wie das bedeutungsschwangere cui bono, eine nicht auszurottende linke Angewohnheit). Zudem halte ich es für wenig tragfähig, die Geburt des Marktmythos erst in den 1950er und 1960er Jahren suchen zu wollen. Hier zeigt sich eine oft auftauchende Schwäche mangelnder Themeneingrenzung: geht es um die moderne, „neoliberale“ Prägung dieses Mythos, macht das grundsätzlich Sinn (bliebe aber in der Verengung auf die Personen immer noch fragwürdig), aber dann ist der Bezug zum 19. Jahrhundert unsinnig. Eine ähnliche Strukturproblematik sehe ich auch bei Kapitel 10 (New Deal). Die Statistikgeschichte des New Deal etwa fand ich super spannend, aber offiziell will das Essay den kompletten Mythos um den New Deal (sprich: das rechte Gegennarrativ) besprechen, was es aber in der Schwerpunktsetzung und Länge gar nicht kann. Die politische Zielsetzung und die wissenschaftliche Arbeit stehen auch hier in einem harten Gegensatz zueinander.

Noch krasser findet sich das in Kapitel 11 (Statuen), das eigentlich den Lost Cause thematisieren müsste, der ja ein zentraler Mythos der USA ist. Aber aus mir unerfindlichen Gründen wurde als Themenschwerpunkt die Statuendebatte gewählt (weil sie halbwegs aktuell und ein Aufreger der aktivistischen Basis ist?), weswegen eine eher unmotivierte Abhandlung über die Statuen mit Lost-Cause-Revivals gemischt wird und nichts Halbes und nichts Ganzes entsteht. Wie man das Thema ohne Erwähnung von „Vom Winde verweht“ hinbekommt, ist mir auch unbegreiflich. Kapitel 12 (Southern Strategy) schließlich enthält eine gute Darstellung des Great Realignment (über das ich ja auch selbst geschrieben habe), setzt aber die Reihe der merkwürdigen Fokussetzungen mit der „southern strategy“ fort, die ja eigentlich eine wesentlich klarere Bedeutung hat und an dieser Stelle als Begriff völlig verwässert wird. Abgesehen von diesem begrifflichen Detail ist der Aufsatz aber solide und gut fundiert und einer der besseren des Bandes.

Das gilt auch für Kapitel 13 (MLK). Die Veränderung von MLKs Image und die Mythenbildung um ihn sind ein genuiner „Myth America“, der eine Sezierung verdient, die in dem Essay auch ordentlich geleistet wird. Auch die historische Einordnung gelingt gut. Das gilt für Kapitel 14 (Backlash) leider nicht in demselben Maße. Grundsätzlich ist die Analyse und Schlussfolgerung des Essays völlig korrekt; die Passivkonstruktion des Backlash ist ein echtes Problem. Gleichzeitig aber wird völlig abgestritten, dass die Proteste irgendetwas damit zu tun haben könnten. Das ist aber Unsinn. Die Hervorhebung des Themas zwingt zu einer meist polarisierenden Positionierung, das ist eine Grunddynamik von Protest. Das kann man nicht einfach damit handwedeln, dass die eine Positionierung halt böse ist. Es ändert nichts an der Richtigkeit, dass der white backlash eine bewusste und abzulehnende Entscheidung ist.

Die Verteidigung der Great Society in Kapitel 15 ist insgesamt durchaus zutreffend. Die Kritikpunkte über seine Mängel, die von Zeitz zwar angerissen, aber nicht sonderlich ausführlich besprochen werden, sind demgegenüber ja unbenommen. Ich hätte gerne eine ausführlichere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grundlagen gehabt. Zeitz arbeitet schön die Hilfen bei der Reduzierung absoluter Armut oder dem Abbau der Segregation heraus (die eben nicht von Little Rock oder Brown v Board of Education beseitigt wurde, sondern erst durch starke nationale Gesetzgebung und Investition von Ressourcen), streift aber die liberalen Prämissen vom Wachstumsmodell eher, als dass er sie ausführlich untersucht. Was Seitz bei der Desegregation der staatliche Institutionen kurios unerwähnt lässt, ist die Flucht in private Institutionen, deren staatliche Förderungen und die Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch die republikanischen Regierungen als Folge davon. Das ist ein so elementarer Teil des Aufbaus der heutigen USA.

Zu Kapitel 16 (Polizeigewalt) habe ich wenig hinzuzufügen. Die amerikanische Polizei ist eine völlig verrottete Institution, und Hinton ging mit ihr geradezu noch freundlich um. Die Konzentration auf die Militarisierung und vor allem die Fallstudie zum Tränengas war sehr interessant, ging aber auf Kosten anderer Aspekte, etwa der Zusammensetzung und Mentalität der Polizist*innen. Hier wäre ein klarerer Fokus besser gewesen. Kapitel 17 (Aufstände) lässt das das Offensichtliche – dass die Tea Party und der Unabhängigkeitskrieg sowie der Bürgerkrieg besonders prägnante Beispiele sind – gleich weg, was angesichts des Fokus‘ auf rechtsextremen Umtrieben nachvollziehbar ist. Erstere hätten zwar mehr mit den Mythen zu tun (siehe Gesamtfazit), aber auf diese Art bleibt das Essay konzise und enthält mit der frühen Internet-Vernetzung für mich auch neue Aspekte. Ein Gedanke zum Radikalisierungsprozess: Wir haben das in der BRD an der RAF glaube ich gut sehen können: als die linken Proteste der 1967/1968 an Fahrt verloren und die meisten Leute sich abwandten, entstand überhaupt erst der harte Kern des Linksterrorismus. Das scheint mir ein allgemeines Muster zu sein.

Kapitel 18 (Feminismus) leidet in meinen Augen unter dem Aktivismus der Autorin. Petrzela verwendet viel Aufmerksamkeit darauf sich zu wundern, dass Konservative nicht verstehen, dass Progressive ja durchaus die Familie stützen, sieht aber den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Problem ist der Begriff. Sie versteht (wie Progressive generell) unter Familie etwas völlig anderes als Konservative. Diese fassen den Begriff enger. Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Ehen, offene Beziehungsformate, ganz egal, wie viel partnerschaftliche Liebe und Kinderfürsorge sie enthalten, entsprechen diesem Bild nicht. Letztlich bleibt der Essay damit trotz der akkuraten Darstellung feministischer Anliegen vor allem moralisierende Abschweifungen, die zwar für einen progressiven Stammtisch sicher unterhaltsam sind, aber unfreiwillig zeigen, warum beide Seiten hier nicht miteinander reden können.

Ich stimme den Schlussfolgerungen von Kapitel 19 (Reagan) völlig zu, liege aber mit Zelizers Framing über Kreuz. Dieser kümmert sich praktisch nicht um die Konsistenz seiner Argumente, sondern versucht nur, an allen Fronten die Reagan-Ära herabzuwürdigen. So ist es bei progressiven Niederlagen klar, dass riesige Revolutionen nicht möglich sind und weise Selbstbscheidung Zeichen der staatsmännischen Qualität, bei Reagan aber das genaue Gegenteil. Auch ist eine Rosinenpickerei bei Wahlergebnissen und Beliebtheitsumfragen zu beobachten, die nur eine vorher festgelegte Schlussfolgerung bestätigen sollen. Natürlich hat Zelizer Recht damit, dass der Reagan-Mythos erst nachträglich aufgebaut wurde (die Republicans waren während seiner Amtszeit nicht überragend glücklich mit ihm), aber dass es den Democrats erst 1992 gelang, mit Biegen und Brechen und einem deutlichen Schritt in die wirtschaftskonservative Richtung wieder das Präsidentenamt zu erringen und bis einschließlich Hillary Clintons Kandidatur 2016 nicht zentral davon abwichen eine Folge der „Reagan-Revolution“, die zwar nicht dem Mann allein, aber durchaus dem politischen Moment zuzuschreiben ist und deren konstante Leugnung in Zelizers Argumentation mehr vernebelt als erhellt.

Das 20. Kapitel (voter fraud) ist inhaltlich grundsätzlich ersteinmal nicht zu beanstanden (wenn man einmal von der Frage absieht, inwieweit man Bushs Wahl 2000 als Fälschung betrachten möchte; ich halte da eher wenig davon). Vielmehr zeigt sich hier einmal her, dass die historische Dimension außen vor bleibt: die massiven Wahlfälschungen im 19. Jahrhundert, wo auch der klassische voter fraud absoluter Standard war, werden kurioserweise gar nicht thematisiert. Sie sind, fairerweise gesagt, auch in keiner direkten Traditionslinie, aber ihre Auslassung zeigt eineproblematische Tendenz zur Rosinenpickerei des ganzen Werks: wenn die massiven Fälschungen im 19. Jahrhundert nicht von den großstädtischen Machines, sondern von den Rassisten der Südstaaten durchgeführt worden wären – sie hätten sicher prominente Erwähnung gefunden.

Ich habe eingangs den Vergleich mit Zinns Buch gewählt und davon gesprochen, dass das Werk eher ein aktivistisches als ein historisches ist. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Wer Munition für den politischen Meinungskampf sucht, wird diese hier finden. Darin haben Werke wie dieses durchaus eine Daseinsberechtigung: Mythenbildung (für die eigene Seite) ist ebenso wichtig wie Mythendekonstruktion (der gegnerischen). Aber ernsthafte historische Arbeit ist das hier nicht, und ich bin kein Aktivist. Daher war das Buch für mich eher eine frustrierende Erfahrung. Mitgliedern des DNC dürfte es aber sicher helfen.

Shlomo Venecia – Inside the Gas Chambers. Eight Months in the Sonderkommando of Auschwitz (Hörbuch)

Der Holocaust gehört zu den historischen Ereignissen, die man wohl als die am weitesten bekannte und theoretisch best erforschte betrachten dürfte. Trotzdem ist das Wissen über den industriellen Massenmord an den Juden Europas erstaunlich dünn und oberflächlich, was selbst eigentlich versierten Menschen immer wieder klar wird, wenn sie sich den Details des grausigen Geschehens stellen. Angesichts der steigenden Zahlen von Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung ist gerade diese Auseinandersetzung immer wieder geboten, und aus historischer Perspektive schon alleine deswegen interessant, weil das Geschehen des singulären Ereignisses meist nur abstrakt bekannt ist. Sechs Millionen tote Juden – eine, wie das Vorwort feststellt, eher konservative Schätzung – sind eine Statistik. Weder die Schicksale dahinter noch die Abläufe des Massenmords werden dahinter sichtbar. Ein Mosaikstein dieser Abläufe ist die Arbeit der Sonderkommandos, der jüdischen Arbeiter, die die Drecksarbeit erledigten. Shlomo Venecia, italienisch-stämmiger Jude aus Griechenland, ist einer der wenigen Überlebenden der Sonderkommandos. Dieses Buch erzählt seine Geschichte.

Venecia beginnt seine Erzählung in Kapitel 1, „Life before the Holocaust„, in dem er sein Leben in Saloniki und Athen vor 1943 bespricht. Der 1923 geborene Shlomo war nach dem frühen Tod seines Vaters 1935, eines stolzen Faschisten, mitverantwortlich für die Ernährung seiner in bitterer Armut lebenden Familie, eine Erfahrung, die ihn prägte („poor people have stronger characters„). Saloniki war ein Zentrum jüdischen Lebens; das jüdische Viertel war zu 90% jüdisch. Die meisten Juden dort waren bettelarm, aber es gab eine schmale, sehr wohlhabende Oberschicht (mit der Shlomo nichts zu tun hatte). Die italienische Staatsbürgerschaft beschützte die Familie Venecia bis zur Kapitulation Italiens 1943. Einer der letzten Akte der den Juden gewogenen italienischen Besatzer war es, ihnen ein Evakuierungsschiff bereitzustellen, das sie entweder nach Athen oder Sizilien bringen sollte. Die jüdische Oberschicht entschied im Alleingang für Athen, um ihre Unternehmen und ihren Wohlstand zu schützen – eine tödliche Entscheidung.

Zwar entging Shlomo einigen Deportationen, doch schließlich erwischten die Nazis ihn, indem sie den Juden eine Falle stellten: da sie sich täglich melden mussten, nutzten sie eine solche Meldung, um alle sich meldenden Juden gefangenzusetzen. Sie wurden dann in einen Zug gesetzt. Das Rote Kreuz versorgte die zusammengepferchten Menschen mit einigen Hilfspaketen und Decken (die Nazis erzwangen die Abgabe einiger dieser Pakete), was die Frage aufwirft, inwiefern das Rote Kreuz letztlich zu unfreiwilligen Helfenden des Holocaust wurde. Die Menschen konnten die elftägige Fahrt nur dank dieser Pakete überleben, und selbst dann verhungerten, verdurstete und erfroren etliche in den Viehwaggons. Shlomo und seine Cousins wollten aus dem Zug flüchten, wurden jedoch von den anderen Gefangenen zurückgehalten, die befürchteten, bei Ankunft als Repressalie erschossen zu werden. Auch hier werden bereits moralische Grautöne sichtbar, die sich im weiteren Verlauf verdichten werden.

Kapitel 2, „The first month in Auschwitz-Birkenau„, beginnt mit der Ankunft an der „Rampe“ in Auschwitz. Die ausgeklügelte Taktik der Nazis wird erneut offenbar: die ankommenden Menschen werden durch grelle Scheinwerfer, künstliche Hektik und infernalische Lärmkulisse desorientiert, so dass an Flucht oder Widerstand nicht zu denken ist. Venecia kann sich deswegen auch nicht an die genauen Wege erinnern, die sie nahmen, als sie nach Birkenau geschickt wurden, wo eine oberflächliche Selektion stattfand. Am nächsten Tag erfuhr er, dass seine Mutter und Schwester bereits vergast worden waren – nicht, dass er es glauben würde. Generell ist die Ungläubigkeit ein Leitmotiv der Erzählungen Überlebender: warum sollten die Nazis diesen Aufwand betreiben, nur um sie umzubringen? Es machte einfach keinen Sinn.

In der Quarantänebaracke hungerten die Gefangenen und lebten in Langeweile, den Erniedrigungen und Prügeln der Wachen und Kapos ausgesetzt, die sich aus nicht-jüdischen Gefangenen rekrutierten und ihre Macht über Leben und Tod genossen. Venecia nutzte die erste Chance, eine Arbeit im Lager zu bekommen (und dadurch bessere Verpflegung). Was er nicht wusste und wissen konnte war, dass er für das Sonderkommando rekrutiert wurde.

In Kapitel 3, „Sonderkommando: Initiation„, wird Venecia in die Arbeit mit den Sonderkommandos eingeführt. Zu Beginn muss er nur Unkraut an den Krematorien jäten, doch schon bald wird ihm bewusst, was hier passiert. Durch die Überlastung der Anlagen werden Gefangene auch in einer Behelfsbaracke („Bunker“) vergast, und das Sonderkommando muss die Toten durch den Schlamm in einen Graben schleppen, wo sie aufeinandergeschichtet und verbrannt werden. Die widerlichen Details dieser Arbeit und der Sadismus der SS-Wachen machen das Geschäft noch schlimmer, als es die Tätigkeit ohnehin ist. Venecia hat insofern Glück, als dass er den vergleichsweise leichten Job hat, den Leichen die Haare abzuschneiden und sie in Säcke zu verpacken. Ein anderer Gefangener muss die Goldzähne herausbrechen, was angesichts der schnell einsetzenden Leichenstarre erfordert, dass er die Kiefer aufstemmt.

Die Leichenstarre machte auch das Herausholen der Leichen aus den Gaskammern extrem schwierig. Die Kammern waren ohnehin voll von Blut, Exkrementen, Erbrochenem und anderen Flüssigkeiten, so dass die ohne Werkzeug arbeitenden Männer es schwer hatten, die hoffnungslos miteinander verwickelten Leichen auseinander und in den Aufzug zum Krematorium zu ziehen. Danach mussten sie die Kammer säubern und neu weißeln, damit die nächsten Ankömmlinge nichts bemerkten.

Eine gewisse Routine stellte sich ein, wie bereits der Titel von Kapitel 4, „Sonderkommando: the work continues„, lakonisch feststellt. Die Männer schalteten ihren Verstand fast vollkommen ab; immer wieder nutzt Venecia die Metapher von Robotern, und stellten nicht die Frage nach der Moral ihres Tuns. Ein Zug Neuankömmlinge musste innerhalb von 72 Stunden komplett beseitigt sein. Die grausigen Details der Arbeit – so mussten Knochen wie das Hüftgelenk, die nicht verbrannten, aus der Asche geholt und zermahlen werden – werden zu einem Alltagsrauschen, und es sagt viel über das Morden, dass permanent Horrorszenen aus diesem bereits unvorstellbaren Horror hervorstechen.

Besonders nennenswert ist der Kommandant aller Krematorien, Otto Moll, der besonders sadistisch ist und vor dem selbst die SS-Wachen in Furcht leben. Wo immer er auftaucht, arbeiten die Männer noch mehr um ihr Leben als ohnehin (Moll wurde glücklicherweise 1945 zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet, anders als andere namentlich identifizierte SS-Wächter). Die Opfer von Mengeles Experimenten zu beseitigen hinterließ ebenfalls über den Alltagshorror hinausreichende Eindrücke. Einmal überlebte ein zwei Monate altes Baby die Gaskammer; ein SS-Soldat erschoss es ohne mit der Wimper zu zucken. Überhaupt ist der Sadismus der SS-Leute ein konstantes Thema. Sie versuchten absichtlich, die letzten Stunden der Todgeweihten so schrecklich wie möglich zu machen, indem sie etwa in der Gaskammer das Licht willkürlich an- und ausschalteten.

Ein einschneidendes Ereignis findet in Kapitel 5, „The revolt of the Sonderkomamndo and the dismantling of the Crematoria„, seine Berücksichtigung. Die Revolte vom Oktober war mit dem polnischen Widerstand koordiniert, dessen Ziele aber konträr zu denen der Häftlinge liefen. Die Polen wollten möglichst viel Ressourcen aus dem Lager, um Waffen zu kaufen, und möglichst lange zu warten, um die Hilfe der Roten Armee zu bekommen, während die Häftlinge so früh wie möglich losschlagen wollten. Die Verzögerungen zogen sich über zehn Monate, und dass es den Sonderkommandos gelang, trotz der üblicherweise im Drei-Monats-Takt stattfindenden Ermordungen des Kommandos und der Ersetzung durch neue Häftlinge die Logistik und Planung intakt zu halten, ist ein kleines Wunder.

Dies funktionierte über seltene Kontakte ins Frauenlager, über die Pulver zu den Krematorien geschmuggelt wurde (die Frauen stellten Munition her). Die (jüdischen) Kapos des Sonderkommandos schafften es, einen Kern von Leuten intakt zu halten, der Planung und Durchführung übernahm. Das Ziel war theoretisch die Flucht, aber vor allem ging es darum, irgendetwas zu tun. Praktisch niemand rechnete mit einem ernsthaften Erfolg (die Parallele zum 20. Juli ist in meinen Augen offenkundig). Der Aufstand scheiterte natürlich. Überzeugt, verraten worden zu sein, begannen die Männer einem Krematorium früher als vereinbart. Ein weiteres schloss sich an. Als Venecias Krematorium vom Aufstand erfuhr, war dieser bereits weitgehend unterdrückt, so dass es sich nie beteiligte. Das rettete dem Sonderkommando das Leben. Die SS tötete die Männer, die das voll erwarteten, nicht, sondern behielt sie für die die restliche Arbeit.

Im Folgenden wurde Venecia hauptsächlich dafür eingesetzt, die Krematorien Stück für Stück auseinanderzunehmen. Die Arbeit war lang und gründlich und gehörte zu dem großen Versuch der Nazis, ihre Verbrechen zu verheimlichen. Danach begann der Todesmarsch: in langen Reihen wurden die überlebenden Häftlinge durch den Winter gejagt. Venecia konnte diesem Marsch überhaupt nur beitreten, weil es ihm gelang, aus dem Sonderkommando zu flüchten; die SS hatte vorgehabt, es zu liquidieren. Aber dafür waren die Männer inzwischen zu erfahren. Die Strapazen des Marsches ohne Unterkunft und Nahrung waren furchtbar, gehören aber mit den Erschießungen von schwachen Zurückgebliebenen zu den bekannteren Episoden des Holocaust. Vielleicht verwendet Venecia auch deswegen weniger Zeit darauf.

Gleiches gilt für Kapitel 6, „Mauthausen, Melk, and Ebensee„, das die letzten drei Lager beschreibt, in denen er dann ankommt. In Mauthausen wurde er zu Zwangsarbeit herangezogen. Die Geschichte ist voller Diebstähle unter den Gefangenen, dominiert stets von dem Versuch, irgendwie an etwas zu essen zu kommen. Am Ende gelang es den Gefangenen in Ebensee, ihre Ermordung durch die SS zu verhindern – vor allem, weil zu wenig Wachen da waren. Zu den letzten feigen Episoden dieser Bande gehört, dass sie sich auf die letzten Tage von nichts ahnenden Wehrmachtssoldaten ablösen ließen, die dann den Zorn der Amerikaner abbekommen würden.

Die Befreiung erlebten Venecia und seine verbliebenen Freunde und Familienmitglieder am Ende ihrer Kräfte. Sie waren immer noch in einem fast tiergleichen Zustand, plünderten die Amerikaner und die umliegenden Dörfer und versuchten, langsam wieder zu Kräften zu kommen. Über die Hälfte der Häftlinge starb in den Wochen nach der Befreiung, und Venecia selbst erkrankte schwer an Tuberkulose. Aus Furcht vor einem erneuten Holocaust nahm er nicht seinen alten Namen an, sondern ging als christlicher Italiener zurück. Es gelang ihm erst ein Jahrzehnt später, Kontakt zu seiner überlebenden Schwester aufzunehmen; kurz zuvor hatte er seinen Bruder bei dessen Emigration letztmalig getroffen. Erst in den 1990er Jahren begann Venecia über seine Erlebnisse zu sprechen und kehrte erstmals nach Auschwitz zurück. Motiviert wurde er vor allem von der Rückkehr des Rechtsextremismus (der kein allein deutsches Phänomen war). Er beschließt seine Schilderung mit der nüchternen Feststellung, dass er kein Glück in seinem Leben kennt. Stets kehren die Erinnerungen an Auschwitz zurück und belasten ihn.

Das letzte Kapitel, „The Shoa, Auschwitz and the Sonderkommando„, entstammt nicht mehr Venecias Hand, sondern kommt als historischer Kommentar. Es legt quasi als Grundlage den Verlauf der Shoa dar, beginnend bei den Judenboykotten 1933 (über die die Behauptung postuliert wird, es habe kaum negative Reaktionen in In- und Ausland gegeben, wo genau diese dazu führten, dass die Nazis ihre Taktik änderten und solche Maßnahmen bis zur Reichspogromnacht 1938 nicht wiederholten). Die kommenden Jahre waren von rechtlicher Diskriminierung gekennzeichnet, die ihren Gipfel in den „Rassegesetzen“ 1935 fand. Das Ziel war, die Juden zur Auswanderung zu treiben (was, worauf das Kapitel aber nicht eingeht, durch die gleichzeitige Ausplünderung natürlich konterkariert wurde).

Die Reichspogromnacht stellte eine erneute Verschärfung dar. Gleichzeitig begann eine Einweisung von Juden in Konzentrationslager, die zu diesem Zeitpunkt massiv ausgebaut wurden und ihren Charakter änderten (vorher dienten sie der Inhaftierung politischer Gegner). Dies betraf aber nur einzelne Gruppen, eine koordinierte Einweisung erfolgte erst im Krieg. Dieser markiert den Beginn der Massentötungen, vor allem ab 1941, zuerst in Erschießungskommandos und mit Gaswägen, dann zunehmend in spezialisierten Lagern. Die ersten Experimente fanden auch für die improvisierten Gaskammern (denen vor allem sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen) mit CO2 statt, doch das für Definizierung benutzte Zyklon B löste dieses bald ab.

Das System der Konzentrationslager erfuhr eine zweifache Ergänzung. Einerseits wurden zahlreiche Außenlager errichtet, vor allem in Auschwitz, in denen körperlich fähige Gefangene zu Tode gearbeitet wurden, und andererseits die Vernichtungslager, die im Falle Birkenaus in die reguläre Lagerstruktur integriert waren und im Falle von Chelmo, Majdanek, Treblinka und Belczek letztlich nur aus dem Ende der Bahnstrecke und den Gaskammern mit Krematorium bestanden. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit war 1944 erreicht und fand seinen grausigen Ausdruck in der Vernichtung von über 400.000 ungarischen Juden binnen weniger Wochen. Danach wurden die Lager und viele der Beweise vernichtet, als die Rote Armee näherrückte. Die Todesmärsche begannen. Auch die Arbeit der Sonderkommandos wird in dem Kapitel noch einmal erklärt.

Die Lektüre von Shlomo Venecias Erinnerungen ist, wie man sich vermutlich denken kann, nicht gerade leichte Kost. Es bietet Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hatte – und Venecia beantwortet diese auf eine ausführliche Art, die mich an Vladek Spiegelman erinnert – selbst die Diktion, die wenigstens in der englischen Übersetzung durchkommt, erinnert an ihn, obwohl die beiden aus völlig anderen Kulturkreisen kommen (polnische Juden vs. Sephardim), etwa im ständigen Einschub des „anyway„. Wie Vladek Spiegelmanns Erzählung bleibt auch Shlomo Venecia eng an seinem eigenen Erleben; er weigert sich kategorisch, über Dinge zu sprechen, die er nicht aus eigener Anschauungn erlebt hat. Der Kosmos des Sonderkommandos war winzig; acht Monate im Krematorium und den Baracken darumherum. Trotzdem enthielten sie unvorstellbaren Horror, und dieser spiegelt sich in Venecias Antworten auf die Fragen, die ihm in dem Interviewformat gestellt werden. Ich fand mich immer wieder zustimmend nickend, wenn es um diese Fragen ging; ich hätte an denselben Stellen dieselben gestellt.

Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Logistik der Gaskammern. Die Bilder, wie Menschen in den Keller steigen sind hinreichend bekannt, aber wie lange dieser Prozess dauerte und wie die SS die Kontrolle über die Todgeweihten behielt eher nicht. So ließ man Familien beieinander, nicht aus Menschlichkeit – die restlichen Prozesse und der ständige Sadismus bezeugen dies nachhaltig -, sondern weil das verhinderte, dass Flucht- oder Widerstandsgedanken entwickelt wurden. Das Hinuntersteigen, Entkleiden und Betreten der Gaskammer dauerte Stunden. Von dem Zeitpunkt, als die ersten Opfer die Kammer betraten, bis zum Verschließen derselben vergingen oft 60-90 Minuten – qualvolle Zeit, die durch die Prügel der SS und ihre psychologische Folter (die die Männer hauptsächlich aus Spaß durchführten) noch erhöht wurde. Da die Kammern so voll wie möglich gemacht wurden, wurden starke Männer zuletzt in die Kammern getrieben und so stark geprügelt, dass sie mit aller Macht hineindrängten – wodurch Kinder und Schwache bereits vor dem Gaseinwurf erquetscht und zu Tode getrampelt wurden.

Allzu stark hält sich auch noch der Irrglaube, dass der  Tod in den Kammern relativ schnell vonstatten ging. Wie Venecia trocken feststellt, sind 10-12 Minuten des nach Luft Schnappens eine lange Zeit. Dazu die Panik, die Schreie, die Enge, die Dunkelheit – das Martyrium ist beinahe unvorstellbar, umso mehr, als dass es keine überlebenden Augenzeugen gibt. Die SS-Männer distanzierten sich in ihrer Feigheit maximal von diesem mörderischen Tun: die Klappe über dem Gaseinwurf wurde vom Sonderkommando geöffnet und geschlossen; nur den Einwurf selbst betätigte ein SS-Mann. Auch beim Herausholen der Leichen und Reinigen der Kammern ließ sich die SS kaum blicken. Die Sonderkommandos arbeiteten recht eigenständig, aber unter ständigem Performancedruck: schafften sie eine „Ladung“ nicht innerhalb von 72 Stunden, liefen sie in Gefahr, selbst Teil der nächsten zu werden.

Da ist natürlich auch die Frage, ob die Sonderkommandos je eigene Verwandte vergasen mussten. Auch dieser Horror blieb ihnen nicht erspart. Venecia erzählt davon, wie sein Onkel Teil einer „Selektion“ wurde. Er traf ihn im Ausziehraum der Gaskammer, ein ausgemergeltes Skelett, dem Tode nahe. Die einzig menschlichen Gesten, die ihm blieben, waren ihm einen letzten Bissen Essen zu geben und ihn über die Qual des bevorstehenden Todes zu belügen. Sie umarmten sich kurz, bevor sich die Tür der Gaskammer hinter Venecias Onkel schloss.

Venecia beantwortet auch ausführlich die Frage, inwieweit die Gefangenen ihr Schicksal ahnten. Üblicherweise tat die Desorientierung der Ankunftsprozedur ihren Dienst und sorgte dafür, dass die in Zügen ankommenden Menschen nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Eine andere Sache war das bereits mit den Deportierten aus den Ghettos. Sie, die schon als halbe Leichen ankamen, hatten jede Illusion über den Charakter der Deutschen und ihr Schicksal verloren, ahnten durchaus, was ihnen bevorstand, waren aber psychisch und körperlich so am Ende, dass sie meist willenlos in den Tod stolperten. Am deutlichsten stand Insassen des Lagers selbst ihr Schicksal vor Augen. Wer in Birkenau inhaftiert war, wusste um die Kammern. Meist vergasten die Nazis Häftlinge, die krank waren und dadurch bereits so geschwächt, dass sie keine Chance auf Widerstand hatten (etwa Venecias Onkel), oder sie deportierten die Häftlinge in ein anderes Lager wie Majdanek, um den Effekt der Desorientierung wieder auszunutzen.

Gab es Solidarität unter den Gefangenen? Für Venecia ist die Frage letztlich ein Kategorienfehler. Solidarität gibt es, wenn man etwas zu essen hat. Wer hungert, lebt in vollständigem Egoismus. Die Beschreibung des nagenden Hungergefühls, das alles andere überschattet, ist mehr als eindrücklich. Die blanke Not verhinderte jede Solidarisierung, machte die Vorstellung eines Austauschs komplett undenkbar. Jede Minute des Tages war auf das eigene, unmittelbare Überleben gerichtet. Dass es den Kapos des Sonderkommandos unter diesen Bedingungen überhaupt gelang, über Monate einen so komplexen Aufstand zu koordinieren, ist absolut beeindruckend.

Unterhielten sich die Häftlinge untereinander? Praktisch gar nicht. Auch diese Erzählung Venecias deckt sich mit denen anderer Überlebender. Die Reduzierung der Menschen auf das pure Überleben, die permanente Erschöpfung, der nagende Hunger machten jedes Gespräch undenkbar. Sie unterhielten sich nicht einmal über ihre unmittelbare Arbeit und ihren Allltag. Es ist ein vollkommenes Auslöschen der Identität; die Metapher der „Roboter“, die Venecia immer verwendet, hat auch hier ihren Ursprung. Auch über die Erlebnisse in den Lagern sprachen die Gefangenen kaum.

Die Haltung zum Reden über Auschwitz in den Jahren nach 1990 teilt Venecia ebenfalls mit anderen Überlebenden. Erste Versuche, nach dem Krieg über das Erlebte zu sprechen, scheiterten. Nicht an dem Unwillen der Überlebenden zu reden, sondern am Unwillen ihrer Umwelt, ihnen zuzuhören. Ihnen wurde vorgeworfen zu lügen, man hielt sie für verrückt, zweifelte ihre Worte an. Was mich so überrascht ist, dass das Verschließen gegenüber dem Thema, das Totschweigen, dann so lange hielt. Denn spätestens ab den Auschwitz-Prozessen oder doch wenigstens der Ausstrahlung von „Holocaust“ 1979 drehte sich der Wind diesbezüglich ja. Aber die Augenzeug*innenberichte nahmen tatsächlich erst in den 1990er Jahren an Fahrt auf. Wie schrecklich musste es gewesen sein, nicht nur diesen Horror zu erleben sondern dann auch noch das Erlebte abgesprochen zu bekommen, oft genug von jenen, die Denunziant*innen oder aktive Täter*innen gewesen waren.

Ich schreibe in der Rezension immer wieder „die Nazis“, aber es ist bemerkenswert, dass Venecia selbst in seinem Bericht immer von „die Deutschen“ spricht. Man kann es ihm nicht verübeln. Die einzigen Deutschen, denen er in diesen Tagen begegnete, waren Wehrmachts- und SS-Angehörige, und sie alle waren ausnahmslos willige Partizipierende am Holocaust, in den meisten Fällen mit sadistischem Vergnügen. Dieser Sadismus ist etwas, der ebenfalls eine Hervorherbung verdient. Denn die gleiche Fehleinschätzung von der „deutschen Effizienz“, einer angeblichen Kühle und technokratischen Distanziertheit, der die Opfer des Holocaust aufsaßen, teilen wir auch heute noch. Das Bild, das Venecia – und zahlreiche andere Überlebende – von den Tätern zeichnen ist kleiner, gewöhnlicher, banaler. Es sind trinkende, sadistische Gestalten. Keine Herrenrasse weit und breit.

Was das letzte Kapitel angeht sind die historischen Überblicksinformationen durchaus nützlich, doppeln sich aber stark mit den Erzählungen Venecias. Ich sehe, warum sie integriert wurden – Venecias intellektuelle Integrität, nur über seinen eigenen Erfahrungsbereich zu sprechen, lässt viele Details aus – aber gleichzeitig wäre hier eine bessere Anbindung an das Buch wünschenswert gewesen. Ich frage mich auch, ob das Kapitel vorzuschalten nicht besser gewesen wäre.

Das aber nimmt nichts von der eindrücklichen Qualität des Werkes. Venecias Schilderung ist von einer brutalen Intensität. Die Geschichten verfolgen mich teilweise immer noch, und die Details des Holocaust auf diese Art erzählt zu bekommen hilft einmal mehr, sich das Ausmaß und die ganze Brutalität, die furchtbare Entmenschlichung, vor Augen zu rufen. Der blanke Horror dieses Ereignisses geht allzu oft in einer ritualisierten, bereinigten Variante unter, weswegen gerade solcherlei Schilderungen so unglaublich notwendig sind. Ich spreche daher eine unbedingte Leseempfehlung aus.

Esther Hamori – God’s Monsters: Vengeful Spirits, Deadly Angels, Hybrid Creatures, and Divine Hitmen of the Bible (Hörbuch)

Als 2014 Darron Aronofsky seine Verfilmung des biblischen Noah-Stoffs herausbrachte, kritisierten diverse Leute, dass es eine Fantasyversion ohne allzu viel Bezug zum Bibelstoff sei. Und während man in dem Film durchaus Elemente finden konnte, die in der Bibel nicht zu lesen sind, war er doch näher am alttestamentarischen Stoff als die Kinderbibel-Versionen, die im öffentlichen Bewusstsein unterwegs sind. Diese Unkenntnis des eigenen heiligen Textes, der nur in stark verwässerten und modern interpretierten Fassungen bekannt ist (wenn überhaupt; Bibelkenntnis ist allgemein massiv zurückgegangen, aber das ist eine andere Geschichte), ist ein Phänomen sowohl des Christentum als auch, wenngleich unter gänzlich anderen und weniger wohwollenden interpretatorischen Vorzeichen, des Islam. Umso interessanter ist es immer wieder, den Originaltext anzusehen und dort den entsprechenden Elementen auf die Spur zu gehen. Esther Hamori tut das im vorliegenden Band mit den zahlreichen Monstern der Bibel – die von späteren Generationen bis zu den heutigen Putten verharmlost wurden.

Den Beginn macht Hamori in der Einführung mit der allgemeinen Feststellung, dass der biblische Himmel ein „Monster Heaven“ sei, bewohnt von schrecklichen Kreaturen, die einer gefährlich-strafenden Gottheit dienen. In unserer heutigen Bibelrezeption spielen sie keine überragend große Rolle. Sie wendet sich in Abschnitt 1, „God’s Entourage„, denjenigen dieser Monster zu, die von Gott direkt befehligt werden. Sie sind, anders als man vermuten könnte, der größte Teil dieser Monstrositäten. Es ist beileibe kein „Gott vs. Monster“, so viel ist sicher.

Den Anfang machen in Kapitel 1, „Seraphim„, die geflügelten Schlangen, die Gott als Wächter und Strafer einsetzt. Einer ihrer prominentesten Auftritte stammt aus „Exodus“: die durch die Wüste wandernden Israeliten begingen einen in den Augen Gottes furchtbaren Verstoß, indem sie über ihr hartes Los klagten (immerhin 40 Jahre Wanderung durch eine Wüste). Zur Strafe sandte Gott eine ganze Heerschar von Seraphim, die begannen, die Israeliten zu plagen und ihnen ungeheure Schmerzen zu bereiten. Auch an anderen Stellen der Bibel tauchen die Seraphim immer wieder als Strafer auf. Gleichzeitig dienen sie aber auch als Wächter von Gottes besonderen Orten und Schätzen und bekämpfen all jene, die es wagen, zu ihnen vorzudringen.

Eine Spur stärker sind die Kapitel 2, „Cherubim„, beschriebenen Diener Gottes. Diese vage menschenähnlichen Wesen sind geflügelt, sollten aber nicht mit den in Kapitel 4 besprochenen Engeln verwechselt werden (noch mit den dicken Kindern, die bisweilen heutzutage als Cherub bezeichnet werden). Ihre Flügel, so versichert die Bibel uns, entspringen bei einer Spannweite von 1,80m direkt in der Mitte des Rückens. Die Cherubim erfüllen vor allem eine Wächteraufgabe. So finden sie sich auf der Bundeslade eingraviert. Dieses Artefakt ist wahrhaft tödlich: anders als in Indiana Jones erklärt trägt das israelitische Heer es nicht vor sich her, denn die Schadenswirkung der Bundeslade unterschiedet nicht zwischen Freund und Feind. Die Lade ist vielmehr der Wohnsitz Gottes persönlich. Normalerweise ist der in einem Tempel (und wird dies nach dem Bau desselben in Jerusalem auch), der ebenfalls von Cherubim geschützt wird. Wozu braucht Gott den Schutz der Cherubim? Gar nicht.

Diese Wächter beschützen den Übergang zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre. Denn Gottes Macht ist so groß, dass sie unkontrolliert in die Menschenwelt entlassen Freund wie Feind vernichtet. Die Cherubim schützen also die Welt der Menschen vor dem Einfluss des Göttlichen. Das sollte man aber nicht als Anlass nehmen, sie als Schutz vor Gott zu betrachten: sie dienen dem Allmächtigen, und wenn er in die Welt der Menschen kommen WILL (und diese nicht nur zufällig die falschen Riten vor der Lade praktizieren), dann gehen die Cherubim nicht nur zur Seite, sondern helfen tatkräftig mit, Tod und Verderben zu säen.

Tod und Verderben begegnen uns auch in Kapitel 3, „The Adversary„. Dabei handelt es sich nicht um einen gehörnten Teufel; das Alte Testament lässt wenig Zweifel daran, dass der Gegenspieler (satan) ein direkter Diener Gottes ist. Er ist vielmehr ein Ankläger, der, gegebenenfalls auch äußerst ungerecht, die Menschen herausfordert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Hiob. Der arme Kerl ist komplett unschuldig, was den Gegenspieler genausowenig anfiecht wie Gott. Ersterer erhält die Genehmigung, Hiobs Leben vollständig zu zerstören, inklusive großer Kollateralschäden. Am Ende ist der Beweis erbracht, dass Hiob aufrecht bleibt, wenngleich er dafür von Gott eine Lektion darin erhält, wer Ober und wer Unter ist (die uns in Kapitel 7 wieder begegnet) und immerhin neue Frau und Kinder, nachdem der Gegenspieler seine alten ermordet hat.

Kapitel 4, „The Destroyer and other Angels„, bringt dann endlich die bekanntesten Diener Gottes, die Engel, auf den Plan. Wer sich jemals gewundert hat, warum deren erste Worte an die Hirten in der Weihnachtsgeschichte „Fürchtet euch nicht“ gewesen sind, der bekommt hier die Erklärung: die Engel sind zwar gelegentlich Überbringer von Nachrichten, wesentlich häufiger aber unglaubliche Zerstörer (wie deR Beiname „der Zerstörer“ für Gabriel, wenn dieser nicht gerade die Geburt des Heilands verkündet, beweist). Von der Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen zum Feuerregen auf ein Gott verärgerndes Jerusalem ist das Repertoire dieser Wesen beeindruckend groß. Zudem dienen sie als Heerführer der „himmlischen Heere“, quasi als Gottes Generäle.

Auch Dämonen spielen in der Bibel eine wichtige Rolle, wie Kapitel 5, „Demons in God’s Ranks„, nachdrücklich darstellt. Die Dämonen sind keineswegs Höllenbewohner, mit denen Gott im Kampf liegt; nein, sie sind Diener des Allmächtigen. Anders als die Engel, Cherubim oder Seraphim (selbst der Gegenspieler) haben sie aber keinerlei Option außer Schaden und Zerstörung über die Menschen zu bringen. Alle Dämonen sind bösartig (wie der Begriff „böse“ keineswegs die Gegendämone Gottes ist; die Bibel weist ihm und seinen Taten oft das Label „böse“ zu) und bringen üblicherweise Krankheit und Tod mit sich. Einige Dämonen sind Re-Interpretationen anderer Gottheiten; so finden sich diverse Götter der Region in der Bibel als dämonische Helfer Gottes wieder.

Anders gelagert sind die in Kapitel 6, „Manipulative and Mind-Altering Spirits„, beschriebenen Geister. Auch sie sind üblicherweise nicht besonders freundlich unterwegs und verwirren gerne die Geister der Menschen. Gott mag es, sie dazu einzusetzen, Menschen zu plagen, die sein Missfallen erregt haben (etwa Saul, den Vorgänger Davids), oder um ganze Populationen zu verwirren. Die Geister verbreiten dabei auch bewusst Lügen und falsche Prophezeiungen, die von den echten nicht zu unterscheiden sind. Sie sind sozusagen die Feinschmeckerwerkzeuge in Gottes monströsem Werkzeugkasten.

Der zweite Abschnitt,The Monsters Beneath„, geht auf solcherlei Kreaturen ein, die nicht direkt in Gottes Diensten stehen – oder zu stehen scheinen -, aber trotzdem monströse Eigenschaften haben.

Das berühmteste lernen wir in Kapitel 7, „The Sea Monster„, kennen. Das Seemonster – der Leviathan – ist in manchen Erzählungen ein ewiger Feind Gottes, der von diesem in grauer Vorzeit erschlagen wurde, um zur Apokalpyse wiederaufzuerstehen. Es ist daher der ewig besiegte Feind, der Gottes Ruhm begründet, und gleichzeitig das zu besiegende Monster am Ende der Zeit. Aber das Bild des vielköpfigen Leviathan wird dadurch verkompliziert, dass es an anderer Stelle, prominent besonders in Hiob, als Schöpfung Gottes beschrieben wird, gar als eine Art Haustier, das sich Gott zur Unterhaltung hält; gegenüber Hiob wird es sogar pointiert als Krone der Schöpfung beschrieben, um die Menschheit herabzuwürdigen. So wie der Leviathan viele Köpfe hat, so viele Gesichter hat er auch in der Überlieferung.

Ähnlich unklar sieht es in Kapitel 8, „Shades, Ghosts, And Other Living Dead„, aus, das die Welt der Toten beschreibt. Man sollte annehmen, dass diese einfach in Himmel oder Hölle landen, aber in den älteren Teilen der Bibel ist das nicht der Fall. Vielmehr endet Gottes Interesse an den Menschen mit dem Tod, bei dem die Seelen in die Unterwelt einfahren, wo sie in einem ewigen Vergessen und Dämmerschlaf liegen – sofern sie nicht von irgendwelchen Nekromant*innen geweckt werden, was in der Bibel immer wieder einmal vorkommt, oder sofern ihre Körper nicht als leblose Zombies erweckt werden, die die Lebenden plagen. Erst später beginnen die Seelen interessanter für Gott zu werden und ein konkretes, lobzupreisendes Jenseits sich zu entwickeln.

Als letztes wendet sich Hamori in Kapitel 9, „Giants„, den Riesen zu. Diese tauchen im Alten Testament immer wieder auf; einmal als Gegner Gottes in grauer Vorzeit, genauso wie der Leviathan erlegt, andererseits aber als Feinde des Volkes Israel, die von diesem besiegt werden. Am prominentesten ist hier Goliath, der Philister, der von David mit Hilfe Gottes erschlagen wird. Hamoris These ist, dass hier ein Othering stattfindet: fremden Völkern werden monsterhafte Qualitäten zugeschrieben, was ihre Eroberung umso heldenhafter macht. Diese Tradition findet sich gelegentlich auch in späteren Jahrhunderten; John Smith etwa beschrieb einen Indianerkrieger, den er erschlug, in biblischer Sprache als Riesen (wenngleich die Beschreibung der Indianer als Tiere oder Ungeziefer deutlich zahlreicher ist).

Der letzte Abschnitt, „The God-Monster„, postuliert, dass Gott selbst ebenfalls monströse Qualitäten hat. Er ist sozusagen das größte Monster der Bibel.

Kapitel 10, „The Monster of Monsters, the Wonder of Wonders„, führt diese Argumentation weiter aus. Gott ist, in den Worten des Alten Testaments, „schrecklich und groß“, was in neueren Interpretationen gerne in die Richtung „ehrfurchtgebietend“ interpretiert wird. Hamori aber betont, dass Gott beides sein konnte, ein großer Segen wie auch ein unglaublicher Zerstörer. Dass wir in der Moderne die letzte Dimension aus der Überlieferung gestrichen und, wenn überhaupt, auf die Hölle kapriziert haben, hält sie für eine Fehlinterpretation und für einen Fehler. Denn die Funktion eines Gottes, der auch böse Zerstörungstaten vollbringt, war immer, einen Schuldigen für die Fährnisse des Lebens zu haben, eine Art Blitzableiter. Diese Funktion sehen wir ihn im Alten Testament auch immer ausüben. Sie plädiert deswegen für eine komplexere, ambivalentere Sicht auf Gott, die dem Text gerecht wird und spannender ist als die reingewasche, revisionistische Version von heute.

Ich möchte eine Bemerkung voranschicken: das Buch ist wesentlich ausführlicher als mein kurzer Abriss hier, mit mehr Beispielen und unterlegt mit zahlreichen Quellenbelegen. Ich habe mich hier aus rein organistorischen Gründen bewusst knapp gehalten. Es sei auch direkt betont, dass Hamori sehr viel mit dem Originaltext arbeitet, ohne mit Quellenbelegen zu überwältigen. Die Psalme werden genannt und zitiert, immer wieder geht sie auch auf die verschiedenen Übersetzungen ein, oft erklärt sie das hebräische Wort und seine damalige Bedeutung, die sich oft gar nicht 1:1 übersetzen lässt (etwa wenn die Reiter der Apokalypse auftreten; der feine Unterschied zwischen Pest und Pestilenz etwa geht in modernen Übersetzungen üblicherweise verloren, war den Zeitgenossen aber wichtig).

Sie schafft zudem immer wieder Kontext zu den religiösen Ursprüngen aus anderen Kulturen. Der Leviathan findet sich etwa auch im Kampf des babylonischen Schöpfergottes Marduk mit dem Wassermonster Tiamat, und ich habe die Verwendung anderer Gottheiten im Kontext Gottes dämonischen Gefolges bereits erwähnt. Solche Kontextualisierung ist immer sehr wertvoll und willkommen.

Aber ich habe auch einige Kritikpunkte an dem Werk. An erster Stelle steht die Inkonsistenz. So finden sich Quellenbelege, Wortinterpretationen und Verweise auf intertextuelle Bezüge vor allem dann, wenn es Hamoris Argumentation dient. Auch betont sie immer wieder, dass Altes und Neues Testament unterschiedliche Texte sind, nur um dann an anderer Stelle bereitwillig zwischen beiden Werken hin- und herzuspringen, ohne die zeitliche Differenz deutlich zu machen. So ist diese dann spannend und betont, wenn es um die revisionistische Verniedlichung Gottes und seiner Diener und die klarere Etablierung von Gegenspielern in neuerer Zeit geht, nicht aber, wenn Belege für das Auftauchen von Monstern gesucht werden, für die dann gerne der ganze Text herhalten darf. Auch bleibt pointiert unklar, wie relevant diese Stellen im Vergleich zum Gesamtkorpus sind; mein Verdacht wäre: nicht besonders.

Das ist besonders wichtig, wo die Thematik von „Gott als Monster“ behandelt wird. Zu Anfang des Buches ist diese Gleichsetzung noch eher Subtext, wird aber im Verlauf des Bandes immer mehr zum Text. Hamori besitzt zwar offenkundig eine große, wissenschaftlich fundierte Kenntnis der Bibel und verwandter Texte, hat auch die entsprechenden Sprachfähigkeiten; hier aber hat sie ein dezidiert populärwissenschaftliches Buch geschrieben, in dem Gott gerne dafür kritisiert wird, ein ziemliches Arschloch zu sein (meine Worte, nicht ihre).

Dieser populäre Einschlag wird durch die zahlreichen popkulturellen Referenzen, vor allem Verweise auf irgendwelche Filme, besonders deutlich. Normalerweise bin ich ja durchaus ein Freund solcher Anspielungen, aber im vorliegenden Fall wirkten sie für mich eher als Fremdkörper, stilistisch unpassend, und bemüht eine Verbindung mit der Lesendenschaft herstellend, die für das eigentlich dröge Thema begeistert werden sollte.

Daher ist auch die Botschaft des Bandes ein ständiges Hin und Her: ob man die Texte der Bibel, ihre Parabeln, Psalmen und Geschichten, nun eigentlich ernstnehmen und quasi wörtlich lesen soll oder nicht, bleibt letztlich unklar. Ich wurde beim Lesen den Verdacht nicht los, dass Hamori das mal so, mal so macht, immer wie es ihr gerade für ihre Argumentation passt.

Trotz dieser Kritikpunkte war es eine insgesamt erhellende und vergnügliche Lektüre, die einmal mehr zeigt, wie wenig wir eigentlich über unsere eigene Religion wissen. Und dieses Wissen ist schon allein relevant, weil es ja durch alle Zeiten als Steinbruch für intertextuelle Bezüge dient, die unserem Verständnis anderer Texte dienlich sind. Ich hätte nur bevorzugt, das nicht von Hamoris offensichtlicher Ablehnung eher evangelikaler Bibelverständnisse heraussortieren zu müssen, sondern ein wissenschaftlich saubereres Buch zu bekommen, wenn auch um den Preis lesender Leichtigkeit.

Kevin Eastman/Peter Laird/Tom Waltz – Teenage Mutant Ninja Turtles: The Last Ronin (Deutsch)

Die Ninja Turtles sind, wie ich in meiner Oral History zum Thema auch beschrieben habe, nicht unbedingt das ernsthafteste Medium, das man sich vorstellen kann. Die originale Serie von Eastman und Laird endete bereits in den 1980er Jahren, wenngleich der Erfolg des Franchises und seine Wiederbelebung durch IDW und zahlreiche Film- und TV-Adaptionen dafür gesorgt haben dürften, dass die beiden ein komfortables Auskommen beibehalten, auch wenn sie keine Schildkrötengeschichten mehr zeichnen. Basierend auf einem alten Skript aus den 1980er Jahen hat Tom Waltz nun die Geschichte um den „Last Ronin“ entwickelt, eine Art Abschlusspunkt der Geschichte um die Turtles, der in einem dystopischen New York der Zukunft (wohl unserer Gegenwart) spielt.

„The Last Ronin“ ist in einer düsteren, dystopischen Zukunft angesiedelt, in der New York City von Oroku Hiroto, dem Enkel des legendären Feindes der Teenage Mutant Ninja Turtles, Oroku Saki (Shredder), tyrannisch beherrscht wird. In dieser Welt hat nur ein Turtle überlebt: Michelangelo.

Die Geschichte beginnt dramatisch, als ein schwer verletzter Michelangelo in die Stadt einbricht, um Rache für den Tod seiner Brüder zu nehmen. Er ist entschlossen, Hiroto zu stürzen, der nicht nur die Stadt mit eiserner Faust regiert, sondern auch für den Tod von Michelangelos Brüdern Leonardo, Raphael und Donatello verantwortlich ist. Michelangelo, der einst der lebensfrohe und unbeschwerte Turtle war, ist nun von Trauer und Wut getrieben.

Michelangelos Rettung erfolgt durch April O’Neil, eine langjährige Verbündete und Freundin der Turtles. April, die in dieser Zukunft eine kriegserfahrene Überlebende ist, findet Michelangelo und pflegt ihn zurück zur Gesundheit. Sie lebt mit ihrer Tochter Casey Marie Jones, benannt nach ihrem verstorbenen Ehemann und Freund der Turtles, Casey Jones. April und Casey Marie bieten Michelangelo nicht nur medizinische Hilfe, sondern auch emotionale Unterstützung.

Während seiner Erholung bei April reflektiert Michelangelo die tragischen Ereignisse, die zum Verlust seiner Brüder führten. Durch Rückblenden erfährt der Leser von den entscheidenden Kämpfen gegen Hirotos Streitkräfte, die letztlich zum Tod jedes seiner Brüder führten. Diese Momente sind von entscheidender Bedeutung, da sie die Tiefe des Verlusts und den Schmerz, den Michelangelo empfindet, verdeutlichen.

Nachdem er sich erholt hat, setzt Michelangelo seinen Plan fort, um Hiroto zu stürzen. Er infiltriert Hirotos Hauptquartier, wo er sich durch zahlreiche Gegner kämpft. Der Weg zu Hiroto ist gefährlich und gewalttätig, doch Michelangelo ist unerbittlich in seinem Streben nach Rache. In einem entscheidenden Kampf gelingt es ihm, Hiroto zu besiegen und somit den Tod seiner Brüder zu rächen.

Nach Hirotos Niederlage steht Michelangelo vor einem existenziellen Dilemma. Sein Lebenszweck, die Rache, ist erfüllt, aber er ist konfrontiert mit der Leere, die der Verlust seiner Brüder hinterlassen hat. Die Geschichte endet mit einer Szene, in der Michelangelo über die Ruinen von New York blickt, in sich gekehrt und nachdenklich über seine Vergangenheit und die Zukunft.

Neben der Haupterzählung gibt es wichtige Nebenstränge, die sich mit April O’Neil und ihrer Tochter Casey Marie befassen. Aprils Charakterentwicklung von der Reporterin und Verbündeten der Turtles zur kampferprobten Überlebenden zeigt die Härte und Resilienz, die in dieser dystopischen Welt erforderlich ist. Ihre Tochter, Casey Marie, wächst in einer von Krieg und Zerstörung geprägten Umgebung auf, was sie zu einer entschlossenen und fähigen jungen Frau macht. April und Casey sind zentrale Figuren in Michelangelos Leben und seiner Mission, da sie ihm nicht nur ein Gefühl von Familie und Zugehörigkeit geben, sondern auch bei seinem Kampf gegen Hiroto unterstützen.

Die Erzählung von „The Last Ronin“ ist geprägt von intensiven Action- und Kampfszenen, während Michelangelo sich durch Hirotos Streitkräfte kämpft, um sich seinem ultimativen Gegner zu stellen. Jede Begegnung, jeder Kampf ist ein Schritt näher an seinem Ziel, Rache zu nehmen für den Tod seiner Brüder. Diese Kämpfe sind sowohl physisch herausfordernd als auch emotional beladen, da sie Michelangelos tiefen Schmerz und seine unerschütterliche Entschlossenheit widerspiegeln.

Michelangelos Konfrontation mit Hiroto ist das zentrale Ereignis der Geschichte. Es ist ein Kampf, der nicht nur körperlich, sondern auch symbolisch ist, da er die Auseinandersetzung zwischen dem Erbe der Turtles und der tyrannischen Vision Hirotos darstellt. Michelangelos Sieg über Hiroto ist nicht nur ein Triumph über seinen Feind, sondern auch ein Akt der Befreiung für sich selbst und die Stadt.

Nachdem Hiroto besiegt ist, muss Michelangelo sich mit den Konsequenzen seines lang ersehnten Triumphs auseinandersetzen. Er steht vor der Herausforderung, einen neuen Sinn in seinem Leben zu finden, jetzt, wo sein Ziel der Rache erreicht ist. Die Geschichte endet damit, dass Michelangelo über die Ruinen von New York City blickt, was seine Akzeptanz der Vergangenheit und den Verlust seiner Brüder symbolisiert. Es ist ein Moment des Nachdenkens und der Ungewissheit über seine Zukunft.

Die Nebenhandlung mit April und Casey Marie zeigt, wie sie Michelangelo in seinem Kampf gegen Hiroto unterstützen. Aprils Erfahrungen und Weisheit als langjährige Verbündete der Turtles sowie ihre mütterliche Fürsorge für Michelangelo bieten ihm Trost und Unterstützung in seinen dunkelsten Stunden. Casey Maries Charakter ist ein Sinnbild für die Hoffnung und den Fortschritt in dieser zerstörten Welt. Sie repräsentiert eine neue Generation, die vielleicht nicht dieselben Kämpfe wie ihre Vorgänger führen muss.

Wie bereits eingangs erwähnt ist das ganze Ding nicht sonderlich ernstzunehmen. Zwar fürchte ich, dass es ähnlich den Werken Frank Millers (pars pro toto) genug Leute geben wird, die genau das tun, aber das liegt sicherlich nicht am Setting selbst. Das dystopische New York, das hier beschrieben wird, macht ungefähr so viel Sinn wie das, in das Snake Plissken sich etwa zur gleichen Zeit begab, nämlich keines. Die Stadt ist hermetisch abgeriegelt und steht unter der absoluten Diktatur des Enkel des Shredder, der eine Armee von Ninja-Kriegern hat (die stilecht bei Versagen für das Verbrechen, überlebt zu haben, hingerichtet werden), Nina-Kampfrobotern und ähnlichen Dingen, die auch im Robocop-Franchise ihren Platz haben dürften. Im Untergrund existiert als großer Rivale immer noch Baxter Stockman mit seiner Armee weiterentwickelter Mauser-Roboter, denn warum auch nicht. Wie es um die Welt außerhalb der New Yorker Mauern bestellt ist ist in etwa so relevant wie in den übrigen Turtles-Comics, in denen einerseits das Verbrechen regierte und andererseits Aliens, Roboter und Ninjas munter Seite an Seite mit- und gegeneinander kämpften, also auch gar nicht. Den munteren Wahnsinn dieses Settings muss man akzeptieren, wenn man sich mit dem Stoff auseinandersetzen will.

Waren die Turtles ursprünglich eine Art Persiflage für etwas ältere Leser (bewusst maskulin) und wurden dann mit dem Cartoon und den Realverfilmungen zu einer harm- und blutlosen Kindergeschichte, so knüpft „The Last Ronin“ eher an die Wurzeln an und bietet eine „grimdarke“ Dystopie, die ungefähr dem Ernsthaftigkeitslevel eines durchschnittlichen 16jährigen entspricht. In dem Alter jedenfalls hätte ich die düstere Stimmung sicher total unironisch cool gefunden und darauf bestanden, wie erwachsen diese Version des Turtles-Mythos ist. Ich stelle all diese Betrachtungen vorweg, damit kein falscher Eindruck entsteht: in dieses Mindset muss man sich versetzen, wenn man die Lektüre von „The Last Ronin“ genießen will.

Strukturell stellt die Story die Lesenden zuerst vor ein Mysterium: wer ist der einzige überlebende Turtle? Das wird am Ende des ersten Bands (ich rezensiere hier den Gesamtband, der alle Softcover zusammenfasst) aufgeklärt: es ist Michelangelo. Da er die Waffen aller vier Turtles herumschleppt und (natürlich) ein schwarzes Augenband trägt, blieb dies anfangs unklar. Lästerzungen würden behaupten, dass die Unterschiede jenseits der Ausrüstung auch nicht überragend sind. Die existierenden Charaktereigenschaften werden aber in den Rückblenden schön aufgearbeitet: Raphael stirbt als erster, weil er seine Aggression nicht beherrscht und eine (IDW-Fans sicher bekannte) rechte Hand von Hiroto besiegen will; Leonardo und Casey fallen im Kampf gegen eine Roboterarmee, Donantello zusammen mit Splinter durch Verrat in Japan, wo sie Hilfe beim Familienclan erhoffen.

Michelangelo selbst nimmt es mit Horden von Bösewichten auf, wobei ihm seine fortgeschrittene Mutation hilft (die optisch starke Ähnlichkeiten zu Millers „The Dark Knight Returns“ aufweist). Je älter die Turtles werden, erfahren wir hier, desto mächtiger wird ihre Mutation. Michelangelo ist also alleine so stark wie das ganze Vierer-Team früher war, was durchaus hilfreich ist, um Stürze aus Wolkenkratzer auf die Straßen New Yorks zu überleben.

Ähnliches gilt für April O’Neill, die den Widerstand (den es natürlich gibt und der aus lauter Bikerklischees im besten 1980er-Stil besteht) anführt und im Kampf ein Bein verlor, das mittlerweile durch eine Robotergliedmaße ersetzt ist. Ihre Tochter Casey ist natürlich ein Mutantenhybrid, der sein ganzes Leben auf Basis alter Videokassetten Martial Arts und Ninja-Fähigkeiten lernte, bevor Michelangelo (nach einer kurzen Schamperiode des „ich bin zu alt für den Mist und du bist nicht bereit“) ihr Mentor wird.

Thematisch bietet die Geschichte eine solide Rachestory; been there, done that. Was den Band eigentlich interessant macht ist einerseits der „definitive“ Abschluss der Turtles-Saga (inklusive dem Ausblick auf eine neue Generation von Schildkröten und Mentorin) und andererseits die Schamlosigkeit, mit der der ganze Blödsinn aufgefahren wird. Ich mag es, wenn etwas so offen zu dem steht, was es ist, und vor allem die Verankerung in den Sensibilitäten der 1980er Jahre, vom beherrschenden Einfluss Japans bis hin zur optischen Gestaltung New Yorks und der Charaktere, der technologischen Entwicklung und so weiter haben mir beim Lesen viel Freude bereitet. Ich bin nicht Turtle-Experte genug, um die Nebencharaktere richtig einordnen oder die Verweise auf Ereignisse in der Vergangenheit (vor allem bezüglich Hirotos Vergangenheit und seiner Mutter) verstehen zu können, aber das ist ehrlich gesagt auch nicht sonderlich wichtig. Die Turtles sind für mich ein guilty pleasure, ungefähr auf dem Level von „Robin Hood: König der Diebe“, und ich stehe dazu. Wer ähnlich fühlt, kann sich den Band gerne für eine gute Prise Eskapismus besorgen.

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