Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Spanische Grippe, Klettern, Tapen, Rollenspiel, Teutoburger Wald, Grundgesetz
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –
Manfred Vasold - Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg
In den Jahren 1918 und 1919 fegte eine Grippeepidemie über die Welt, die irgendwo zwischen 50 und 100 Millionen Opfer forderte. Wähend der Covid-Pandemie wuchs das Interesse an dieser weitgehend vergessenen Epidemie kurzzeitig an; vor allem Laura Spinneys Werk (hie besprochen) schoss dabei in die öffentliche Wahrnehmung. Während Spinneys Anspruch der einer Gesamterzählung der Epidemie war, grenzt Manfred Vasold sein Beobachtungsgebiet stärker ein. Wie der Untertitel bereits verrät, geht es ihm vorrangig um die Wechselwirkungen zwischen der Seuche und dem Ersten Weltkrieg. Zentrale Themen sind hierbei, ob die Epidemie durch den Krieg verschlimmert wurde und ob sie dazu beitrug, die deutsche Niederlage zu besiegeln. Wie er diese Argumentation aufbaut und inwieweit sie tragfähig ist, soll im Folgenden untersucht werden.
In Kapitel 1, "Vier Jahre Blutvergießen", rekapituliert Vasold noch einmal den Kriegsverlauf. Vom Ausbruch 1914 und den Massenschlachten von Marne und Tannenberg über den Beginn des Stellungskriegs, die große deutsche Offensive im Osten 1915 und die Brusilov-Offensive 1916, Verdun, Somme und der Rückzug auf die Hindenburglinie; der kurze Konflikt in den Kolonien; die U-Bootkriegsführung und schließlich die russische Revolution und der Kriegseintritt der USA. Das Kapitel dient vorrangig dazu, die Erinnerung aufzufrischen oder einen sehr kurzen Überblick für Einsteiger*innen zu geben; wer den Ersten Weltkrieg kennt, kann diese Seiten getrost überblättern - es sind aber ohnehin kaum zehn. Viel wichtiger ist der folgende Teil, der sich mit der Hungerblockade und dem rapide sinkenden Lebensstandard beschäftigt, denn die Unterernährung und Kälte (Brennmaterial war chronisch knapp und die Wohnungen und Häuser im Winter eiskalt) sorgten für eine deutlich steigende Sterblichkeit an der "Heimatfront". Die Pandemie traf 1918 nicht wie Covid 2020 auf gesunde Gesellschaften, sondern auf durch vier Jahre Blutvergießen ausgezehrte, deren Widerstandskraft bereits deutlich eingeschränkt war.
Das zweite Kapitel, "Der Ausbruch der Seuche", zeichnet dann den Beginn der Krankheit nach. Anders als der Name suggeriert, liegt der Ursprung der Spanischen Grippe nicht in Spanien, sondern in den USA. Da aber Spanien als neutrale Macht keiner so scharfen Pressezensur unterlag wie die kriegführenden Mächte - in denen die Nachricht von der Pandemie unterdrückt wurde - kamen die ersten offiziellen Berichte über den Ausbruch aus Spanien, das dann die zweifelhafte Ehre der Namensgebung bekam. In den USA brach die Krankheit in einem Militärlager aus, wo beste Bedingungen herrschten: zahlreiche Menschen auf engstem Raum in fragwürdigen sanitären Verhältnissen. Es zeigten sich bereits bei diesen ersten Ausbrüche die Merkmale, die die Spanische Grippe auszeichneten. Einerseits brach die Seuche unvermittelt aus und konnte Menschen abends töten, die morgens noch gesund gewesen waren - ein Infektionsverlauf zum Höhepunkt, der uns aus Covid auch bekannt ist (wenngleich weniger tödlich). Zudem traf die Krankheit nicht wie sonst üblich die ganz jungen und ganz alten Menschen besonders heftig, sondern die 20-50jährigen, mithin die eigentlich körperlich fitteste und widerstandsfähigste Population. Die USA reagierten auf den Ausbruch mit einer "don't worry"-Kampagne und versuchten, das Leben normal weiterlaufen zu lassen. Spanien indessen reagierte mit Einreisebeschränkungen und Quarantäne, was zwar nur sehr eingeschränkten Erfolg hatte (wenngleich mehr als der Ansatz der Amerikaner), gleichzeitig aber das Land als Ursprung zu markieren schien.
Kapitel 3, "Die Gruppe - Eine Infektionskrankheit", widmet Vasold einer Erklärung der Grippe. Die Inkubationszeit des Virus konnte oft in Stunden gemessen werden, die Symptome waren Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Fieber bis zu 41 Grad. Oft war die Krankheit, so man nicht daran starb, in drei bis fünf Tagen vorbei. Die Betroffenen berichteten auch von großer Antriebslosigkeit. Vasold stellt auch die Details des Erregers dar - das Virus war den Zeitgenossen völlig unbekannt und konnte auch nicht identifiziert werden, was die historische Untersuchung deutlich erschwert -, bevor er auf die Behandlung und Vorsorge eingeht: beide waren unterirdisch. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Versorgung mit Ärzten in allen Ländern noch sehr schlecht, wenngleich auf unterschiedlichen Niveaus, und der Großteil der Ärzte war eingezogen und diente in den Armeen. Versorgung zu bekommen war für die Kranken daher fast unmöglich. Da man das Virus nicht verstand, waren allerlei unwirksame Hausmittel und geradezu abergläubische Verhaltensweisen im Einsatz.
Nach dieser Übersicht geht es in Kapitel 4, "Die erste Grippewelle". Die Erzählung beginnt mit der deutschen Frühjahrsoffensive ("Unternehmen Michael"), das militärisch bald ins Stocken kam - auch wegen der rasant zunehmenden Krankenzahlen. Dasselbe Problem fand sich auf der anderen Seite der Front, wenngleich die miese Versorgungslage die Deutschen anfälliger machte als die Alliierten. Vasold spekuliert hier darüber, ob der Defätismus, der sich ab Sommer in der deutschen Armee ausbreitete, auch auf die Grippe zurückzuführen war. Zur gleichen Zeit sprang die Krankheit von Europa und Nordamerika aus nach Asien über (zuerst über Truppentransporte nach Mumbay), ebenso nach Südamerika und Afrika. Spätestens im Herbst 1918 handelte es sich um ein globales Phänomen.
Bei einer ersten Welle sollte es nicht bleiben. Kapitel 5, "Die zweite Welle rollt über Nordamerika", zeichnet nach, wie die zweite Welle der Pandemie über die USA rollte. Vasold zeichnet anhand einzelner Städte wie Chicago, Philadelphia und Atlanta die unterschiedlichen Verläufe der Grippe und Behördenreaktionen nach. Die Mortalität der Epidemie wich unter den verschiedenen Städten und Bundesstaaten drastisch ab, ohne dass klar wäre, woher die Unterschiede kamen. An manchen Orten reagierten die Behörden kompetent mit Maßnahmen, die angetan waren die Ausbreitung zu verringern; an anderen ignorierten sie die Gefahr (etwa an der Westküste) wider besseren Wissens und verschlimmerten die Seuche so. Am schlimmsten litten die indigenen Völker Nordamerikas; in den Reservaten wurden Mortalitätsraten von übe 15% erreicht. Die sozialen Ungleichheiten und rassistischen Strukturen des Landes lassen sich überall aus den Todesraten herauslesen.
In Kapitel 6, "Schwarzer Oktober", zeichnet Vasold den Weg der Seuche um die Welt nach. Den Anfang macht Großbritannien, wo das Bild den USA stark ähnelt. Danach wendet er seinen Blick nach Indien, wo bei einer Mortalität von rund 10% etwa 150 Millionen Menschen erkrankten. Das Land war durch die Belastungen des Krieges - wie auch im Zweiten Weltkrieg beutete die Kolonialmacht es rücksichtslos aus - und eine vorhergehende Pest-Epidemie geschwächt. In Indonesien war die Lage ähnlich dramatisch; auch hier hatte kurz vorher die Pest gewütet. In allen betroffenen Ländern standen zu wenig Lebensmittel zur Verfügung, weil die Krankenstände die Ernte beeinträchtigten (die oft ohnehin durch den Krieg reduziert war). In Deutschland zitiert Vasold einige Militärberichte zum Fortschreiten der Seuche, ehe er die verschiedenen Städte untersucht. Unter den prominenten Betroffenen ist vor allem Max von Baden zu nennen, der einen Großteil seiner kurzlebigen Kanzlerschaft im Bett verbrachte. Wie auch in Frankreich waren besonders Telefonist*innen und Eisenbahner betroffen, was seine ganz eigenen Konsequenzen für die Störung der Logistik hatte. Zuletzt skizziert Vasold den Zusammenbruch Österreich-Ungarns, der zeitgleich mit dem Höhepunkt der Pandemie zusammenfällt.
Kapitel 7, "Einmal um den Erdball", zeichnet den Weg der Grippe außerhalb der bereits genannten Länder und nach dem Oktober nach. Die zweite Welle, die ebenfalls in den USA begonnen hatte, sprang von Europa und Südostasien nun auf den Rest der Welt über. In Neuseeland, Afrika und Brasilien zeigte sich überall dasselbe Bild: je prekärer die dortigen indigenen Bevölkerungen waren, desto höher ihre Sterblichkeit (etwa bei den Maori Neuseelands). Für Afrika liegen überhaupt fast keine Zahlen vor, was jede seriöse Schätzung deutlich erschwert. Der restliche Weg um den Globus - von Japan über die pazifischen Achipele nach Kanada und Australien, von Zentralamerika nach Südamerika - wird von Vasold ebenfalls nachgezeichnet und mit Sterblichkeitsraten unterfüttert. Eine Art Gesamtanalyse fehlt aber weitgehend: warum in manchen Ländern die Mortalität so viel niedriger war als in anderen, bleibt weitgehend unklar, dafür ist das Kapitel sehr repetitiv: die Seuche kommt, die Reaktion ist unzureichend, die Mortalität bekommt eine Ziffer, nächste Region. Hier wäre etwas mehr analytische Struktur angeraten gewesen.
Das achte Kapitel, "Die Spanische Grippe: eine Bilanz", versucht sich an einer Gesamtschau der Grippe. Die Sterblichkeit taxiert Vasold in den "zivilisierten", will heißen: reichsten, Gesellschaften am niedrigsten. Perverserweise sind das auch diejenigen, die üblicherweise den Krieg führten und am meisten für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich waren. In einer zweiten Kategorie liegen Länder, die auf einer mittleren Entwicklungsstufe liegen, etwa Mexiko. Am schlimmsten erwischte es allerorten die Länder mit großer indigener Bevölkerung und Kolonialregime sowie niedriger Infrastruktur. Der Frage, inwieweit die Seuche den Verlauf des Krieges beeinflusst hat, misst Vasold dann noch einmal besonderen Raum zu. Insgesamt ist das natürlich schwer zu quantifizieren. Geholfen hat es sicher nicht, aber da sie Seuche alle Armeen und Gesellschaften betraf, ist es schwer auszumachen, inwieweit sie den Kriegsverlauf entscheidend veränderte. Vasold gesteht das auch unumwunden ein und stellt nur die recht unstrittige Behauptung auf, dass eine globale Pandemie die Innenpolitik und Kriegführung nicht unbetroffen wird gelassen haben. Seine These ist, dass der Zusammenbruch der Mittelmächte im Oktober und November 1918 mittelbar mit der Grippe zu tun hat: nicht so sehr ursächlich - das wäre ein Trugschluss - aber beschleunigend. Deutschland hätte den Krieg auch ohne Grippe verloren, aber die Grippe mag der Faktor gewesen sein, der dem überraschend schnellen Zusammenbruch als Katalysator gedient hat. Zuletzt blickt Vasold kurz auf die demografischen Folgen (viele junge Menschen starben) und auf ein kurioses Detail, dem er nur eine Seite widmet, das uns aber heute sehr ins Auge sticht: viele Grippebetroffene klagten über noch jahrelang anhaltende Erschöpfungssymptome. Long Spanische Grippe vielleicht? Die Folgen der Grippe für die Produktivität und Stabilität der 1920er Jahre deutet Vasold nur kurz an, ehe er mit dem Aufruf nach mehr Forschung schließt.
Tatsächlich ist mehr Forschung sicher angebracht. Vasold umschifft die gefährliche Klippe, seinem Untersuchungsgegenstand zu viel Bedeutung zur Erklärung weltgeschichtlicher Ereignisse zuzumessen, glücklicherweise. Eine Frage, die sich mir stellt, liegt im Revisionismus des Kriegsergebnisses. Warum wurde die Spanische Grippe nie in Weimar thematisiert? Auf diese Frage hat Laura Spinney eine Antwort, weil die Grippe nirgendwo thematisiert wurde: sie verschwand trotz der horrenden Todeszahlen weitgehend vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein, ein gewaltiger, kollektiver Verdrängungsakt, dessen Beginn für die Covid-Pandemie wir gerade auch beobachten können. Ich wäre jedenfalls sehr an einem Band interessiert, der das letzte Kapitel deutlich ausbaut und weniger auf den Verlauf der Epidemie als die Folgen eingeht. Hier scheint mir noch einiges auszugraben zu sein.
Ralf Winkler – Grundkurs Bouldern
In den letzten Jahren hat das Bouldern, also das freie Klettern an Kletterwänden in Kletterhallen oder an den namensgebenden Felsen, massiv an Popularität gewonnen. Die Kletterhallen schießen nur so aus dem Boden, und immer mehr Menschen fangen mit dem Hobby an. I know, I’m one. Seit einem halben Jahr gehe ich regelmäßig in die Kletterhalle und habe auch leichte Fortschritte erzielen können – genügend jedenfalls, um mich etwas intensiver mit dem Ganzen zu beschäftigen. Dabei bin ich auf Ralf Winkler gestoßen. Er hat nicht nur mehrere Bücher verfasst, sondern unterhält auch die Homepage, das Blog und den Youtube-Kanal „Grundkurs Bouldern“. Und dann hat er eben noch das vorliegende Buch geschrieben, das es für wenig Geld zu erwerben gibt. Es soll einen Einstieg in das Hobby geben und vor allem Anfänger*innen aufzeigen, wie man besser wird und Verletzungen vermeidet. Selbstkritisch merkt Winkler immer wieder an, dass er anfangs zu wenig auf Technik setzte und deswegen später umso umständlicher nachlernen muss. Nach der Lektüre muss ich sagen: schuldig im Sinne der Anklage. Aber beginnen wir von vorne.
Im ersten Kapitel, „Der Urschleim„, gibt Winkler nach einer kurzen Einführung, was Bouldern eigentlich ist, einen Überblick über die benötigte Ausrüstung. Und das ist gar nicht viel. Theoretisch kann man natürlich auch mit Turnschuhen klettern gehen, aber wenn man es schon einmal ausprobiert hat wird einem schnell klar, warum Kletterschuhe WESENTLICH besser sind. Winkler erklärt auch die Gründe dafür: Kletterschuhe erlauben es viel mehr, die Kraft in den Füßen auf die Griffe zu projizieren, was unablässig für das erfolgreiche Klettern ist. Solche Schuhe kann man in den Hallen auch ausleihen, aber eigene sind natürlich besser und bereits ab 40 Euro zu haben. Schon gar nicht mehr zwingend notwendig ist ein Chalkbag, also ein Beutel, in dem das Magnesia gelagert wird, mit dem Kletter*innen sich die Hände trocken machen. Eine nicht sonderlich teure und lohnenswerte Anschaffung ist aber auch das. Weniger notwendig sind Kletterhosen – bequem geschnitten und robust -, die vor allem an Felsen sinnvoll sind, weil dort die Belastung für den Stoff viel größer ist als in der Halle, und Crashpads, die man endgültig nur am Felsen braucht. In der Halle ist der komplette Boden ohnehin gepolstert; die Crashpads braucht man nur in der freien Natur. Da allerdings wäre Klettern ohne ziemlich verwegen.
Dem schließt sich eine kurze Debatte an, ob an besser draußen oder drinnen mit dem Sport beginnt (meiner Meinung nach ja drinnen, aber ich war auch noch nie am Felsen), bevor er das Regelwerk des Boulderns erklärt. Auch das ist denkbar einfach: an den sogenannten Routen sind die Startpositionen markiert, die man mit Händen und Füßen einnehmen muss, und dann folgt man der Route (üblicherweise gleichfarbigen Griffen) bis zum ebenfalls markierten Endpunkt. Die Wand darf benutzt werden, Griffe anderer Routen und die Bohrlöcher nicht. zuletzt stellt sich noch die Frage, ob man alleine oder mit Partner*in bouldern sollte – beides ist möglich, aber wie bei so vielen Dingen macht es natürlich zu mehreren auch mehr Spaß.
In Kapitel 2, „An die Wand„, gibt Winkler wichtige Hinweise für das erste Mal, vor allem bezüglich gegenseitiger Rücksichtsnahme. Man klettert sich nicht gegenseitig in die Route, und man sollte nie unter Kletternden herumstehen. Das aus dem Weg geräumt geht es dann aber auch gleich zu den grundlegenden Techniken. Anfängerfehler Nummer 1: zu viel mit den Armen machen. Beim Bouldern kommt es auf die Füße an. Sie tragen die Last und sollten so viel wie möglich schieben, um Kraft zu sparen. Winkler stellt kurze die verschiedenen Trittarten vor, die unterschiedlich benutzt werden, ehe er einige Techniken zur Verbesserung der Fußarbeit vorstellt. Zentral ist hier etwa die Nutzung der Fußspitze, weil das Stehen auf dem Außen- oder Innenrist nur bei Anfängertritten möglich ist (da haben wir wieder die schlechten Angewohnheiten).
Auch das Greifen ist gar nicht so leicht. Saubere Bewegungen sind wichtig, um Kraft zu sparen und Verletzungen zu vermeiden. Die verschiedenen Griffarten – von den dankbaren Henkeln zu den weniger dankbaren Leisten über die ganz und gar nicht dankbaren abgerundeten Sloper zu den Fingerkraft erfordernden Zangen über die ebenso die Finger belastenden Löcher hin zu den Stützern und Untergriffen gibt es viele verschiedene Arten, und da haben wir noch gar nicht über die Nutzung der Volumen gesprochen. Seit ich diese Theorie gelesen habe ist mir immerhin klar, warum ich bei manchen Routen so unglaublich versage (mal abgesehen von schlechter Fuß- und Beintechnik): ich versuche, die Dinger völlig falsch zu greifen. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.
Solcherart die Basics der Griffe erläutert geht es im zweiten Teil des Kapitels zu den Bewegungen an der Wand. Winkler erläutert das zentrale Konzept des Körperschwerpunkts, der maßgeblich mitbestimmt, in welche Richtung der Körper von der Wand wegfallen will, und wie man diesen geschickt verlagert. Dazu gehören die Techniken des Eindrehens (bei denen man die Boulder quasi seitlich angeht), des Froschens (das Aufstützen auf beide angewinkelten Beine und dann Hochdrücken) sowie das Hinterscheren (die Beine über Kreuz legen). Das alles ist wichtig, weil die Drei-Punkt-Regel immer gilt: stabil steht man nur mit drei Punkten. Greife ich irgendwo hin, wollen eine Hand und zwei Füße sicher sein. Wenn nur zwei Kontaktpunkte bestehen, kommt es schnell zur Türe: man beginnt aus der Wand zu kippen, und ohne große Körperspannung (die ich definitiv nicht habe) hat man keine Chance, der Dynamik der Schwerkraft zu widerstehen. Auch hier bietet Winkler einige gute Trainings für den heimischen Workout an. Zuletzt zeigt er die Bedeutung des langen Arms (weit greifen) und dynamischer Bewegungen auf.
Im dritten Teil des Kapitels geht es dann ins Dach, also an überhängende Wände. Hier sind wir schon im Terrain für Fortgeschrittene, denn wenn man nicht bodybuildermäßig alles aus der Kraft der Arme und Schultern macht (erneut: nope), braucht es die richtige Technik. Dazu muss man sich verspannen können und den Körper quasi zwischen die Griffe klemmen. Das geht nur, wenn man die Techniken des Toe- und Heel-Hook beherrscht, also Griffe und Tritte mit der Ferse oder den Zehen belasten kann.
Der letzte Teil des Kapitels befasst sich mit Techniken für Fortgeschrittene. An der Stelle habe ich vor allem für mich mitnehmen können, dass ich noch nicht fortgeschritten bin. Zwar gelingen mir durchaus auch Fußwechsel, aber nicht in der sauberen Ausführung, wie Winkler sie hier beschreibt. Immerhin das Kreuzen habe ich schon eigenständig für mich entdeckt. Die letzte Lektion jedenfalls wird bei der Lektüre deutlich klar: Bouldern sind keine Leitern, und Kopfeinsatz ist gefragt. Es fasziniert mich jedes Mal aufs Neue, wie viel Denkarbeit tatsächlich bei diesem Sport erforderlich ist; kein Vergleich zum geistlosen Joggen jedenfalls.
In Kapitel 3, „FAQ„, geht Winkler dann auf verschiedene andere Punkte ein. Vom Überwinden der Höhenangst (so viel ist Kopfsache, ich spreche aus leidiger Erfahrung) zu den allfälligen Hautverletzungen an den Händen und ihrer Pflege (wird schnell besser, keine Sorge) über das Tapen (siehe dazu Teil 2 der Rezension) und das richtige Aufwärmen – diese Fragen werden ebenso beantwortet wie die nach dem besten Krafttraining, der Interaktion zwischen Klettern und Bouldern, den Schwierigkeitsgraden und dem ersten Mal Klettern am Felsen.
Insgesamt kann ich das Büchlein, das sich gut liest (Winkler hat eine angenehme Schreibe) und nicht übermäßig lang ist, nur empfehlen – ob für Leute, die bereits eine kleine Weile klettern oder solche, die gerade anfangen wollen.
Daneben hat Winkler noch ein zweites Buch geschrieben, „Taping im Klettersport„. Dieses will ich als nächtes besprechen, weil ich es als komplementär betrachte.
Ralf Winkler – Taping im Klettersport
Beim Klettern bleibt es nicht aus, dass man die Hände überanstrengt oder sich Hautverletzungen zuzieht (vor allem Letzteres passiert gerade am Anfang, wenn noch wenig Hornhaut da ist, schnell). In diesen Fällen greift man am besten zu Klettertape und schützt die gefährdete Stelle. Im Falle einer Hautreizung ist das recht simpel – Tape drum, wie man ein Pflaster verwenden würde. Aber manche Sachen sind etwas diffiziler, und zudem ist es ohnehin gut, die Anatomie der Hände etwas besser kennenzulernen. Für all diese Fälle hat Winkler das Buch „Taping im Klettersport“ geschrieben.
In Kapitel 1, „Was die Hand verletzungsanfällig macht„, beschreibt Winkler die Anatomie der Hand mit den verschiedenen Sehnen und Bändern. In Kürze: diese brauchen für Anpassung an steigende Belastungen etwa dreimal so lang wie Muskeln, weswegen es häufig ist, dass man von der Kraft her mehr kann, aber nicht von den Bändern und Sehen, was zu Überlastungen führt.
Im 2. Kapitel, „Allgemeines zum Tapen„, geht es zuerst darum, warum Verletzungen nicht zu heilen scheinen, wenn man zu viel tapet und ob präventives Tapen sinnvoll ist (selten, da es die Stärkung der betreffenden Stellen verhindert). Zudem beschreibt Winkler verschiedene Tape-Arten und das richtige Anlegen eines Tape-Verbands.
Das 3. Kapitel, „Tape bei Hautverletzungen„, geht dann näher auf die häufigen Risse, Schnitte und Flaps (Hautfetzen) ein, die besonders beim Abrutschen von der Wand öfter mal vorkommen. Je nachdem, an welcher Stelle die Hautverletzung liegt, sind die Tapeverbände etwas schwieriger anzulegen. Winkler beschreibt für jeden Fall zuerst die Theorie und gibt dann mit bebilderten Schritt-für-Schritt-Anleitungen die Anleitung, wie die Verbände anzulegen sind.
Kapitel 4, „Tape zur Unterstützung der passiven Strukturen„, erklärt dann Tapearten und -techniken, die eingesetzt werden, um Kapseln, Sehnen und Co nach Verletzungen zu stützen, so dass man schneller wieder klettern gehen kann. Das ist alles sicher nützlich, aber ich fühle mich noch bei weitem nicht auf dem Level, dass ich das bei einer Verletzung, die ich – Klopf auf Holz – bisher nie hatte, auch tatsächlich so umsetzen würde. Winkler weist aber darauf hin, dass nichts davon den Gang zu Arzt oder Ärztin ersetzt und oft Röntgen oder MRT erforderlich ist, um die genaue Verletzung zu identifizieren – amateurhaft selbst zu machen, ist keine gute Idee.
Kapitel 5, „Vorsicht ist besser als Nachsicht – Prävention„, geht auf die Fälle ein, in denen man mit Tape Verletzungen vermeiden kann. Vieles davon betrifft scharfkantige Felsen und ist für mich als Hallenkletterer (noch) irrelevant, und die anderen Fälle übersteigen meinen Anfängerhorizont ebenfalls. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, die Kapitel 3-5 später in meiner Kletterkarriere wieder zu besuchen.
Wesentlich relevanter ist die Sektion für das Aufwärmen. Winkler hat auf seinem Blog auch mehrere Beiträge und vor allem auf seinem Youtube-Kanal Videos zu dem Thema, die ausführlich Übungen für das Aufwärmen vorstellen und verschiedene Dehnungen und ihre Theorie erläutern. An dieser Stelle gibt er im Endeffekt die Kurzversion davon. Grundtenor: Aufwärmen ist wichtig, sowohl zur Prävention als auch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit. Und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.
Braucht man dieses Buch? Grundsätzlich scheint es sich eher an Leute zu richten, die das Ganze mit größerer Professionalität treiben als ich (mehrmals die Woche, seit mehreren Jahren), während andere Kapitel Grundlagenwissen beinhalten. Es ist ein etwas merkwürdiger Mix in dieser Hinsicht. Da es aber gerade einmal 4 Euro kostet und es in einer starken halben Stunde lesen kann, macht man auch echt nicht viel falsch damit.
Scott Rehm – Game Angry. How to RPG the Angry Way
Pen&Paper-Tabletop-Rollenspiel ist mit Sicherheit ein Nischenhobby. Auch wenn viele Menschen schon einmal davon gehört haben – der neue Dungeons&Dragons-Film mag da auch noch einmal etwas nachhelfen -, so haben doch nur relaltiv wenige schon einmal gespielt, und noch viel weniger sind immer noch aktiv dabei. Die Einstiegshürden für das Hobby sind auch nicht unbedingt klein. Eine der größten ist es, eine Spielleitung zu finden (im D&D-Slang „Dungeon Master“, kurz DM, genannt). Denn der Job (und Scott Rehm lässt keinen Zweifel daran, dass es effektiv ein Job ist) ist sehr fordernd und zeitintensiv. Dazu kommt, dass dieser Job sehr schwer zu erlernen ist. Es gibt nur sehr wenig Ratgeber für die Spielleitung, sehr wenig Rollenspieltheorie als Fundament, und das, was es gibt, ist überwiegend Mist. Rehm, der seit Langem die Website The Angry GM betreibt und dort Ratschläge gibt, unternimmt mit diesem Buch den Versuch, das zu ändern.
Das Buch ist in drei große Abschnitte aufgeteilt. Der erste, „The World of Roleplaying Games„, ist als Einführung in das Hobby gedacht. In Kapitel 1, „A Fantasy Adventure Story Starring You„, erklärt Rehm das Grundprinzip von TTRPGs: man übernimmt als Spieler*in eine Rolle (den „Charakter“) und trifft in dieser Rolle Entscheidungen. Als Ergänzung dazu braucht es die im zweiten Kapitel, „The Game Master: The Best Game Mechanic Ever„, vorgestellte Spielleitung. Diese simuliert eine Welt, durch die sich die Spielenden bewegen können und die auf sie reagiert. Um das zu tun, benutzt die Spielleitung die in Kapitel 3, „Games and Systems and Editions and Dice and Stuff„, kurz vorgestellten Regelsysteme und existierenden Welten. Dazu gehören auch die für Einsteigende immer etwas verwirrend wirkenden Würfel. Rehm konzentriert sich auf Dungeons&Dragons und Pathfinder, zwei Systeme, die den eklatanten Nachteil haben, nicht DSA zu sein.
Ich bin ehrlich gesagt nicht sonderlich überzeugt von der Struktur dieses Ansatzes, weil mir die Fantasie fehlt, dass Leute sich für Rollenspiel interessieren und dieses Buch in die Finger kriegen, bevor sie sich bereits selbst an etwas versucht haben. Und Einführungen in die Frage „was ist Rollenspiel?“ gibt es im Dutzend billiger im Internet, und die sind – im Gegensatz zu den meisten Ratgebern – sogar brauchbar und nicht groß von Rehms Version abweichend.
Aber: Solcherart die Szene bereitet, beginnt der zweite Abschnitt, „Getting your (first) game on„, in dem die neuen Spielleitungen durch das erste Spiel geleitet werden sollen. Kapitel 4, „Get Ready…get set…„, schlägt Rehm vor, ein einfaches vorgefertigtes Abenteuer mit vorgefertigten Helden als sogenanntes „one-off“ zu spielen: egal, wie es ausgeht, danach werden neue Charaktere erstellt. Er erklärt das damit, dass das erste Spiel immer schlecht sei. Ich halte nicht viel von diesem Ratschlag; letztlich kann man auch problemlos aus einem schlechten Spiel weitermachen und das weitgehend vergessen. Aber es geht hier auch mehr darum, die Erwartungen an den eigenen Erfolg zu dämpfen. Wer etwas zum ersten Mal macht, kann ja praktisch nur scheitern.
Kapitel 5, „How to be a GM in Four Easy Steps„, zeigt sehr schön den Grund für Rehms Persona als „Angry DM“ und die miese Qualität der meisten Ratgeber auf: was hier steht, gehört an die zentrale Stelle jedes Grundregelwerks, fehlt aber viel zu oft. Er identifiziert vier grundsätzliche Tätigkeiten der Spielleitung: die Beschreibung der Szene (wo sind die Charaktere und warum), die Einladung zu handeln (also den Spieler*innen eine Entscheidung abzuverlangen), die Kunst der Erzählung (die Welt und die Szene konzise und knapp zu beschreiben) und „action adjudication“ (Das Abhandeln von Aktionen: hier müssen die Entscheidungen der Spieler*innen in Ergebnisse übertragen werden.).
Irgendwann einmal kommt es in Fantasy-RPGs zu einem Kampf. In Kapitel 6, „Let’s You and Them Fight„, erläutert Rehm die Grundregeln dafür. Die Spielleitung muss sämtliche Gegner (oft irgendwelche Monster) steuern und die Welt im Blick behalten. Die Grundregeln aus Kapitel 5 gelten dabei weiterhin. Rehm lässt die Spielleitung vier „Hüte“ tragen: den Schiedsrichter*innenhut, um Regeln zu klären; den Monster-Hut, um die Gegner zu steuern; den Buchhalter*innenhut, um die Informationen wie Trefferpunkte u.Ä. zusammenzuhalten, und den Jockey-Hut, um das Spiel am Laufen zu halten (Rehms Devise, dass schnelle Entscheidungen besser sind als gute Entscheidungen, sei an dieser Stelle wegen ihrer Wichtigkeit und der häufigen Verstöße dagegen besonders betont).
Ist das erste Abenteuer solcherart zu Ende gebracht, stellt Rehm in Kapitel 7, „Now What?“, die titelgebende Frage. Letztlich läuft es darauf hinaus, sich auszuprobieren und eigene Abenteuer zu schreiben.
Damit geht es in den dritten Abschnitt, „Running Less Worse Games„, der das eigentliche Herz des Buches ausmacht. Hier finden sich die wichtigen und zentralen Ratschläge, und in meinen Augen hätte etwas mehr Gewicht hier und der Verzicht auf die Vorstellung, dass komplette Anfänger*innen das Buch lesen werden, dem Ganzen gut getan. Aber gut; es ist, was es ist, und hat eigentlich keine Konkurrenz.
Kapitel 8, „The Heart of the Game„, befasst sich grundlegend mit dem Verhältnis von Spielleitung und Spielenden. Rehm betont, dass die ganze Anziehungskraft eines TTRPG darin besteht, Handlungsfähigkeit (agency) zu haben. Er unterscheidet drei Arten von Handlungsfähigkeit: die Freiheit, mit der Situation umzugehen, also zu entscheiden, was die Charaktere tun; die Freiheit zu der Situation, also ob die Charaktere sich überhaupt in diese begeben wollen; und die Freiheit des Ziels, also zu entscheiden, was die Charaktere wollen. Vor allem letzteres ist eine gewaltige Herausforderung, weil die Spielleitung ja Abenteuer planen muss; entscheiden sich die Spielenden, etwas anderes tun zu wollen, ist diese Arbeit erstens wertlos und zweitens muss die Spielleitung improvisieren (siehe weiter unten). Ich habe eine andere Spielleitungsphilosophie als Rehm und sehe deswegen die zweite Freiheit als weniger wichtig und die dritte als nicht-existent, aber das wäre Gegenstand eines eigenen Artikels.
Aufgabe der Spielleitung ist es außerdem, die „durchgehende Illusion einer Realität“ aufrechtzuerhalten, sprich: die Welt sich lebendig anfühlen zu lassen. Dazu kommt, dass die Spielleitung mit den Spielenden interagieren und ihnen etwas bieten muss. Dazu unterscheidet Rehm die recht geläufigen acht Spieler*innenmotivationen: Herausforderung, Entdeckung, Ausdruck, Fantasie, Gemeinschaft, Erzählung, Sinnesgenuss und Unterwerfung. Alle Spielenden sind zu Teilen von diesen Dingen motiviert. Eine glückliche Spielrunde ist eine, in der für alle etwas dabei ist.
Die Struktur einer Spielrunde erklärt Kapitel 9, „How it All Fits Together„. Dazu gehört erst einmal der organisatorische Teil: die Einleitung der Sitzung. Man sollte erst einmal Zeit für Smalltalk lassen, dann organisatorischen Kram besprechen, dann die letzte Sitzung zusammenfassen, dann starten. Das Spiel selbst teilt Rehm in die aus der D&D-Nomenklatur entlehnten Action, Scene, Adventure und Campaign auf. Eine einzelne Handlung ist die kleinste Einheit des Rollenspiels, während eine Szene so lange andauert, bis alle Handlungen durchgeführt wurden (eine Klippe erklettert, ein Kampf gewonnen, eine Wache bestochen, etc.). Das Abenteuer enthält die gesamte abgeschlossene Handlung, während eine Kampagne mehrere Abenteuer miteinander verknüpft. Eine Spielsitzung besteht aus mehreren Szenen, ein Abenteuer dauert mehrere Spielsitzungen und Kampagnen können Jahre dauern. Szenen haben dabei letztlich die Funktion, den Spielenden Anlass für Handlungen zu geben, während die Abenteuer ihrerseits den Anlass für Szenen und die Kampagnen den Anlass für Abenteuer bieten. Auf diese Art und Weise ist alles strukturiert.
Nachdem die Struktur geklärt wurde, kehrt Rehm zur kleinsten Einheit zurück und bespricht in Kapitel 10, „Advanced Action Adjudication„, wie Handlungen der Spielenden von der Spielleitung umgesetzt werden. Zwei Grundregeln: je weniger Würfelwürfe, desto besser, und die Regeln sind nur Werkzeuge (was auch viel zu wenige Spielleitungen beherzigen). Von dort ausgehend definiert Rehm die Axiome der Handlung: sie werden erklärt (durch die Spielenden), haben eine Absicht und eine Herangehensweise. Sie bestehen nicht aus Regeln (also nicht: „Ich benutzen Betören auf die Wache“, sondern „Ich umgarne die Wache mit flirtigen Avancen“). Danach kommt eine der entscheidensten Lektionen, die ebenfalls viel mehr Spielleitungen beherzigen sollten. Die Spielleitung muss sich fragen, ob die Handlung erfolgreich sein kann, ob sie scheitern kann und ob Risiko besteht. Können die Charaktere nicht erfolgreich sein, scheitern sie automatisch. Können sie nicht scheitern, schaffen sie es. Besteht kein Risiko, können sie es einfach immer wieder versuchen. In all diesen Fällen muss nicht gewürfelt werden. Jede Handlung muss zudem Folgen haben (ansonsten braucht es ebenfalls keine Abhandlung).
Eine weitere wichtige theoretische Unterscheidung wird in Kapitel 11, „Encountering Resistance„, erläutert: die zwischen Szenen und Encountern (wofür es kein vernünftiges deutsches Wort gibt; am ehesten noch „Zusammenstöße“). Eine Szene ist eine, in der Spielende und Spielleitung einfach nur durch Sprache miteinander interagieren, etwa ein Gespräch mit NPCs (Non-Player-Characters, also alles, was nicht Charaktere der Spielenden sind, siehe Kapitel 12), während eine Encounter dann entsteht, wenn den Charakteren Widerstand entgegen schlägt. In diesem Fall müssen sie Widerstand überwinden, und dazu braucht es Regeln. Aber das ist nicht das Entscheidende.
Das Entscheidende ist die „dramatische Frage“, also worum es geht. Etwa: „Können die Charaktere es schaffen, den Hinterhalt der Goblins zu überleben?“ Diese Frage klar gestellt zu haben ist wichtig, weil sie das Ende des Encounters definiert. Die feigen Goblins werden nicht bis zum Letzten kämpfen; wenn die Charaktere ernsthaft Widerstand leisten, ist der Hinterhalt gescheitert und sie werden vermutlich fliehen. Zudem braucht ein Encounter einen Konflikt; reine Gefahr reicht dafür nicht aus. Sobald ein solcher aber existiert, muss die Spielleitung in Gestalt der Gefahr (ob natürlich oder kreaturengemacht) gegen die Charaktere vorgehen, um Spannung zu erzeugen. Ein guter Encounter aber braucht außerdem Entscheidungspunkte, an denen die Spielenden etwas entscheiden müssen (die Grundidee des TTRPG) und eine Struktur, anhand der diese abgehandelt werden können. Rehm liefert hier gute Beispiele.
Diese Lektionen zum Bau von Encountern sind wohl die wertvollsten, die er insgesamt zu bieten hat. Sie haben unser eigenes Spiel wahnsinnig verbessert.
Eher auf bekannten Pfaden wandelt er in Kapitel 12, „Being Other People„, in dem es um die Darstellung von NPCs geht. Rehm ist wichtig, nicht zu übertreiben (was leider sehr oft vorkommt), damit das Ganze nicht zum Slapstick verkommt, und betont, dass nur wichtige NPC volle Persönlichkeiten brauchen. Alle anderen sind Staffage mit Persönlichkeit. Für relevante NPC fordert er Persönlichkeit (wie redet die Figur?), Haltung (Körperhaltung der Spielleitung), Pause (um für Antworten Zeit zu gewinnen) und einen Tick (der die Person einzigartig macht). Versuchen die Charaktere in einem Gespräch, Widerstand zu überwinden, wird das Gespräch zu einem Encounter; Rehm bietet hier ein gutes System an, um das Ganze abzuhandeln, das völlig unabhängig vom Spielsystem ist.
In Kapitel 13, „A Bunch of Narrative BS„, geht es dann ums Geschichtenerzählen. Rehm bedient sich hier klar bei der Erzähltheorie; wer sich damit auskennt, dem wird das alles bekannt vorkommen. Jede Handlung braucht einen Beginn („inciting incident„), Hindernisse, eventuell einen Twist und am Ende ein Finale, gefolgt von einem kurzen Epilog. Ohne diese Struktur fühlen sich Geschichten nicht rund an; 99,9% aller Unterhaltungsprodukte folgen ihr. Rehm betont zudem die Bedeutung von Pacing (einmal mehr fehlt ein gutes deutsches Wort), also dem richtigen Spannungsgehalt mit steigender und fallender Handlung.
Darauf folgen mit Kapitel 14, „A Bunch of More Narrative BS„, einige weitere relevante (wenngleich für mich nicht neue) Grundregeln. Einerseits gilt es, sich nicht in „Realismus“ zu verbeißen, sondern auf Plausibilität zu achten. Auch das gilt für jeden guten Film; es erhält die Illusion einer Welt aufrecht. Zudem betont Rehm die Notwendigkeit, den angemessenen Ton zu treffen – eine dramatische Konfrontation mit dem Drachen sollte nicht durch Comedy-Einlagen zerstört werden.
Falls die Pläne scheitern, bietet Kapitel 15, „Ready for Anything„, einige Hinweise zum Improvisieren. Von der Wichtigkeit guter Aufschriebe zu einem simplen „just go with the flow“ ist eine Menge dabei. Rehm schließt dieses Kapitel mit einer Daumenregel, Probenmodifikatoren in D&D und Pathfinder über den Daumen zu peilen; für Spielende anderer (besserer) Systeme ist das natürlich wenig hilfreich.
Auf der Metabene gibt es, wie Kapitel 16, „When Everything Goes Wrong„, leider ebenfalls einige Dinge, die schief laufen können. Charaktere können sterben (ein umstrittenes Thema, meine Meinung findet sich hier), Spielende können nicht zur Gruppe passen oder fallen ständig aus oder kommen zu spät. Rehm argumentiert in letzteren Fällen für klare Ansagen und entsprechende Konsequenzen; ohne einen sozialen Grundkonsens lasse sich Rollenspiel nicht betreiben. Da hat er zweifellos Recht.
Das letzte Kapitel, „To Be Continued„, rührt die Werbetrommel dafür, Abenteuer in Kampagnen zu verwandeln und längere Erzählstrange laufen zu lassen. Ich kann das nur unterstützen; ich spiele nichts anderes als Kampagnen. Viel besseres Spiel.
Ich denke, aus meiner Rezension wurde soweit deutlich, dass ich Rehms Buch grundsätzlich sehr schätze. Die darin enthaltenen Lektionen sind super und haben unser eigenes Spiel massiv verbessert, obwohl wir bereits seit zwei Jahrzehnten spielen. Wer nach dem Buch weiterlesen will, dem sei der Blog Rehms empfohlen – vor allem allerdings die älteren Einträge. Seine neuen haben die unangenehme Eigenschaft, in sehr vielen Worten Altbekanntes neu aufzukochen, und er war ohnehin noch nie jemand, der sich kurz fasst.
Boris Dreyer – Als die Römer frech geworden. Varus, Hermann und die Katastrophe im Teutoburger Wald (Hörbuch)
Im 19. Jahrhundert kannte jedes Bürgerkind die Sage von Hermann dem Cherusker. Der stolze germanische Recke hatte die Urvölker Germaniens geeint, um sie in einem nationalen Befreiungskampf gegen die „Welschen“ zu führen, romanische Besatzer, deren numerische und technologische Überlegenheit er mit List und teutonischem Kampfesmut ausglich, indem er den arroganten römischen Statthalter Varus und seine drei Legionen in der Schlacht im Teutoburger Wald aufrieb. Ähnlich Siegfried erlitt er dann das typisch deutsche Schicksal, in der Stunde des Triumphs verraten zu werden – die deutsche Nationalstaatsbildung wurde um 1900 Jahre verzögert. An dieser Geschichte stimmt so gut wie nichts, aber für einige Jahrzehnte war sie äußerst wirkmächtig und gehörte wie der Nibelungenepos zum kulturellen Standardrepertoir des Kaiserreichs. Heute spielt die Instrumentalisierung Arminius‘ – wie Hermann in Wirklichkeit hieß, bevor Luther ihn zum Deutschen adelte – keine Rolle mehr. Generell kennt kaum ein Kind die Schlacht im Teutoburger Wald mehr; der Popularitätsverfall der Antike als eskapistischer Fluchtpunkt zugunsten von Marvel und Co hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. Trotzdem bleibt das Rätsel des Untergangs Varus‘ ebenso spannend wie die Germanienpolitik der Römer. Warum gaben sie ihre Versuche auf, Germanien zu erobern? Der Verlust von drei Legionen allein kann es kaum gewesen sein; Verluste schreckten die Römer nicht. Boris Dreyer versucht dem hier auf den Grund zu gehen.
In Kapitel 1, „Das Komplott – Varus und seine falschen Freunde“, stellt Dreyer uns die handelnden Personen vor. Da wäre einmal Varus selbst, der römische Statthalter. Anders als die frühe Geschichtsschreibung und diverse Quellen es uns glauben machen möchten, handelte es sich nicht um einen tölpelhaften Emporkömmling, der quasi zufällig in das Amt gestolpert war. Dreyer argumentiert überzeugend, dass solche Posten nur an Personen aus den engsten Kreisen des Kaiserhauses vergeben wurden. Man wird das dann an der Besetzung des Postens mit Drusus und Germanicus später noch sehen, aber es versteht sich angesichts des römischen Staatsaufbaus von selbst, dass man die Herrschaft über drei Legionen nicht an jemandem übergibt, dessen Loyalität man sich sicher sein kann.
Armininius indessen war ein romanisierter Fürst. Obwohl cheruskischer Abstammung, hatte er im Kaiserreich Karriere gemacht und war in den Stand der equites aufgestiegen (Dreyer benutzt die Eindeutschung „Ritter“, die ich so gar nicht leiden kann). Er war Führer der germanischen Auxiliareinheiten und hochrangig. Varus hat sich aus gutem Grund auf ihn verlassen: es gab wenig Gründe für Arminius, die Seiten zu wechseln. Tatsächlich ist seine Motivation bis heute mysteriös geblieben. Fakt ist, dass es ihm gelang, eine Allianz unter den notorisch zerstrittenen Germanenfürsten zu schmieden und Varus darüber komplett zu täuschen – ein Manöver, das vorrangig durch Ausnutzen seiner Position als eine Art rechte Hand des römischen Statthalters gelang.
Kapitel 2, „Rhein oder Elbe, Defensive oder Expansion“, behandelt dann die römische Germanienpolitik zwischen Cäsar und Augustus. Cäsar hatte zwar zweimal den Rhein überschritten, aber stets betont, dass er dies allein als defensive Machtdemonstration tat. Inwieweit dem Glauben zu schenken ist und es nicht nur als Rechtfertigung einer Niederlage zu gelten hat, ist unklar. Cäsar jedenfalls konnte es sich leisten, angesichts seiner sonstigen militärischen Siege zurückzustecken. Augustus war das nicht möglich; seine militärische Bilanz, wo er persönlich involviert war, war alles andere als glücklich. Dazu kam, dass ausgerechnet, als er ein neues saeculum – ein Zeitalter – Roms ausrief, eine Legion unter dem Kommando Lollius‘ von einer kleinen germanischen Stammesgruppe aufgerieben wurde. Augustus begab sich persönlich an die Grenze, ordnete Strukturen neu und übergab das Oberkommando der dortigen Streitkräfte seinem designierten Erben, Drusus. Dem gelang es auch, in mehreren Feldzügen Germanien bis an die Elbe zu unterwerfen, der erklärten Zielgrenze. Die strategische Absicht dahinter war die Sicherung Galliens, das durch Einfälle germanischer Stämme ständig bedroht war.
In Kapitel 3 skizziert Dreyer dann „Die Römer in Germanien – Taktiken der Provinzialisierung“. Die Debatten innerhalb der Althistoriker*innenschaft, ob Augustus Cäsars Vorbild folgen und lediglich ein Glacis, also ein militärisch gesichertes Vorfeld schaffen wollte, oder ob er tatsächlich Germanien in römische Provinzen unterteilen wollte, entscheidet er mit einem klaren Votum für Letzeres. Er verwirft die häufig gehörte Behauptung, es habe in Germanien keine Städtebaupolitik gegeben, und erklärt, dass Augustus sehr wohl die Elbe als Grenze des Römischen Reichs geplant habe.
Dabei kommen auch die germanischen Mächtegruppen in den Fokus. Die nordwestlichen Germanenstämme, denen auch Arminius entsprang, hatten direkte Kontakte zu den Elbgermanen, die wiederum eng mit dem Markomannenherrscher Marbod verbandelt waren, der im heutigen Böhmen seinen Herrschaftssitz hatte. Marbod ist eine Schlüsselfigur in dem Drama, weil sein Reich wesentlich zentralistischer geordnet war als die Germanenstämme und es eine ständige Bedrohung für Rom darstellte, weil Marbord sowohl nach Süden in Richtung Balkan als auch nach Westen in Richtung Gallien oder gar direkt über die Alpen nach Italien schlagen konnte. Augustus führte deswegen mehrere Feldzüge gegen Marbod, ohne großen Erfolg: am Ende schloss man eine Art gleichgestellten Friedensvertrag (foedes aquum), was die Römer wegen des damit verbundenen Ansehensverlusts nur äußerst ungern taten.
Kapitel 4 findet dann den „Weg in den Untergang – Rekonstruktion einer Niederlage“. Wir folgen Varus, der als Statthalter nicht in der Lage war, die Provinzialisierungsstrategie sicher zu betreiben. Die Falle Arminius‘ jedenfalls war beeindruckend. Die germanischen Stämme erhoben sich koordiniert gegen Rom, die nordwestlichsten zuerst. Zuvor hatten alle unterworfenen Stämme wegen irgendwelcher Bedrohungen oder Streitereien römische Unterstützung angefordert, so dass zahlreiche Beamte und Legionäre überall verstreut waren – und massakriert wurden. Die Armee selbst musste, um die Aufständischen zu erreichen, tief in unausgebautes, weitgehend unbekanntes Gebiet vorstoßen, weit entfernt von den üblichen Wegen und Versorgungslagern. Als die Legionen die Gegend des heutigen Osnabrück erreichten, schnappe die Falle zu. Im Dauerregen war viel römische Ausrüstung (etwa die Schilde) nutzlos; die über 20km gestreckte Marschkolonne konnte sich nicht formieren. Trotzdem gelang es den Legionen unter hohen Verlusten, sich zu behaupten, ein Lager zu errichten und es gegen die Feinde zu verteidigen.
Es war der zweite von vier Schlachttagen, der entscheidend sein sollte. Varus brach das Lager in dem Glauben ab, den Angriff abgeschlagen zu haben, und setzte seine ursprüngliche Mission fort. Hätte er hier den Rückweg angetreten, so hätte er zweifellos schwere Verluste erlitten, aber die Legionen wohl intakt zurück ins Winterlager gebracht. Arminius aber hatte ihn über das Ausmaß des Aufstands geschickt getäuscht. So wurden die Römer drei Tage lang auf dem Marsch unnachlässig angegriffen und aufgerieben. Am Ende begingen die Offiziere Selbstmord, und viele Soldaten taten es ihnen nach. Dieser Schlachtverlauf ist durch archäologische Untersuchungen und die sechs Jahre nach der Niederlage erfolgte Aufklärungs- und Vergeltungsmission Germanicus‘ hinreichend sicher erschlossen. Durch diese Niederlage lag Germanien komplett offen; sämtliche bisherigen Erfolge waren mit einem Schlag zunichtegemacht. Die Frage war nun, wie die Römer darauf reagieren würden.
Kapitel 5, „Eroberung oder Rückzug – Germanicus oder Tiberius“, sieht die große Debatte um die folgende Strategie, die in Rom sehr umstritten war. Sie konzentrierte sich auf zwei Personen: Drusus‘ Sohn Germanicus, dessen Ehrenname bereits zeigt, wie verbunden er mit diesem Krieg war, und Tiberius, Augustus‘ ungeliebter Nachfolger. Tiberius wollte den Rhein als Grenze etablieren – was angesichts der offenkundigen Verbindungen zwischen Elbgermen und Nordwestgermanen von Dreyer als die korrekte Strategie eingeschätzt wird, die die Elbe viel weniger zur geeigneten Grenze machten als den Rhein -, während Germanicus Germanien unterwerfen wollte.
Augustus selbst hatte in seinen Regelungen für seine Nachfolger bewusst offengelassen, welche Strategie sie fahren sollten. Das Oberkommando, das Germanicus noch innehatte, benutzte dieser nun für weitere Offensiven über den Rhein, um Fakten zu schaffen. Zwar gelang es ihm, militärische Siege gegen die Germanen zu erzielen, den Verlauf der Varusniederlage aufzuklären und die verlorenen Feldzeichen wiederzuerobern (sehr wichtig für die Moral der Römer); eine Entscheidung allerdings erreichte er nicht. Gleichzeitig wurde er für Tiberius politisch gefährlich, weil er offensichtlich um Sympathien warb und so eine politische Basis gewann. Tiberius kommandierte ihn deswegen mit einem nominell höheren Posten nach Syrien ab und beendete die Expansionspolitik.
Kapitel 6, „Dreierlei Ende – Tam diu Germania vincitur“, sieht den Tod Germanicus‘ in Syrien, der immer noch von Legenden umrankt ist. Tiberius nutzte ihn für eine beinahe göttliche Überhöhung des Toten und definierte seinen Germanienfeldzug als defensive Unternehmung um, die so nun die eigene neue Politik adelte. Gleichzeitig brach Marbods Herrschaft in sich zusammen und wurde Arminius ermordet, was die Lage generell sehr beruhigte. Die Römer waren ohnehin anderweitig beschäftigt: sie eroberten Großbritannien. Auch von dort gingen Bedrohungen für Gallien aus, und es war, da es in der römischen Weltsicht auf einer anderen oekomene, Weltinsel, lag als Rom und Germanien, propagandistisch ohnehin interessanter.
In Germanien indes wurde die Grenze durch den Limes befestigt. Dieser war keine Befestigung im militärischen Sinne – die Kontrolle des Vorfelds blieb weiterhin essenziell – sondern diente der Kontrolle der Wanderungsbewegungen und als Signal. Die Rolle Germaniens für Rom allerdings blieb bedeutsam. Während des Vierkaiserjahrs spielten aufständische Bataver, die erst für Vitellius und dann auf eigene Rechnung kämpften, eine große Rolle. Der Ausbau des Limes indessen änderte die Infrastruktur des römischen Heeres derart, dass es auf Defensive festgelegt und zu offensiven Operationen gar nicht mehr in der Lage war. Die andauernde Bedrohung der Donaugrenze führte dann unter Trajan zur Eroberung Dakiens.
Das siebte Kapitel, „Hermann, der deutsche Recke – eine Rezeptionsgeschichte“, zeichnet eben diese nach. Arminius wurde in der Renaissance „wiederentdeckt“, die Schlacht zuerst als Widerstand gegen den als fremd empfundenen habsburgischen Herrscher gedeutet, der als spanischer Monarch den Deutschen damals als romanischer Fremdherrscher vorkam. Im 17. Jahrhundert wurden die Römer dann zunehmend als „welsch“ gelesen, wurden die Franzosen als Erben der Römer und natürliche Gegner der Deutschen gesehen. Den Höhepunkt erreichte diese deutschtümelnde Interpretation dann nach der Reichsgründung, als man das Hermannsdenkmal nach Westen ausrichtete und in „Hermann“ den Ahnherren der Deutschen zu erkennen glaubte, allesamt irreführende Anachronismen. Die Nazis dagegen mochten den Mythos nicht so, schon allein, weil der der Idealisierung der italienischen Faschisten so offen zuwiderlief. Zum Abschluss skizziert Dreyer noch kurz die archäologische Rekonstruktion der Schlacht, unter anderem durch die Numismatik.
Insgesamt bin ich etwas zwiegespalten über dieses Buch. Ich mag die zugrundeliegende Struktur: die Herausarbeitung der zugrundeliegenden Motivationen der Akteure, die strategischen Überlegungen, die Logistik und Infrastruktur – all das ist super, und auch dass die eigentliche Schlacht nicht überbetont, sondern in einen größeren Kontext eingebettet wird, weiß zu gefallen. Auf der anderen Seite teilt Dreyer den häufig altmodischen Sprachstil der Althistoriker*innen, und sein Glaube an die Verlässlichkeit der Quellen ist immer wieder merkwürdig. Dazu kommt, dass viel Grundwissen vorausgesetzt wird. Wer noch nie von Drusus oder Germanicus gehört hat, wird öfter stirnrunzeln innehalten müssen. Trotz diesen Schwächen bleibt das Werk ein empfehlenswerter Einstieg in die größere Debatte um die römische Germanienpolitik.
Christoph Möllers – Das Grundgesetz
Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Anders kann man eine Verfassung, die bald 75 Jahre alt sein wird, kaum beschreiben. Wenige geschriebene Verfassungen erreichen ein solch stattliches Alter. Was genau darin steht und wie es zu lesen ist, ist allerdings vielen Menschen nicht bekannt. Hier spielt eine Dichothomie eine Rolle, die vielfach bemerkt wurde: die Sprache des Grundgesetzes ist schlicht und angenehm lesbar (für einen Verfassungstext), was aber nicht bedeutet, dass sie deswegen auch verständlich wäre. Christoph Möllers vergleicht das mit einem Gedicht, das ebenfalls sprachlich hoch verdichtet Bedeutungsebenen verschränkt und der Kompetenz der Textanalyse (in dem Fall der lyrischen) bedarf, um tatsächlich verstanden zu werden. Da wir nicht alle Zeit für ein juristisches Staatsexamen haben und Grundgesetzkommentare ohne ein solches auch nicht verständlich sind, ist sein schmales, in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenes Bändchen hier mehr als hilfreich.
Möllers beginnt seine Darstellung in Kapitel 1 vorne, bei „Vorgeschichten und Entstehung“. Zuerst beschreibt er in Abschnitt 1 die Vorgeschichten. Die Landesverfassungen vor 1848 sieht er als wenig prägend für das Grundgesetz; vielmehr sei es die Sprache der Paulskirchenverfassung, die stilbildend war und an der sich das Grundgesetz deutlich orientiert. Die Weimarer Reichsverfassung bekommt als erste demokratische und republikanische Verfassung mehr Aufmerksamkeit. Möllers wiederholt die mittlerweile konsensuale Feststellung, dass die Weimarer Reichsverfassung besser als ihr Ruf war, und attestiert dem Grundgesetz eine Überkompensation zum Schutz vor Extremismus, die die Rechtsprechung Weimars übersehe. Gleichzeitig überrascht die Fortführung bestimmter Traditionen aus dem Kaiserreich, etwa die Ausgestaltung des Reichspräsidentenamts oder die starke Stellung des Staats, nicht. Der Nationalsozialismus schließlich dient dem Grundgesetz vor allem als Negativfolie. Seine Missachtung von Grundrechten, sein Aushebeln jeglicher rechtsstaatlicher Prinzipien und seine Vorrangstellung des Staats und seiner Interessen vor dem Individuum waren Negativpunkte, gegen die sich die Ordnung des Grundgesetzes explizit verwahrte.
Von diesem Kurzüberblick geht es zu Abschnitt 2, den Vorentscheidungen. Diese beziehen sich vor allem auf die Arbeit in Herrenchiemsee, wo ein Entwurf erarbeitet wurde, der maßgeblich sein sollte. Für mich ist die Parallele zum Einfluss des Virginia Plan bei amerikanischen Verfassungsgesetzgebung offensichtlich. Hier wurde auch beschlossen, dass das Grundgesetz ein reines Provisorium sein sollte, um die Wiedervereinigung nicht zu verunmöglichen.
In Abschnitt 3 untersucht Möller den Parlamentarischen Rat, indem er kurz entscheidende Personen beschreibt – vor allem Carlo Schmid als Staatsrechtler und Konrad Adenauer als öffentliches Gesicht und vorrangigen „Politiker“. Zentrale Streitpunkte betrafen vor allem den Staatsaufbau – die Sozialdemokraten wollten möglichst viel Zentralismus, Alliierte und Christdemokraten Föderalismus, der zudem dem Charakter als Provisorium mehr entgegenkam. Der Streit verschiedener Verfassungsverständnisse ist sehr rechtsphilosophisch – er ging mir ehrlich gesagt über mein Verständnis. Am Beispiel der Menschenwürde, die in Weimar bei weitem nicht so zentral war wie im Grundgesetz, zeigt Möllers den Umgang mit dem Weimarer Erbe genauer auf. Der Konflikt lief hier vor allem darauf ab, ob die Menschenwürde eine rechtliche Norm schuf (was die SPD erklärte) oder einen moralischen Zustand nur festschrieb (was die CDU behauptete). Formal behielt die SPD, in der Sache die CDU Recht, was die hervorgehobene Stellung der Menschenwürde in der Auslegung des Grundgesetzes bis heute erklärt. Abschnitt 4 erläutert kurz die Legitimation des Grundgesetzes: da nicht das gesamte deutsche Volk gefragt werden konnte, bezog es seine Legitimation wesentlich aus seinem Provisoriumscharakter.
In Kapitel 2, „Das Grundgesetz als Text“, erläutert Möllers in Abschnitt 1 zuerst Aufbau und Gliederung. Das Grundgesetz stellt einen Grundrechteteil voran, enthält dann zweimal drei Abschnitte zum Staatsaufbau (eine unnötig komplizierte und nicht immer eingängige Konstruktion), ehe es noch Bestimmungen zu Finanzverfassung, Notstand und Übergangsbestimmungen auflistet. Für Möllers aber ist eine Zweiteilung entscheidend: die 19 Grundrechtsartikel zu Beginn, das Scharnier der Staatsziele in Artikel 20 und dann der ganze Rest, der den Verfassungsaufbau vorgibt.
Im zweiten Abschnitt erläutert er dann anhand einiger Beispiele zentrale Normen des Grundgesetzes. Er erläutert den umfassenden Begriff der Menschenwürde, die in Deutschland einen einzigartig hervorgehobenen Platz vor allen anderen Normen besitzt; die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die vor allem eine Aspiration beschreibt, die von Konservativen und Reaktionären erbittert bekämpft wurde und bis heute bekämpft wird; die Meinungsfreiheit als konstitutives Element der Demokratie; das Eigentumsrecht und seinen schwammigen Cousin, die Verpflichtung zum Gebrauch für das Allgemeinwohl; die Bedingung, dass alles staatliche Handeln vom Volk auszugehen habe (also von vom Volk bestimmten Institutionen); die Rolle der Parteien, die er als eine weitere Überkorrektur aus Weimar empfindet, da ihre Konstitutierung als Staatselement zu allen Arten von unangenehmen Verflechtungen beitrug; den wohl missverstandendsten Artikel, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten (die eben nicht von politischem Druck befreit); und zuletzt den quixotischen Artikel 146, der die Abschaffung des Grundgesetzes regelt.
Im dritten Abschnitt beklagt er die Natur der Textänderungen des Grundgesetzes, die allesamt eher die sprachliche Schönheit des Originals zerstört hatten und auf ein Übermaß von verfassungsrechtlicher Festschreibung politischer Konflikte zurückzuführen sind, währen der vierte Abschnitt zur Sprache des Grundgesetzes gerade diese Schönheit noch einmal darlegt.
Das dritte Kapitel, „Das Grundgesetz als Norm“, erläutert im ersten Abschnitt den Vorrang der Verfassung: alle Bundes- und Landesgesetze müssen mit ihr konform gehen oder ihre Gültigkeit verlieren, ein entscheidendes Merkmal der Verfassung. Der zweite Abschnitt erläutert das Bundesverfassungsgericht in der Entwicklung des Grundgesetzes. Seine Existenz ist nicht selbstverständlich; der Bundesgerichtshof (BGH), der sich als direkte Fortsetzung des Reichsgerichts verstand und reaktionär ausgerichtet war, beanspruchte diese Rolle für sich und führte zähe Abwehrkämpfe gegen das BVerfG, die sich bis heute fortsetzen. Der dritte Abschnitt skizziert das Wechselverhältnis von Grundgesetz und Politik: das Grundgesetz beschränkt zwar die Politik; gleichzeitig aber beruft sich diese gerne darauf, weitet ihre Spielräume aus und nutzt es als aktive Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Üblicherweise stand das BVerfG in Opposition zu der jeweiligen Regierung und schränkte ihre Spielräume ein.
Diese Auseinandersetzungen werden dann im vierten Abschnitt, Politische Epochen im Spiegel des Grundgesetzes, genauer aufgeschlüsselt. Die institutionelle Konsolidierung und die Anfänge des BVerfG waren noch tastende Schritte, in denen die Richter das Abwägen von Grundrechten ebenso erfanden wie ihre Ausweitung. Diese wurden dann in der „permanenten Grundrechterevolution“ immer weiter ausgedehnt, indem das BVerfG die Bedeutung der Grundrechte und die Ansprüche der Bürger*innen darauf ausweitete. Das deutsche Recht erlaubt mit der Verfassungsbeschwerde hier ohnehin viel Spielraum. Die Notstandsgesetzgebung, die in den 1960er Jahren solche Sprengkraft entwickelte, hat sich in der Realität glücklicherweise als bislang irrelevant erwiesen, während das BVerfG in den 1970er Jahren den Reformeifer der sozialliberalen Koalition empfindlich beschnitt.
In den 1980er Jahren erlebte die Kohl-Regierung ähnliche Dämpfer, am berühmtesten wohl im Falle des Volkszählungsurteils 1983, bei dem das BVerfG das Recht auf informelle Selbstbestimmung erfand. Die Entscheidung, die Neuwahl 1983 über die absichtlich verlorene Vertrauensfrage zuzulassen, zeigte dagegen wie auch 2005 eine weise Selbstbeschränkung des Gerichts, politische Probleme den Politiker*innen zu überlassen. Leider ist solche Selbstbeschränkung nicht allzu häufig. Dass es 1989/90 nicht zu einer neuen Verfassung nach Artikel 146 gekommen sei, findet er angesichts der Qualität des Grundgesetzes und der Änderungsmöglichkeit nur folgerichtig.
Die großen Föderalismusreformen 1994 und 2006 ordneten das Verhältnis zwischen Ländern und Bund neu, was auch dringend nötig war: die Bundesländer erfüllten ihre eigentliche Aufgabe bereits lange nicht mehr und waren de facto bundespolitische Player geworden. Die wechselnden Mehrheiten im Bundesrat und die spätere Zersplitterung des Parteiensystems machten diesen zudem zuerst zu einem Blockadeinstrument und haben ihn heute zu einem bedeutungslosen Gremium einer peramenten Allparteienregierung verkommen lassen. Möllers kritisiert zudem die Ausweitung der Staatsziele, die ständig – konsequenzfrei – ins Grundgesetz geschrieben wurden und skizziert noch kurz die Internationalisierung des Grundgesetzes durch die europäische Integration, der auch die Struktur des Bundestags folgte.
In Kapitel 4 untersucht Möllers „Das Grundgesetz als Kultur“. Im ersten Abschnitt macht er sich an den Begriff des Verfassungspatriotismus, der als Ersatz für nationalstaatlichen Patriotismus seit den 1970er Jahren durch die Debatte geistert. Zwar schätzt er die rechtsphilosophische Untermauerung der entsprechenden Argumente, bezweifelt aber, dass dieser Verfassungspatriotismus Breitenwirkung entwickeln konnte und kann. Gleichwohl empfindet er die Idee, einen Patriostismus, der explizit vom Nationalstaat losgelöst ist (das Grundgesetz war ja ein Provisorium ohne Staatsvolk!) als wegweisend.
Im zweiten Abschnitt skizziert er kurz die Geschichte der Staatswissenschaft, die als Nebendisziplin der Jura im späten 19. Jahrhundert konsolidiert wurde. Sie beschreibt er als lange Zeit inhärent konservativ bis teilweise reaktionär, in latenter Opposition zum Parlamentarismus und in einem Bekenntnis zur Macht des Staates, was durch die Verschränkungen der Wissenschaftler*innen über Posten und Gutachten mit demselben nicht verbessert würde. Der dritte Abschnitt betrachtet kurz das Grundgesetz im Ausland, das dort in Möllers‘ Erzählung vor allem in lateinamerikanischen und asiatischen Ländern große Anerkennung genießt. Die deutsche Rechtstradition werde oft höher geschätzt als die angelsächsische, wenngleich sich diese dank der Sprache und amerikanisch-britischen Macht weiter verbreitet habe.
Im fünften Kapitel skizziert Möllers „Herausforderungen“. Im ersten Abschnitt geht es um die Herrschaft des Volkes und die Herrschaft des Rechts, also den Erhalt des Rechtsstaatsprinzips und der demokratischen Legitimation aller staatlichen Entscheidungsgremien. Der zweite Abschnitt zu Öffentliche Sicherheit und Schutz der Verfassung zeigt kurz das problematische Verhältnis zwischen allzu frei agierenden Geheimdiensten (vor allem des Verfassungsschutzes) auf, verwirft den angeblichen Dualismus von Sicherheit und Freiheit – Freiheit sei nur in Sicherheit zu haben – und erklärt die problematische Funktion von Parteiverboten. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit Religion. Die Vorrangstellung der christlichen Amtskirchen führe auf der einen Seite zu deren „Verstaatlichung“, erschwere andererseits aber die Gleichstellung solcher Religionsgemeinschaften, die nicht über halb-staatliche Organisation verfügen. Dieses Erbe des Parlamentatischen Rats wird sich kaum auflösen lassen.
Der vierte Abschnitt befasst sich mit der demokratischen Öffentlichkeit, die zu gewährleisten im Zeitalter des Internets und der privaten Medien nicht leichter wurde. Zwar bekräftigt Möllers wie das BVerfG grundsätzlich die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen, weist aber deutlich auf deren geschwundene Legitimation und wandelnden Kern hin (die immer stärkere Orientierung an Unterhaltung), die das immer schwieriger aufrechtzuerhalten mache. Ein weiteres heißes Eisen ist der fünfte Abschnitt, der sich mit der Wirtschaftsverfassung beschäftigt. Möllers weist emphatisch darauf hin, dass Regulierungen wirtschaftliche Freiheit oft überhaupt erst ermöglichen und daher zwingend notwendig seien. Er betont zudem, dass das Grundgesetz weder eine kapitalistische Wirtschaftsweise vorschreibe noch irgendeine andere bevorzuge; die Wirtschaftsverfassung sei vielmehr dezidiert im politischen Bereich zu verorten. Zuletzt befasst er sich im sechsten Abschnitt mit der Europäischen Union; nicht erst seit dem ultra-vires-Urteil des BVerfG ist das Spannungsverhältnis zwischen europäischen Rechtsnormen und denen des Grundgesetzes ein ähnlich virulentes Problem wie die Neigung von Regierungen, unpopuläre Beschlüsse über den Umweg transnationaler Organisationen laufen zu lassen.
In seinem Schluss, „Der fehlende Grund des Grundgesetzes“, versucht sich Möllers dann noch an einem Fazit. Wenig überraschend sieht er im Grundgesetz ein grundsätzlich relevantes und starkes Dokument, das allerdings im politischen Betrieb noch überbetont wird. Die Neigung der deutschen Politik, politische Fragen zu verrechtlichen, habe viele Nachteile. Er bewundert allerdings seine Fähigkeit, sich anzupassen und glaubt deswegen an seine Zukunftsfähigkeit.
Ich empfand die Lektüre als juristischer Laie als sehr erhellend, auch wenn mir viele Argumentationen aus den Politikwissenschaften bereits bekannt waren. Der schmale Band ist als Einstieg in die faszinierende deutsche Verfassungsstruktur hervorragend geeignet und liest sich sehr flüssig, ohne dass der Autor deswegen an Klarheit verlieren würde. Das alles gilt natürlich nur, wenn man ein gewisses nerdiges Interesse an Verfassungstexten hat. Aber das ist ja für Lyrik auch nicht anders.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: