Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Zeitgeschichtliche Perspektiven, Karten, Drachen, Black Hole, Militärgeschichte

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -

Bücher

Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael – Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970

Ich erinnere mich noch gut daran, im Wintersemester 2006/2007 mein erstes Hauptseminar bei Anselm Doering-Manteuffel belegt zu haben: „Profile der 70er Jahre“. Damals war die Erforschung dieser Epoche gerade in den Anfängen. Die Zeitgeschichte hat immer das Problem, dass sie, wenn sie zu nahe an die Gegenwart rückt, nicht nur unter dem fehlenden Zugang zu Quellen leidet (die Sperrfristen der Archive sind unerbittlich), sondern dass zeitgenössische Debatten und Begrifflichkeiten die Diskussionen beeinflussen und verundeutlichen. Zusammen mit Lutz Raphael hat Doering-Manteuffel deswegen schon 2008 den Band „Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970“ vorgelegt, der vor allem dazu dient, ein neues Grundgerüst für die Forschung über jene Epoche aufzubauen. Natürlich sorgte der Band in der Fachgemeinschaft für rege Diskussion, und so überarbeiteten die Autoren ihn und schärften ihre Argumente. Ich habe die dritte Auflage von 2010 gelesen und rezensiere diese hier.

Etwas strukturell gewöhnungsbedürftig startet der Band in einem Vorwort zur 2. Auflage direkt mit einer Reaktion auf die Kritik an den ersten zwei Auflagen. Die Autoren stellen erneut ihre Grundthese vor: das entscheidende Merkmal jener Zeit sei die Entwicklung der Wirtschaft hin zum digitalen Finanzkapitalismus. Damit verbunden sind Begriffe wie die Globalisierung und natürlich das World Wide Web. Beides sei durch einen gewaltigen technologischen Sprung in den 1990er Jahren massiv befördert worden. Die Autoren sprechen hier von einem „generationellen Bruch“, der die Lebenserfahrung der Menschen vorher und nachher trenne.

In ihrem Vorwort diskutieren sie auch diverse geschichtswissenschaftliche Meta-Debatten, die mir ehrlich gesagt schlicht zu hoch und die vor allem für die Forschung selbst von Interesse sind. Sie beenden es allerdings mit einer zweiten These, nämlich der eines revolutionären Umbruchs, der sich gleichwohl allmählich vollzogen habe und deswegen gerne unterschätzt werde. Stichworte seien hier die Preisgabe der klassischen Sozialdemokratie im Zuge des „dritten Wegs“ und die steigende Frauenerwerbstätigkeit.

Gefolgt wird das mit dem Vorwort zur 1. Auflage. Hier konkretisieren die Autoren den Anspruch, Problemgeschichte zu schreiben. Sie formulieren vier Arbeitshypothesen, vor allem um deutlich zu machen, dass sie keine festgefügten Theorien oder Antworten, sondern eben „Perspektiven“ bieten (was wohl in der Rezeption des ursprünglichen Bands nicht so klar war). Demnach sei die Epoche nach 1970 erstens eine Zeit des Strukturbruchs, zweitens durch die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit von Trends in ganz Westeuropa dominiert, benötige drittens in ihrer Erforschung eine neue Methodik, für die man sich vor allem aus den Sozialwissenschaften bedienen müsse und es sei viertens keine klare Epocheneinteilung möglich, da kausale Verschränkungen oft nicht auszumachen seien und stattdessen Gleichzeitigkeiten vorherrschten. Zudem formulieren sie bereits hier die These des generationellen Bruchs: manche Alterskohorten verfolgten die massiven Änderungen dieser Zeit nur als Zuschauer und würden von ihnen abgehängt.

Ich sage deswegen „strukturell gewöhnungsbedürftig“, weil die Vorworte auf eine gewisse Art sowohl die Kenntnis des Buches als auch der darum herrschenden Debatte voraussetzen und sich daher vor allem an das Fachpublikum richten; wie ich bereits erwähnte, bin ich da viel zu wenig drin, um alles nachvollziehen zu können, was im ohnehin nicht sonderlich zugänglichen Stil der Autoren beschrieben wird. Aber nun genug der Vorrede, wenden wir uns dem eigentlichen Band zu.

Er beginnt mit einer knappen Darstellung der Ära des Booms. Der Keynesianismus habe sich als Reaktion auf das Versagen der Neoklassik in der Vorkriegszeit durchgesetzt, ein großer Glaube an die Problemlösekompetenz des Staates habe vorgeherrscht. Der wirtschaftliche Aufstieg nach 1945 habe dem Westen massive Wohlfahrtsgewinne und ungeahnten und präzedenzlosen Lebensstandard gebracht. Ab 1970 habe die zunehmende Inflation, hervorgerufen durch eine Lohn-Preis-Spirale, die westlichen Wirtschaften immer stärker in die Krise gestrüzt. Das Rückgrat sei dem keynesianischen Konsens dann durch die Ölschocks 1973 und 1979 gebrochen worden, die die Energie stark verteuert und somit die Inflation weiter angeheizt hätten, während gleichzeitig die wirtschaftliche Entwicklung zu stagnieren begonnen hätte.

Dies habe zu einem radikalen Gegenentwurf geführt: Gefordert wurde von der Avantgarde der Monetaristen der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschene und die Bekämpfung der Inflation durch die Kontrolle der Geldmenge über die Leitzinspolitik der Zentralbank. Gleichzeitig entwickelten sich zahlreiche Protestbewegungen (Umwelt, Gesellschaft, etc.) im gleichen Geist einer Abwehr gegen den Staat, dem die Problemlösung nicht mehr zugetraut wird.

Die Epoche sei zudem durch einen Strukturwandel geprägt, der sich vorrangig als Krise des männlichen Fabrikarbeiters manifestiere. Die Automatisierung habe die Arbeitswelt nachhaltig verändert, neue Qualifikationen waren nun gefragt. Gleichzeitig mit der durch den Strukturwandel entstehenden Arbeitslosigkeit und der Inflation habe der Westen eine Ausweitung des Sozialstaats erlebt. Dies habe ein scheinbares Paradox geschaffen: Der Boom kam erst Ende der 1960er Jahre bei den Menschen an (die Autoren bemühen hier das Wirtschaftswunder-Leitbild vom „schwitzenden Idyll“), die nun an Konsum gewöhnt seien. Dieser neue (und bisher nie erreichte) Wohlstand müsse seither auch in Krisenzeiten aufrechterhalten werden. Es sei quasi ein neuer gesellschaftlicher Konsens entstanden.

Von der Öffentlichkeit bei weitem nicht so breit wahrgenommen sei der Aufstieg der sozialwissenschaftlichen Diagnosen. Die Sozialwissenschaften seien eine „wesentlicher Bestandteil der Nachkriegsordnung“ und als solcher sehr wirkmächtig. Bereits in den Planungsbehörden der 1950er und 1960er Jahre seien Sozialwissenschaftler*innen sehr stark vertreten gewesen, aber besonders ab 1970 sei ihre Expertise sehr gefragt gewesen, um Gegenwartsdiagnosen anzustellen. Diese Gegenwartsdiagnosen untersuchen die Autoren im zweiten und größten Kapitel des Bands, einerseits um die zeitgenössischen Debatten besser zu verstehen, andererseits um deutlich zu machen, dass die zeithistorische Forschung sich von diesen Begrifflichkeiten lösen und ihr eigenes Forschungskorsett entwickeln muss.

Die erste solcherart untersuchte These ist zugleich die älteste, nämlich die Modernisierungsthese. „Modernisierung“ sei in den 1950er und 1960er Jahren durchweg positiv verstanden und als eine Art Dreischritt definiert worden: Die Aufgabe der Politik sei die Anpassung an die Herausforderung des Fortschritts (der ihr auch zugetraut worden sei), seine krisenfreie Bewältigung und zuletzt der Ausbau der Demokratie als Antwort auf „Eigendynamik“ der Industriegesellschaft. Dieses Modernisierungsverständnis sei Ende der 1960er Jahre mehr und mehr in die Kritik geraten und in den 1970er Jahren nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen.

Die erste der großen skeptischen Thesen war die Postmaterialismus-These, postuliert von Ronald Inglehart 1977. Sie beobachte einen Wandel der Bedürfnisse der Menschen von rein materiellem Wohlstand hin zur zu Entfaltung der Persönlichkeit und mehr Partizipation in Politik und Gesellschaft. Ingleharts Arbeit beruhe ihrerseits auf den Ideen Daniel Bells, der fälschlich das „Ende der Ideologie“ ausgerufen habe (wegen des in den 1960er vorherrschenden keynesianischem Konsens) und als erster von „Struktuewandel“ gesprochen hatte. Inglehart streiche demgegenüber aber die Bedeutung der Generationen hervor. Er mache den Postmaterialismus am Geburtsjahgang 1946 fest. Vorher habe Materialismus vorgeherrscht. Insgesamt betrachte er das alles aber als Übergangsphänomen, das auf eine generelle Entdramatisierung der Konflikte innerhalb der Gesellschaft verweise.

Habe Inglehart den Postmaterialismus weitgehend positiv gesehen, wende die Wertewandel-These Elisabeth Noelle-Neumanns diesen ins Negative, indem sie einen pejorativen Begriff der Moderne nutze. Sie beklage einen Verlust traditioneller Werte und betrachte die neuen, in den 1970er Jahren aufkommenden Werte als sowohl neu als auch schlecht.

Dass der materielle Wohlstand überhaupt erst einen Postmaterialismus ermögliche, formulierte zu jener Zeit erstmals Helmut Klage, indem er postulierte, dass genau der materielle Wohlstand erstmals ein Konsumverhalten über der reinen Existenzerhaltung ermögliche. Er spreche von einer „lockenden, von Überfluss und individueller Unabhängigkeit bestimmten Zukunft“. Genau die Ablehnung des elterlichen Materialismus sei also überhaupt erst durch genau diesen Materialismus möglich geworden.

Die 1980er Jahre hätten sich dann vor allem durch eine große Skepsis gegenüber Zukunftserwartungen generell ausgezeichnet. Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ wird hier als als entscheidender Text genannt. In ihm würden sich die „chiliastischen“ Debatte über Technikfolgen der 1980er spiegeln. Sie würden ein gestiegenes oder überhaupt erst entstandenes Bewusstsein für die Risiken der Moderne ausdrücken, die der Einzelne nicht beeinflussen könne (etwa Atomkraft, Klimawandel oder Umweltverschmutzung). „Modernisierung“ werde erstmals in diesem Sinne negativ verstanden. Es sei allerdings wichtig zu betonen, dass Beck nicht grundsätzlich pessimistisch gewesen sei, sondern eine „reflexive Modernisierung“ als neues Leitbild gefordert habe, also ein kritisches Hinterfragen. In diesen Kontext gehöre auch die Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ oder die wachsende Umweltbewegung. Die Autoren sehen einen gleichzeitigen Bedeutungsverlust nationaler Politik und und eine Ausweitung des Politischen, weil sich komplett neue Handlungsfelder auftue – die im Vorwort erwähnten Gleichzeitigkeiten.

Deutlich philosophischer wird es mit der Betrachtung der Postmoderne. Damit sei entgegen dem konservativen Zerrbild keine Beliebigkeit gemeint. Vielmehr sei „Postmoderne“ ein Gegenentwurf zum gesamtgesellschaftlichen „engineering„-Anspruch der 1960er Jahre. Bordieu und Foucault wiesen auf die Bedeutung sozialer Systeme, von Druck und Ressourcen(mangel) hin und blieben damit bis heute relevant. Sie verzichteten auf umfassende Deutungsangebote und offerierten stattdessen eine Azeptanz der Unsicherheit. Die Postmoderne verabschiede sich damit endgültig vom Lenkungsanspruch des keynesianischen Konsens‘.

Auf dem politischen Gebiet sei in den späten 1980er Jahren in Reaktion auf den Aufschwung des Neoliberalismsu vor allem das Konzept der „Neuen Mitte“ aufgetreten. Anthony Giddens postulierte den sogenannten „Dritten Weg“, nachdem sowohl der Osten als auch der Westen durch den Zusammenbruch des Ostblocks ihren Sinn verloren hätten. Globalisierung und Deregulierung würden nun in die sozialdemokratische Politikkonzeption integriert, eine Verbindung „althergebrachter Probleme mit den aktuellen Bedingungen der Risikogesellschaft“. Dahinter stehe das Konzept von „Mitte-links“ als der früheren Arbeiterschicht, die jetzt neue Mittelschicht geworden sei. Die „neue Mitte“ habe einen neuer Schlachtruf: „Gemeinschaft ist grundlegend für neue Politik“. Dies sei wesentlich attraktiver als der „there is no such thing as society„-Thatcherismus gewesen. Die Erfolge in den 1990er Jahren sprächen auch für sich.

Auch wirtschaftlich habe sich in den 1990er Jahren einiges getan. Der Soziologe Manuel Castells stellte die These vom „informationellen Kapitalismus“ auf und redete von der „Netzwerkgesellschaft“. Der technologische Wandel bringe einen „Formbruch“. Castells beschrieb die Gesellschaft als eine Matrix mit fluider, zufälliger Gesamtsituation. Die Bedeutung des damals gerade die Flügel spreizenden Internets sei hier erstmals sichtbar. Daraus resultiere eine neue Wirtschaftsform mit den Merkmalen des Informationalismus, der Globalisierung und der Vernetzung, ein Prozess, der in USA und Japan gestartet sei, während Westeuropa deutlich hinterherhänge. Diese Thesen würfen Fragen nach der Flexibilisierung der Arbeit auf, die zur neuen und zentralen Anforderung an die Beschäftigten werde. Folgen habe dies auch für die Identität, die mehr und mehr fragmentiere (man kann die Identitätspolitik-Debatten unserer Zeit vermutlich in dieser Tradition sehen). Daraus resultiere Ende der 1990er Jahre dann der „informationelle Kapitalismus“, der neue Technologie und liberale Entgrenzung erstmals vereine. Die Autoren sprechen lieber vom „digitalen Finanzmarktkapitalismus“, den sie für den zutreffenderen Begriff halten. Grundsätzlich aber seien die Konzepte von „rechts“ und „links“ damit endgültig vorbei. Alle Gegenwartsanalysen seien nun Analysen des ständigen Wandels.

Zuletzt spricht der Philosoph Hermann Lübbe 1990 von der „geschrumpften Gegenwart“. Er hebe damit vor allem auf die zunehmend starken Brüche in Erwerbsbiografien ab, ein Phänomen, das Paul Virilo als „rasender Stillstand“ beschreibt: da die in der Vergangenheit liegende Ausbildung nicht mehr eine lebenslange feste Anstellung garantierten, sei die Zukunft inhärent unsicher; daraus resuliere der Verlust der Zukunft und Vergangenheit und der Bedeutungsgewinn der Gegenwart.

Weitere Autoren beschreiben die Angst vor dem Verlust von Struktur, vor allem Hartmut Rosa. Für manche Betroffene sei diese Beschleunigung ein Gewinn, den Menschen am unteren Ende des Spektrums nehme sie aber letzte Ressource weg, die ihnen bleibe: Zeit. Daraus resultiere ein „Zwang zur Flexibilität“ (Richard Sennett). Die Autoren kommen daher zu dem pessimistischen Schluss, dass es keinen allgemeinen Freiheitsgewinn im digitalen Finanzkapitalismus gebe. Sie sehen genau hier die größte Notwendigkeit zeithistorischer Forschung.

Nach diesem Parforce-Ritt durch die Ideengeschichte kommen wir zum dritten und letzten Kapitel: den titelgebenden zeithistorischen Perspektiven. Die Autoren stellen erneut eine Arbeitshypothese auf: der Strukturbruch könne nicht von einem einzigen Punkt aus analysiert werden. Stattdessen sei die Aufgabe der Zeitgeschichte die Entwicklung eigener Kategorien und die Erschließung bestehender sozialwissenschaftlicher Ergebnisse. Mehrere etablierte Forschungsfelder werden ausgemacht:

Erstens die vergleichende Politikgeschichte Westeuropas seit den 1960er Jahren. Die Autoren machen hier vor allem bei der vergleichenden Forschung noch Bedarf aus, während sie in der nationalen und Detailforschung große Erkenntnisse sehen. Zweitens der Ausbau und Umbau der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Auch hier sehen sie starke, auch vergleichende Forschung, die mittlerweile vor allem bezüglich des Ausbaus der Wohlfahrtsstaaten auch nach 1970 einen Konsens erreicht habe. Mehr forschende Aufmerksamkeit brauche vor allen der länderübergreifender Reformwandel vor allem seit 1990er Jahren.

Drittens wäre da die neue Armut und die Krise des sozialen Zusammenhalts. Hier bestehe ein sozialwissenschaftlicher europaweiter Aufschwung vergleichender Forschung seit 1990er Jahren, der für die Zeitgeschichte vor allem wegen den darin erkannten Exklusionsprozessen wertvoll sei. Viertens werden die Begleiterscheinungen und Folgen der Arbeitsmigration genannt. Die sozialwissenschaftliche Modernisierungsforschung erklären die Autoren unter anderem deswegen für weitgehend nutzlos, weil sie nur Detailbefunde ohne Wert für heute erbracht habe, da der Blick (in zeitgenössischer Verengung) noch nicht auf Migration gerichtet gewesen sei. Erst in jüngerer Zeit sei Migration als Phänomen überhaupt akzeptiert, ein gutes Beispiel dafür, wie die Scheuklappen der Gegenwart (unvermeidlich) die Forschungsfragen einengen.

Von all diesen Thesen ausgehend fordern die Autoren neue Themen für eine Zeitgeschichte nach dem Boom.

Der erste Komplex dreht sich um Industrieunternehmen und die industrielle Produktion. Sie stellen die Verbreitung des „fordistischen Produktionsmodells“ in der Gesellschaft in Frage, dessen „Krise“ in der traditonellen Geschichtsschreibung wie in der zeitgenössichen Sozialwissenschaft eine viel zu prominente Rolle einnehme und keine allumfassende Erfahrung darstelle. Als weitere Themenfelder sehen sie hier den Wandel des Selbstverständnisses von Unternehmer*innen und Manager*innen in den 1970er Jahren, die Änderung der Unternehmensbürokratie und -abläufe durch neue Technik und dei Neubewertung der Arbeit („Abschied vom Malocher“).

Der zweite Komplex sind die Infrastrukturen der Wissensgesellschaft. Die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren habe zu einem Anstieg wissensbasierter Tätigkeiten und einem Bedeutungsverlust körperlicher Arbeit geführt. Diese Infrastrukturen hätten eine Veränderung der Städte durch Wissensinstitutionen, vor allem die stark ausgebauten Universitäten, und die daraus resultierenden Ansprüche und Binnenmigratoon bedingt. Umgekehrt gehöre zu dem Thema auch der Verfall alter industrieller Strukturen.

Der dritte Komplex besteht aus Konsum, Konsumgesellschaft und Konsument*innengesellschaft. Die massive Erweiterung von Konsum und Wohlstand wurde bereits genannt. Ab den 1970er Jahren finde hier eine große Individualisierung statt, während der Konsum der 1950er und 1960er Jahre noch sehr standartisiert gewesen sei. Dies mache erstmals alternative Lebensentwürfe möglich. Für diesen Prozess bedeutsam sei auch der Aufstieg der (privaten) Medien. Die Autoren betonen die „Janusgesichtigkeit“ dieser Entwicklung, weil sie erst durch die Ausweitung der Sozialausgaben möglich geworden sei. Die disparate Quellenlage erschwere die Forschung massiv.

Der vierte Komplex dreht such um Geschlechterordnung und Körperbilder. Ab den 1960er Jahren sehen die Autoren eine Abkehr von der Idee des Körpers als mechanischem Apparat und eine eher medizinische und individuelle Betrachtung (diese These scheint mir etwa von Hedwig Richter aufgegriffen worden zu sein). Dies findet zeitgleich mit dem Abschied von klassichen Maschinen in der Wirtschaft (hier sehen wir erneut die Fragwürdigkeit der „Krise des Fordismus“). Die AIDS-Epidemie habe den medizinischen Blick stärker in Fokus gerückt. Die Autoren betonen auch die zunehmende Manipulierbarkeit des Körpers in der Konsument*innengesellschaft und seine Optimierung. Neue Zugänge zu Sexualität und der Geschlechterordnung verändern praktisch alles und seien noch unzureichend erforscht.

Der fünfte Komplex ist die Sinnsuche in neuen Erwartungshorizonten. Seit den 1960er Jahren sei ein deutliches Nachlassen der Bindekraft etablierter Kirchen zu beobachten (Tomas Brechenmacher spricht vom „Sog der Säkularisierung“). Die Menschen suchten neue Erklärungsansätze und neue Kombinationen bestehender Spritualität. Die Formen der Sinnsuche würden zunhemend privat, während ein „religiöser Kosmopolitismus“ im Aufschwung sei. Gleichzeitig sei aber eine wenngleich beschränkte Rückkehr des Fundamentalismus zu beobachten.

Die Autoren beenden ihren Band mit der Feststellung, dass es starke Umbrüche in der Zeitdiagnose und einen Wandel von Leitbegriffen gebe, vor allem bezüglich des Begriffs „postmodern“. Die Konzepte von „Fortschritt“ und „Modernisierung“ verlören ihre früher klar progressive Strahlkraft. Die Zeitgeschichte müsse eigene Begriffe entwickeln und schärfen.

Ich denke, es ist aus der Rezension deutlich geworden, dass dieser Diskussionsband sich an ein Fachpublikum richtet. Wer aber mit all diesen Meta-Diskussionen und ideengeschichtlichen Überblicken etwas anfangen kann, wird sicher sehr reich bedient. Die Kenntnis wenigstens der grundlegenden Konzepte wird aber klar vorausgesetzt. Die stark verdichtete und fremdwortreiche Sprache erleichtert den Zugang auch nicht eben.

Tim Marshall – Prisoners of Geography. Ten Maps That Explain You Everything About Global Politics (Hörbuch)

Als Annalena Baerbock 2021 das Amt der Außenministerin antrat, versprach sie einen Wandel der deutschen Außenpolitik hin zu einer „wertebasierten Außenpolitik„. Inhärent ist darin eine Ablehnung der sogenannten realistischen Außenpolitik, die ohne jede Werte in staatlichen Sicherheitsinteressen denkt. Eine Ausprägung dieser Denkart ist die Vorstellung von „Geographie als Schicksal“, also dass die geographische Lage eines Landes dessen Politik und Geschichte sowie Potenziale maßgeblich bestimme. Tim Marshall ist ein Anhänger dieser These und hat ein Buch vorgelegt, in dem er anhand von zehn Karten die Weltpolitik erklären möchte. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass dieser hehre Anspruch nicht nur nicht eingelöst, sondern in einer Flut von Klischees und Banalitäten ersäuft wird.

In seinem Vorwort stellt Marshall einige Prämissen auf. Demzufolge erkläre sich die Geopolitik zu weiten Teilen mit einem Blick auf die Karte. Dies macht er in zehn Kapiteln deutlich: Russland, China, die USA, Westeuropa, Afrika, der Mittlere Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika und die Arktis werden nacheinander analysiert. Das Wort von der „Analyse“ leistet in diesem Satz allerdings eine ganze Menge Arbeit, denn was Marshall überwiegend tut ist, vom Status Quo auszugehen und diesen einerseits oberflächlich zu beschreiben und ihn andererseits ebenso oberflächlich zu erklären – mal mit geografischen Merkmalen, mal ohne. Letztlich sucht er sich vor allem Argumente zusammen, die die Schlussfolgerung – heute ist, wie es heute ist – zu stützen. Dabei kann nur wenig Sinnvolles herauskommen.

So etwa stellt er für Russland fest, dass das Land im Osten so riesig und unwegsam ist, dass von dort kaum militärische Gefahr droht. Das dürfte eine Neuigkeit für die tausenden von Toten des Ussuri-Kriegs zwischen der UdSSR und VR China 1969 sein, aber die wahre Gefahr für Russland sieht Marshall in der Immigration Millionen von Chinesen in den Osten des Landes, wodurch die Volksrepublik langfristig die Region dominieren werde (was diese dystopische Migrationsvorstellung mit Geografie zu tun hat, bleibt allerdings unklar). Als strategische Grundkonstante nennt Marshall aber die offenen Flächen in Russlands Westen, die sich zu Polen hin auf eine Art Keil zusammenzögen. Dieser sei eine ständige Bedrohung, vor allem durch Deutschland, weswegen Deutschland und Russland auch ein ständig angespanntes Verhältnis hätten. Diese Dynamik mag für die Zeit 1871 bis 1945 einigermaßen funktioniert haben, aber sie scheint mir doch eine grobe Übersimplifizierung.

Der Präsentismus Marshalls wird nirgends so deutlich wie bei seiner Betrachtung der Krim. Das Buch ist 2016 erschienen, und die Krimbesetzung war frisch im Gedächtnis der Leute. Marshall schreibt viel darüber, wie wichtig ein Warmwasserhafen für Russland sei und warum es Interesse an den Dardanellen hat, was tatsächlich in beiden Fällen endlich einmal eine geografische Konstante ist, die sich auch über Jahrhunderte nachweisen lässt (wenngleich die Annahme, dass die Existenz eines „Russland“ so etwas wie eine Konstante ist, bereits sehr fragwürdig ist). Aber Marshall fällt dann in die Falle, der diese Denkschule häufig verfällt, indem er mit zynischer Kaltschnäuigkeit erklärt, dass die illegale Krimbesetzung einfach der natürliche Gang der Dinge und einzig denkenswertes Ergebnis sei. Die Geografie diktiert es! Das ist aber kompletter Humbug. Niemand hält Russland davon ab, friedliche Kooperation zu suchen, ganz sicher nicht die Geografie. Ansonsten könnte die EU nicht existieren, die – natürlich – auch natürliches Produkt der Geografie ist. Aber dazu später mehr.

Wir kommen als nächstes zu China. Marshall postuliert einen 4000 Jahre dauernden, mittlerweile abgeschlossenen, „natürlichen“ Prozess der Staatsbildung. China sei in den heutigen Grenzen quasi Endpunkt einer vier Jahrtausende dauernden Entwicklung. Mir fiele angesichts einer solch platten Teleologie ja der Löffel aus der Hand, aber Marshall ist offensichtlich mutiger als ich. Seit dem Einzug moderner Technik sei das Land nicht mehr von Reitern aus der mongolischen Steppe bedroht, weswegen aus dem Norden keine Gefahr drohe (erneut, ich wäre mir als Stratege da nicht so sicher). Im Westen sieht er vor allem Rohstoffinteressen, weswegen das Land – erneut die zynische Kaltschnäuzigkeit! – auch natürlich die Uighuren blutig unterdrücken müsse. Nach Süden bleibe China gar nichts anderes übrig, als Tibet zu unterdrücken, weil die Geografie diktiert, dass die Region entweder von China oder Indien dominiert wird (wenn aber Indien es dominiert, ist es dann noch eine natürliche Grenze? Fragen über Fragen!).

Nach Süden hin seien die einzigen wirklich „offenen“ Grenzen zu Vietnam und Kambodscha, weswegen China diese Länder auch seit Jahrhunderten dominiere. Die Vietnamesen dürften davon überrascht sein, denn das Land bewahrt sich seine Unabhängigkeit in oft genug blutigen Kriegen, genauso wie Korea, bereits seit ebenso langer Zeit wie China mit seiner oh so natürlichen Einigung verbringt. Einen Großteil des restlichen Kapitels verbringt Marshall mit der Betrachtung der maritimen Situation: die Chinesen seien keine natürlichen Seefahrer (Geografie, klar) und hätte im 16. und 15. Jahrhundert nur Handelsschifffahrt betrieben. So weit, so wahr. Seine Analysen sind hier auch am interessantesten, weil er die aktuellen geopolitischen Machtspiele zwischen China und den USA um künstliche Inseln, Märkte in Afrika und den Aufbau einer Flotte genauer analysiert und auch entsprechenden Sachverstand einbringt (ich stimme Marshall etwa völlig zu, wenn er erklärt, dass China zwar vielleicht 2050 eine Flotte hat, die von der Größe her die US Navy herausfordern kann, aber nicht vom doktrinären und taktischen Level her).

An dieser Stelle ist verständlich, dass Marshall zu den USA springt. Ich musste laut loslachen, als er erklärt, dass wer auch immer den nordamerikanischen Kontinent vereinigt, praktisch unangreifbar und mächtig ist. Ja, no shit, Sherlock. Wenn es jemals jemandem gelungen wäre, ganz Europa wirtschaftlich, kulturell und politisch zu einigen, wäre das auch ein Machtblock ohne jeden Rivalen. Allein, dass das gelungen ist, ergibt sich ja nicht natürlich aus der Geografie, auch wenn Marshall das insinuiert. Die restlichen Betrachtungen bestehen dann weitgehend aus Allgemeinplätzen über Amerikas wirtschaftliche Macht und seine Machtprojektion in alle Welt durch vorgeschobene Basen und die NATO, als ob irgendetwas davon Folge der Lage der Rocky Mountains wäre.

Ähnlich sieht es bei Westeuropa aus. Die gemäßigten Temperaturen, die kein Malaria kennen, mögen ja noch als Erklärung herhalten, warum sich hier positive Entwicklungen abgespielt haben. Aber auch hier greift Marshall zu teleologischen Erklärungsansätzen: weil die Industrielle Revolution in Europa stattfand, muss sie zwingend in Europa stattgefunden haben. Die den Kontinent durchziehenden Flüsse sind nachvollziehbarerweise hilfreich, da anders als in Afrika (siehe nächstes Kapitel) überwiegend schiffbar. Aber die Fragmentierung des Kontinents und die jahrhundertelange relative Unterentwicklung sind ihm kaum eine Silbe wert, und die Selbstzerstörung in zwei Weltkriegen spielt auch kaum eine Rolle in seinem Narrativ. Es läuft weitgehend darauf hinaus, dass Europa heute wirtschaftlich erfolgreich ist, weswegen das irgendwie in der Geografie angelegt sein muss (mit sehr vielen „Obwohl“-Satzkonstruktionen, nebenbei bemerkt).

Die fröhliche Vermischung kultureller und geografischer Gegebenheiten feiert fröhliche Urständ, wo es um Afrika geht. Dass die Sahara nicht eben die Entwicklung von Handelsrouten begünstigt, leuchtet ebenso ein wie mangelnde Schiffbarkeit der Flüsse oder die Krankheiten in tropischen Breiten. Aber wenn Marshall dann erklärt, dass jahrtausendelang keinerlei Entwicklung in Afrika stattgefunden habe und es keinerlei Einigungsprozesse gab, nur um dann in einem Halbsatz „sieht man einmal von einigen Imperien in Zentralafrika zwischen 1000 und 1800 ab“ hinzuwerfen, dann fällt schon auf, dass hier ernste Probleme herrschen. Den Kolonialismus behandelt er als Quelle der afrikanischen Rückständigkeit praktisch überhaupt nicht. Stattdessen werden Klischees von Stammesstreitigkeiten wiedergekäut, weil die afrikanischen Stämme halt nicht zusammen können. Auch hier – reden wir von Geografie oder von kulturellen Stereotypen?

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit dem Mittleren Osten. Die willkürliche Grenzziehung von Sykes-Pikot spielt die verdiente Hauptrolle, wenngleich auch hier gerne darauf verwiesen wird, wie unnatürlich es sei, dass die Leute zusammen in einem Gebiet wohnten. Generell befasst sich das ganze Kapitel nur wenig mit Geografie – sieht man vom unvermeidlichen Fokus auf Erdöl ab – und viel mehr mit dem Schisma zwischen Shia und Sunni, das zwar unbestreitbar wichtig, aber ebenso unbestreitbar nicht von Geografie beeinflusst ist. Die Schilderungen der Rivalitäten in der Region, vor allem mit Israel, aber auch etwa zwischen Saudi-Arabien und Iran, sind alle nicht falsch. Aber geografisch bedingt sind sie eben auch nicht. Nur für Israel spielt die Geografie tatsächlich die Hauptrolle, vor allem wegen der strategischen Bedeutung der Westbank und der schieren Größe des Landes, die ihm die strategische Tiefe nimmt und es ständig einem existenziellen Risiko aussetzt.

Ein ähnliches Problem plagt auch das folgende Kapitel über Indien und Pakistan. Immer wieder betont Marshall, wie unmöglich ein gutes Verhältnis zwischen Pakistan und Indien sei, als ob der Verlauf des Indus darüber bestimmen würde (mal abgesehen davon, wie problematisch diese Idee von „Stammes- und Religionskulturen erzwingen ständigen Konflikt“ ist). Die Beschreibungen der pakistanischen Sicherheitssituation dagegen sind sehr wohl geografisch bedingt; sowohl wenn es um die Grenzen nach Norden (Hindukusch) als auch Westen (Berge zum Iran) geht oder um die Bedeutung eines Süßwasserhafens etwa für die russische und chinesische Außenpolitik. Auch die Bedeutung des Punjab wird herausgestrichen, weil Pakistan von einer Landgrenze zu China massiv profitieren würde.

Der teleogolische Blick Marshalls wird aber bei Indien erneut deutlich. Zurecht verweist er darauf, dass das Land einerseits aus zahlreichen unterschiedlichen Volksgruppen zusammengesetzt ist und dass der Subkontinent auch schon immer dergestalt zersplittert war, aber als Erklärung dafür, warum diese weitgehend friedlich zusammenleben, findet er hauptsächlich zu der tautologischen Feststellung, dass Indien anders als etwa der Irak eine moderne Demokratie ist, die friedlich zusammenlebt. Weder erklärt das irgendetwas (es beschreibt nur den Status Quo), nocht hat es etwas mit Geografie zu tun. Interessanter sind da vielmehr die strategische Bedeutung des Himalaya-Plateaus als Grund für ständige Konflikte mit China (ebenso die Kontrolle des Indischen Ozeans) oder die Einengung Bangladeshs zwischen Myanmar (dass Marshall als „Burma“ bezeichnet, was angesichts seines neokolonialen Weltbilds kaum überraschend ist) und Indien für dessen Sicherheitslage.

Das nächste Kapitel befasst sich mit Südamerika. Hier argumentiert Marshall am meisten mit geografischen Gegebenheiten. Seine erste große These ist, dass der Kontinent allein dadurch einen gewaltigen Nachteil hat, dass er von allen anderen Kontinenten extrem weit entfernt ist und damit als Handelspartner uninteressanter als viele andere. Der nächste Punkt ist der Vorteil Panamas in seiner Dünne – diese erlaubte die größte geografische Umgestaltung der Menschheit, den Panamakanal. Den aktuellen Versuch Chinas, einen eigenen Kanal durch Nicaragua zu graben, erörtert Marshall ausführlich unter seiner geopolitischen Bedeutung, besonders im Hinblick auf eine globale maritime Präsenz chinesischer Großkampfschiffe.

Im eigentlichen südamerikanischen Kontinent sind einerseits die Anden bestimmend, die den Kontinent quasi durchschneiden und Handelswege erschweren, andererseits aber die Dschungel des Landesinneren (die dafür sorgen, dass etwa Brasilien immer noch große Probleme hat, seine Städte zu verbinden) und zuletzt das Hochplateau, das den meisten südamerikanischen Ländern am Atlantik keine Küstengebiete und wenig Häfen gibt, weil sofort die Steilküste aufsteigt (ein Fakt das, nebenbei bemerkt, schon Magellan plagte). Kurz gesagt: Südamerika hat zahlreiche Nachteile durch seine Geografie, die es unwahrscheinlich machen, dass der Kontinent seine Potenziale in der nächsten Zeit voll entfalten kann.

Das letzte Kapitel befasst sich mit der Arktis. Hier spielt die Geografie ebenfalls eine entscheidende Rolle, vor allem wegen des menschengemachten Klimawandels, der die die Geografie der Region schwerwiegend verändert. Die Arktis wird immer stärker schiffbar, was etwa Russland zahlreiche Trümpfe in die Hand gibt, und das sich zurückziehende Eis erleichtert den Zugang zu Rohstoffen deutlich – mit all den Konflikten, die damit einhergehen (Russland etwa fördert Migration nach Spitzbergen, wo bereits 40% der Bevölkerung russisch sind, um norwegische Ansprüche anzugreifen) und natürlich den Umwelt- und Klimaschäden.

Insgesamt bin ich von dem Buch sehr frustriert. Zwar enthält es einige sehr spannende strategische Analysen und Überlegungen, aber insgesamt verliert es sich viel zu sehr in Klischees, teleologischen Kurzschlüssen und oberflächlichen Beschreibungen. Das ist teilweise kaum vermeidbar, weil die Vorstellung, in einem nicht übermäßig dicken Buch die Welt zu erklären einerseits und der Anspruch, das vor allem mit Karten tun zu wollen andererseits kaum einlösbar sind. Der scheinbar abgeklärt-realistische, vor allem aber arrogante Blick Marshalls leistet dazu noch sein Übriges. Wer sich trotzdem die Lektüre geben will, sollte das Hörbuch nehmen – der Sprecher hat ein dermaßen blasiertes Oxford-Englisch, dass der Kolonialbeamtenton Marshalls voll zur Geltung kommt. Ob das vom Verlag beabsichtigt war, kann ich allerdings nicht sagen.
Elio Garcia/Lina Antonsson - The Rise of the Dragon: An Illustrated History of the Targaryen Dynasty, Volume One (Hörbuch)

Als im Herbst 2019 "Fire and Blood" erschien, waren nicht alle Lesenden komplett überzeugt (meine Besprechung hier). Die Geschichte der Targaryen-Dynastie (Teil 1) kam weitgehend ohne die ausgefeilten Charaktere und die personale Erzählperspektive aus, die "Das Lied von Eis und Feuer" zu einem solchen Kunstwerk machen, und bot stattdessen eine Art geschichtswissenschaftlicher Abhandlung, mit widerstreitenden Quellen, einem misanthropischem Blickwinkel und Beschreibungen von politischen Geschehnissen. Wer sich immer schon (oder durch die HBO-Adaption "House of the Dragon" neuerdings) für den Stoff interessiert hat, aber lieber eine kürzere, kondensierte Version gelesen hätte, mit ganz vielen Bildern, wird mit dem vorliegenden Prachtband glücklich werden.

Ein Disclaimer vorneweg: Ich bin mit Elio persönlich bekannt, was möglicherweise meine Sicht auf die Dinge färben könnte.

Bevor wir zum eigentlichen Verkaufsargument dieses nicht ganz billigen, aber im Regal ordentlich was hermachenden Schmökers kommen, will ich den Inhalt besprechen. Wie auch "Fire and Blood Vol. 1" erzählt "Rise of the Dragon" die ersten rund 150 Jahre der Targaryen-Dynastie. Die Handlung beginnt mit Aegon dem Eroberer, der aus unbekannten Gründen - "House of the Dragon" hat hier eine neue Möglichkeit eröffnet, die seither heiß disktutiert wird - auf einen Eroberungsfeldzug nach Westeros aufbricht. Dieser Teil der Geschichte, in dem es den Targaryens gelingt, die Westerosi weitgehend einzeln zu schlagen oder mit ihnen gemeinsame Sache zu machen (was an die Eroberung durch die Andalen 5000 Jahre zuvor erinnert, die in "Die Welt von Eis und Feuer" erzählt wird), gefällt mir wegen der relativen Kürze und prägnanten Erzählung ganz gut. Wie in Martins faux-history-Werken üblich bleibt die Charakterentwicklung weitgehend auf der Strecke, so dass man mit Hinweisen auf größere Tiefe Vorlieb nehmen muss. Etwas unterentwickelt bleibt Aegons eigentliche, immerhin 30 Jahre währende Regierungszeit, die sich eher als ein "Best of" liest: einen royal progress gemacht, angefangen King's Landing auszubauen, sonst ohne Spesen nicht viel gewesen.

Überraschend interessant ist für mich immer die folgende Ägide von Aenys, der als eine Art Echo von Viserys I. agiert, ohne allerdings die Stabilität und den großartigen supporting cast desselben zu haben. Die Dynastie steht in dieser Periode kurz vor dem Fall, was sie insgesamt etwas glaubwürdiger macht. Weniger spannend dagegen finde ich die Figur Maegors. Er bleibt eine absolute Chiffre und leider mit am meisten an der Geschichtsbuch-Perspektive, aber das ist teilweise auch in seinem insgesamt wenig interessanten Charakter angelegt, der die Neigung zu krasser Gewalt, die Martin inhärent ist, ein bisschen zu weit treibt.

Mein am wenigsten geliebter Teil der Geschichte bleibt aber die Regierungszeit von Jaeherys. Sie ist im schlechtesten Sinne realistisch, weil es ihr an jeglichem Fokus mangelt (wie echten Regierungen eben auch) und von Thema zu Thema mäandert. Leider sind auch die Themen selbst nicht übermäßig packend. Jaeherys ist eine grundunsympathische Figur, nur besteht der Text immer darauf, dass er ganz großartig ist, und das nicht in der typischen Martin-Manier, in der wir wissen, dass der aktuelle Erzähler unzuverlässig ist. Es scheint viel mehr, als teile der Autor diese Ansicht. Die mysogynen Episoden, die sich ständig wiederholen, und seine kalte Haltung als Familienvater, die einem ständigen Werben um den "World's Worst Dad Award" entspricht, lesen sich schlicht nicht besonders angenehm. Die ganze Periode würde deutlich von einer anderen Perspektive profitieren, aber eine solche bekommen wir nicht.

Das Herzstück der ganzen Epoche ist natürlich spätestens seit "House of the Dragon" die Herrschaft Viserys I. und des folgenden "Dance of the Dragons", dem Targaryen-Bürgerkrieg. Ich habe sowohl in vorangegangenen Rezensionen als auch im Podcast schon öfter festgestellt, dass mich diese Geschichte in Textform nicht wirklich mitnimmt (ganz anders als die brillante Umsetzung in der TV-Serie), aber hier profitiert "Rise of the Dragon" für mich am meisten von der Kondensierung der Inhalte. Viserys' Regierungszeit ist als Vorgeschichte interessant genug, und die Winkelzüge des Dance, die zwar logisch nicht immer makellos strukturiert sind und in denen vieles einfach passiert, gewinnen durch das Prisma der Serie massiv hinzu, weil man die Charaktere aus der Adaption vor dem geistigen Auge darüberlegen kann.

Für die Nachwehen des Tanzes - die Regentschaft für Aegon III. - gilt das leider weniger. Peake bleibt als Antagonist reichlich blass und ist ein archetypischer ehrgeiziger Intrigant, der "böse" auf die Stirn geschrieben hat (wie die Brackens, die auch nicht zu Martins bestgeschriebenem Haus gehören) und am Ende die wohlverdiente Abfuhr erhält. Es bleibt reichlich unklar, worauf die ganze Episode hinausläuft, weil die Geschichte mit dem Regierungsantritt Aegon III. endet. Auch das ist historisch gesehen sicherlich realistisch, führt aber nicht eben zu großem Lesevergnügen. Zu sehr bleiben viele der Beteiligten Chiffren.

Aber das alles ist in größerem Detailgrad und Umfang ja auch aus "Fire and Blood" bekannt, weswegen der Fokus nun auf die Gestaltung gelegt werden soll. Ohne Bilder ist es natürlich schwer, die Qualität von Illustrationen zu besprechen, aber Interessierte können problemlos diverse Beispiele googlen. Im Schnitt etwa jede dritte Seite ist mit einer ganzseitigen Illustration belegt, dazu kommen einige doppelseitige. Den Rest nehmen halbseitige Bilder ein. Sehr selten einmal sieht man eine Doppelseite reinen Texts. Angesichts der Trockenheit des Stoffs ist das sicherlich kein Nachteil, wenn mir diese Sansa-artige Bemerkung gestattet ist.

Die Bilder sind spektakulär. In zahlreichen verschiedenen Illustrationsstilen gehalten und oft in unerhörtem Detailgrad, allesamt farbenprächtig und im großformatigen Buch gut zur Geltung kommend, bieten sie ein Panorama der High Fantasy. Wer die Ästhetik der Serien erwartet, dürfte allerdings enttäuscht werden. Martin hatte schon immer eine Vorliebe für maximale Darstellungen, und dieser frönen die Artisten auch in der sorgfältigen Auswahl Elio und Lindas (die beiden haben sehr viel Zeit und Sorgfalt in die Zusammenarbeit mit den Illustratoren gesteckt). Ausgefeilte Plattenrüstungen, riesige Burgen, mächtige Flotten, gewaltige Drachen - diese Bilder haben alles. Außer, natürlich, schwarze Velaryons, aber das ist eine Diskussion, die ich hier nicht führen will.

Auf diesem Feld arbeiten die Eindrücke aus der Serie natürlich gegen das Leseerlebnis, weil man ständig die kognitive Dissonanz aushalten muss, einen völlig anderen Stil - und völlig andere Personen - zu sehen. Grundsätzlich habe ich damit kein Problem, mit einer Ausnahme: den Drachen. Die Designs der Serie sind so ikonisch und so gut durchdacht, dass ich jedes Mal einen Stich im Herzen spüre, wenn ich die Darstellungen im Buch sehe. Aber das ist eine rein subjektive und durchaus alberne Kleinigkeit.

Wenig überraschend ist der Kauf des Bandes für mich als Fan keine Frage gewesen. Ich habe ihn auch gerne gelesen, sicherlich mit mehr Genuss als "Fire and Blood" (das für mich immer mehr Arbeit bleibt). Elio und Linda haben gute Arbeit geleistet und die Texte sinnvoll kondensiert. Und die Gestaltung macht den Band zu einem echten Hingucker im Regal und beim Aufschlagen und Blättern zu einer wahren Freude.

Charles Burnes - Black Hole

Die Jugend in der Highschool ist für die meisten keine sonderlich positiv erinnerte Zeit. Die Veränderungen der Pubertät, erste sexuelle Erfahrungen, Ausgrenzung und allseitiges Unverständnis kennzeichnen den Lebensabschnitt kurz vor der Volljährigkeit und werden mit schöner Regelmäßigkeit in Highschool-Dramen ebenso wie in Highschool-Komödien verarbeitet. Für viele Jugendliche ist das allerdings keine Zeit, die sie als besonders positiv wahrnehmen, sondern eine, die von Entfremdung, Isolation und allen Arten von sozialen Ängsten gekennzeichnet ist. Es liegt daher näher als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat, die Highschoolerfahrung als Horrorgeschichte zu inszenieren. Im Graphic Novel "Black Hole" tut Charles Burns genau das. Das Resultat ist ebenso verstörend wie fesselnd.

Wir befinden uns in Seattle, Mitte der 1970er Jahre. Die Epoche selbst spielt für die Handlung nur eine untergeordnete Rolle; ich habe den Verdacht, dass es Burns vor allem wichtig war, eine gewisse Distanz vom gesellschaftlichen Umgang mit Sexualkrankheiten einerseits und mit einigen technischen Neuheiten andererseits zu schaffen. Denn in den Vororten der Metropole, wo die Mittelschichtenkinder aufwachsen und in die Pubertät kommen, geht eine mysteriöse Krankheit um, die ausschließlich sexuell übertragen wird. Da in einer Zeit vor AIDS und im Fahrwasser der sexuellen Revolution eine ganze Menge ungeschützter Sex möglich ist, scheint das Setting in den 1970er Jahren ideal zu sein.

Die Krankheit lässt die Betroffenen Mutationen entwickeln. Manche sind eher unauffällig - ein kurzer Schwanz etwa, ein kleiner Mund am Halsansatz, dergleichen - andere dagegen wesentlich entstellender. Jugendliche, die von letzteren betroffen sind, fliehen in die umgebende Wildnis und leben dort in Zeltgemeinschaften von den Dingen, die sie bei ihrer Flucht mitgenommen haben und dem, was ihnen später von (ehemaligen) Freunden und Klassenkamerad*innen gebracht wird oder was sie auf gelegentlichen Touren zurück in die Stadt besorgen können. Die anderen sind mit der Krankheit alleine und müssen sehen, wie sie mit den Veränderungen klar kommen.

Die Geschichte folgt einigen vergleichsweise austauschbaren Jugendlichen, die sich infizieren. Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: Chris, ein Mädchen, das sich auf einer Party infiziert als sie Sex mit Rob hat (der seine Mutation, einen zweiten Mund am Hals, geheimhält), und Keith, ein Junge, der auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist. Keith ist unsterblich in Chris verliebt, die zwar nett zu ihm ist - als praktisch einziges Mädchen der Klasse - seine Gefühle aber nicht erwidert.

Im Verlauf der Geschichte fliehen Rob und Chris in die Wälder, wo sie eine Weile im Zelt leben - ein Stück abseits einer schon länger dort lebenden Gruppe stärker mutierter Jugendlicher - und langsam, aber sicher verwahrlosen. Hier lernen sie auch Dave kennen, der ein entstelltes Gesicht hat, aber so etwas wie der Sprecher der Gruppe ist. Keith indessen begegnet auf einer Party Eliza, einem selbstbestimmten Mädchen, die einen Schwanz hat. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen.

Im weiteren Verlauf der Geschichte finden Keith und Eliza zu einer halbwegs funktionierenden Beziehung. Auch sie fliehen aus dem vorstädtischen Seattle, allerdings nicht in die Wälder, sondern klassisch mit dem Auto ins Motel. Dave dagegen ermordet Rob, ehe er - Keiths Gutmütigkeit ausnutzend - auch den Rest der Teenagergruppe tötet und dann Selbstmord begeht. Chris, die nicht um das Schicksal Robs weiß und versucht, ihn zu finden, verzweifelt immer mehr und schwimmt am Ende der Geschichte in den Ozean hinaus, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Der Graphic Novel hat keinen sonderlich prägnanten Plot, was in der Inhaltszusammenfassung glaube ich bereits deutlich wird. Stattdessen besteht die Anziehungskraft eher in der Stimmung, die er entwirft, und den Themen, die er anspricht.

Was mir hier vor allem auffällt ist das Gefühl der Isolation und Einsamkeit, dass Burns' Teenager umgibt. Erwachsene sind praktisch komplett abwesend. Die Krankheit und ihre Mutationen sind allseits als Fakt akzeptiert; die Betroffenen werden ausgegrenzt, aber nicht mehr als im Rahmen anderer Ausgrenzungen, wie sie im Teenagerleben normal sind. Die Entstellungen und Mutationen sind Metaphern, das wird aus dem Text ziemlich deutlich, und das auf sich allein gestellt Sein der Teenager ebenso.

Gerade diese Isolation und Einsamkeit verbindet sich mit den unerklärlichen, nur Teenager betreffenden Mutationen aber zu einer insgesamt sehr potenten Metapher für die Pubertät. Schließlich ist kaum in Gefühl in dieser Zeit so dominant wie das, dass niemand einen versteht. Jeder Teenager ist immer der erste, der die Pubertät durchmacht. Die Probleme sind gewaltig, unlösbar, erstickend, ohne dass ein Ausweg erkennbar wäre. In dieser Hinsicht ist der Graphic Novel sehr realitätsnah und authentisch.

Etwas merkwürdiger fand ich das Konstrukt der sexuellen Übertragbarkeit und der schieren Menge von Sex generell. Mir fehlt da natürlich die Erfahrung der 1970er Jahre (und, sind wir ehrlich, das ist für meine eigene Teenagerzeit nicht viel besser), aber ich kann mir nicht vorstellen, dass damals Sexualität zwischen Heranwachsenden die Norm war. Es wird allerdings im Graphic Novel nie wirklich thematisiert, dass ja vor allem die Schönen und Beliebten diese Krankheit bekommen, weil sie diejenigen sind, die Sex haben. Die Betroffenen sind auch alle entsprechend attraktiv gezeichnet, aber in der Geschichte selbst ist dieser Aspekt merkwürdig unterbeleuchtet.

Was hervorragend funktioniert ist dagegen einerseits die Fluchtreaktion der Teenager. Die wird hier wörtlich genommen, weil die Betroffenen in die Wälder ziehen und dort ein Hobo-Leben führen (erneut, ohne dass je jemand nach ihnen sucht, was die Indifferenz der abwesenden Erwachsenen zeigt), aber man kennt das ja auch aus der jugendlichen Lebensrealität: die mentale Flucht vor sehr realen Problemen. Ich sehe das ja allzu oft in der Schule auch.

Das Ende der Geschichte mit Daves Gewaltexzess ist von einer Hoffnungs- und Ausweglosigkeit geprägt, die der ohnehin bedrückenden Stimmung die Krone aufsetzt. Dazu tragen auch die Zeichnungen bei. Der in schwarz-weiß gehaltene Graphic Novel arbeitet mit starken Kontrasten und viel, viel Schwarz. Die Kontraste zeichnen sich gegen eine allgegenwärtige Dunkelheit ab, die die Stimmung vorgibt. Eine aufbauende Lektüre ist der Graphic Novel sicherlich nicht, und die offene Darstellung von Sexualität und Mutationen gibt dem Ganzen eine perverse Seite, die vermutlich nicht jedermanns Sache ist. Aber die Lektüre beeindruckt nachhaltig und bleibt hängen.

Peter H. Wilson – Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Hörbuch)

Deutsche Militärgeschichte ist nicht eben ein Feld, das arm an Veröffentlichungen wäre. Es ist allerdings ein Feld, das arm an zeitgenössischer, seriöser Forschung ist und eines, auf dem ansonsten die schlimmsten Exemplare der Populärwissenschaft unterwegs sind (ihr wisst schon, die Hälfte der Zeitschriftenauslage an Kiosken). Klischee reiht sich an Klischee, und in Deutschland selbst ist die Beschäftigung mit dem Gegenstand ohnehin wenn nicht mit einem Tabu belegt so doch zumindest vage unappetittlich. Wenig überraschend, dass die meiste Forschung aus dem englischsprachigen Ausland kommt. Der vorliegende Band, der im November 2022 ganz neu von Peter H. Wilson erschienen ist (bekannt etwa durch seine ausführliche Studie des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in „Heart of Europe“, das ich hier besprochen habe) und viele Vorschusslorbeeren erhalten hat, setzt sich explizit das Durchbrechen der typischen borussischen Klischees zum Ziel und legt eine Militärgeschichte aller deutschsprechenden Völker vor, der nicht beim Großen Kurfürsten, sondern über ein Jahrhundert vorher ansetzt. Allein dieser Ansatz macht die Lektüre wert. Doch der Band kann auch anderweitig bestechen.

Wilson macht von Beginn an klar, dass die Habsburger (und damit Österreich) einerseits und die Schweizer Eidgenossenschaft andererseits für ein tieferes Verständnis der Militärgeschichte Deutschlands unabdingbar sind. In aller gebotenen Kürze skizziert er die politische Situation am Eingang der Neuzeit und einige der wichtigsten Kriege, die in dieser Zeit gefochten wurden. Leider kategorisiert er diese nicht weiter, aber für mich war auffällig, dass diese grob in drei Kategorien fallen: Expansion des Territorium, wenn etwa die Schweizer versuchen, Norditalieb zu erobern; Kriege zur Durchsetzung politischer Ziele (nicht zwingend territorialer Art), etwa der Verhinderung von Unabhängigkeitsbestrebungen oder ihre Förderung; und zuletzt der Dauerkrieg gegen die Türken, die im 16. Jahrhundert rapide über den Balkan nach Ungarn hinein expandierten.

Die Hauptakteure sind hier einerseits die von den Habsburger geführten deutschen Fürsten, andererseits die Franzosen, die aggressiv ihren Einfluss zu erweitern suchten, und zuletzt eben die Osmanen. Wilson arbeitet heraus, dass die Ideologie des augustinischen „gerechten Krieges“ im Reich wesentlich länger prävelent war als etwa in Frankreich und Großbritannien, die fast 100 Jahre früher den Krieg als „Politik mit anderen Mitteln“, um anachronistisch Clausewitz zu bemühen, ansahen. Gleichzeitig verweist er auf die fast kreuzzugsähnliche Natur der Türkenkriege, für die die Habsburger bis weit ins 17. Jahrhundert hinein „christliche“ Koalitionen über Konfessions- und Landesgrenzen hinaus gewinnen konnten, wenngleich mit wenig durchschlagendem Erfolg. Er zeichnet auch nach, dass der „gerechte Krieg“ den Frieden als Normalzustand zwischen christlichen (!) Staaten betrachtete (gegen die Osmanen war Frieden gar nicht möglich, maximal Waffenstillstand), was die Herausbildung stehender Heere lange verhinderte, da man diese als Perversion des christlichen Friedensgebots sah.

Wilson wendet sich zudem stark gegen das Klischee von Söldnerheeren, das er vor allem auf Machiavelli und andere Autoren der Epoche zurückführt, deren unkritische Rezeption über die Jahrhunderte ein Zerrbild des Soldatenstandes jener Epoche geschaffen habe. Er nimmt den Wandel vom feudalen Heer zum Berufsheer stattdessen eher als einen Prozess wahr, der sowohl den logistischen Notwendigkeiten der Epoche als auch den politischen Verhältnissen geschuldet ist.

Die Schweizer spielen hier eine hervorgehobene Rolle. Wilson distanziert sich vom Narrativ einer proto-demokratischen Eidgenossenschaft, sondern beschreibt die Schweiz als oligarchische Stadt-Republiken, die die Aushebung und Disziplinierung von Soldaten sowohl als Kontrollmittel für die Bevölkerung als auch als Profitmöglichkeit sehen. Anstatt also die Freiheit der Eidgenossen zu steigern ist die Professionalisierung (und der Verkauf!) der Schweizer Infanterie im Gegenteil ein Prozess der Machtakkumulation einer neuen, patrizischen Elite in den Städten. Er zerlegt auch den Mythos der Schweizer Neutralität, den er auf Niederlagen einer agressiv expandierenden Schweiz gegen Frankreich und die mit dem französischen König folgenden Verträge einerseits und die Notwendigkeit der Wahrung eines inneren Friedens zwischen katholischen und protestantischen Kantonen andererseits fußen sieht. Hier betont er erneut die Bedeutung des „gerechten Krieges“: da in dieser Ideologie immer eine Seite im Unrecht sein muss und es Christenpflicht ist, der „richtigen“ Seite beizustehen oder wenigstens die andere nicht zu unterstützen, wurde es usus, sich einfach aus Konflikten herauszuhalten. Die Schweizer Neutralität ist somit eher der Vermeidung zerstörerischer Bürgerkriege geschuldet als einem höheren Prinzip.

Die Schweizer pionierten allerdings einige Entwicklungen, die auch im restlichen Deutschland bald nachvollzogen wurden: den Machtzuwachs der Infanterie. Statt adelige Reiterheere zu haben, verlagerte sich der Fokus auf disziplinierte Pikeniere und (vor allem anfangs) Hellebardiere, ergänzt durch Arkebusen-Schützen. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts sorgte die Weiterentwicklung der Musketentechnologie für einen immer größeren Anteil von Schützen, während die Pikeniere durch besseres Training besseren Schutz gewährleisten konnten. Die Kavallerie entwickelte sich indessen von der schweren Kavalliere, die immer weniger gegen Musketenfeuer ausrichten konnte, hin zur leichten Artillerie, die die Pikenformationen durch ständiges Beschießen in Bedrängnis bringen konnte.

Die Professionalisierung war umstritten, weil die Existenz professioneller Soldaten unvereinbar mit dem Konzept des „gerechten Krieges“ war: wenn Krieg der Ausnahmezustand durch das Verbrechen eines Aggressors war, brauchte man keine stehenden Truppen. Diese waren nur notwendig, wenn Krieg als normales politisches Instrument akzeptiert wurde. Gleichzeitig war der Staat gar nicht in der Lage, ein solches Heer zu unterhalten (einmal abgesehen davon, dass die meisten politischen stakeholder keinerlei Interesse daran hatten, dem Monarchen ein solches Instrument an die Hand zu geben). Die Bezahlung professioneller Soldaten bei Bedarf war da der logische nächste Schritt.

Diese Soldaten (das Wort kommt nicht ungefähr von „Sold“) unterwarfen sich einem eigenen Kodex, der an die Vasalleneide angelehnt war und der Einhegung der Gewalt sowohl gegenüber Zivilisten als auch innerhalb der Armee selbst dienen sollte. Dies führte zu einer Aufwertung ihres Standes, der eine kurze Phase ungekannter sozialer Mobilität ermöglichte, ehe Ende des 16. Jahrhunderts die „Kriegsherren“ die Kontrolle wieder erlangten und der Sold durch fehlende Anpassung an die Inflation soweit gesunken war, dass das Kriegshandwerk nicht mehr so lukrativ war. Die Soldaten hatten indes einen eigenen Ehrenkodex entwickelt, der anders als der aristokratische Kriegerkodex weniger von der individuellen Kampffertigkeit des Kriegers herrührte als von der gemeinsamen Disziplin und der Leidensfähigkeit in der Schlacht, die sich auch in einer besonderen Würdigung von Verwundungen als Zeichen der Einhaltung dieses Kodex ausdrückte (weil man sich gemeinsam den Gefahren aussetzte und nicht in den hinteren Linien drückte).

Auffällig für die Epoche ist auch, dass die Herrschenden zwar Infanterie und Kavallerie aushoben, die Artillerie in den deutschen Landen aber weitgehend eine Domäne der Städte blieb. Die Technologie war noch nicht sonderlich ausgereift, sehr teuer und, vor allem, technisch komplex, weswegen sie Experten bedurfte – was sich aber mit dem Idealbild eines nur für (seltene) Kriege ausgehobenen Heeres biss. Die Fürsten waren deswegen zufrieden damit, die Städte Artillerie stellen zu lassen, und die Städte waren zufrieden damit, diese neue Schlüsseltechnologie in ihrer Hand zu behalten.

Der letzte Aspekt der Kriegführung im 16. Jahrhundert waren die eskalierenden Kosten. Die Professionalisierung der Heere machte Kriege progressiv teurer, und bereits Mitte des Jahrhunderts kostete allein die Vorbereitung eines Krieges so viel wie zu Beginn der ganze Krieg selbst. Die Steuereinnahmen der Fürsten kamen dieser Kostensteigerung nicht hinterher, was einerseits zu einer Ablösung der feudalen Kriegspflichten durch Abgeltungszahlungen führte (die die Fürsten meist auf ihre gebeutelten Untertanen abwälzten) und neben der Logistik, deren Unzulänglichkeiten die Zeit der aktiven Kriegführung auf Juli bis November begrenzten und damit entscheidende Siege verunmöglichten, eine wirtschaftliche Kriegführung begünstigten, in der die Armeen lieber feindliche Zivilisten als feindliche Truppen angriffen.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatten nicht nur die Kosten des Krieges, sondern auch die Größe und Zerstörungskraft der Armeen zugenommen. Wilson beschreibt die hohen Todesraten innerhalb der Armeen, die weniger auf Gefechtstote zurückzuführen waren, sondern auf Krankheiten. Diese waren für die Bevölkerung generell tödlich – allein der Schwarze Tod suchte Mitteleuropa im Schnitt einmal pro Generation mit Todesraten um die 60% des Infizierten heim -, für Soldaten in den völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen aber erst Recht. Dazu kamen Seuchen, die vor allem in den Feldlagern auftraten, etwa Typhus. Die meisten Soldaten verhungerten, erfroren oder krepierten an Seuchen. Ein weiterer spannender Nebeneffekt ist die Rolle von Frauen in der Armee. Diese besaßen Anfang des 16. Jahrhunderts noch kodifizierte Rechte (so waren etwa die Genossinnen der Soldaten noch vor deren Ehefrauen erbberechtigt, was den direkten Besitz des Soldaten anging), aber die Fürsten versuchten Stück für Stück, die Soldaten zu „ehrbaren Männern“ zu machen, was natürlich die Anwesenheit von Trossfrauen nicht reduzierte, aber deren sozialen Stand stark reduzierte und die populäre Gleichsetzung mit Prostituierten beförderte, auf deren sozialen Stand diese Frauen gedrückt wurden.

Die Struktur des Buches wiederholt sich nun. Erneut wird uns zuerst die Politik mit den entsprechenden Kriegen skizziert, ehe die Entwicklung der Kriegführung und die damit verbundenen gesellschaftlich-politischen Änderungen analysiert werden.

Der relevanteste Konflikt jener Epoche ist natürlich der Dreißigjährige Krieg. Wilson stellt gleich zu Beginn klar, dass dieser, entgegen mancher teleologischer Betrachtungen, nicht unvermeidbar war. Immerhin hatte der Augsburger Religionsfrieden 70 Jahre gehalten; die Vorstellung, dass die konfessionellen Gegensätze einen europäischen Flächenbrand unausweichlich gemacht hätten, ist offensichtlich falsch (nebenbei bemerkt gilt dasselbe in meinen Augen für 1914). In den ersten Kriegsjahren macht er auch zwei Punkte aus, an denen der Krieg bereits gut wieder hätte vorbei sein können (die Niederlagen der Aufständischen gegen Habsburg und die katholische Liga), ein kontrafaktisches Ergebnis, das wahrscheinlicher als die durch diplomatische Fehler hervorgerufene Verlängerung des Krieges selbst war.

Die Fehleinschätzungen, die für eine Fortsetzung des Böhmischen Krieges sorgten, zogen dann nach und nach fremde Mächte mit in den Konflikt, die meist aus peripheren Gründen in Deutschland aktiv wurden und deren Engagement dann eskalierte. Schweden ist davon sicher der bekannteste. Die Schweden unter Gustav Adolf versuchten, im protestantischen deutschen Norden eine eigene Machtbasis zu sichern, um ihre Expansion an der Ostseeküste abzusichern (besonders im Hinblick auf Polen-Litauen und Russland). Das war soweit strukturell für das Reich nichts Ungewöhnliches; Einfluss, Vasallenschaft und Bündnisse mit nicht-deutschen Mächten hatte es auch zuvor gegeben. Auch hier sorgte der Kriegsverlauf selbst für eine Eskalation.

Auch Frankreichs Eintritt in den Konflikt steht für Wilson unter diesen Vorzeichen. Dass der Krieg, egal wie er enden würde, die Struktur des Reiches massiv umgestaltete, war für alle Beteiligten offensichtlich. Ein starker Machtgewinn der Habsburger war für die Nachbarn nicht akzeptabel, die daher immer wieder eingriffen. Das Reich wandelte sich in dieser Zeit: wo in früheren Konflikten (Stichwort „gerechter Krieg“) der Reichstag die Unterstützung der Reichsstände für Konflikte gab (oder eben nicht), handle es sich hier um eine Art reichsinternen Bürgerkrieg. Besiegte wurden ihrer Ränge und Ländereien enthoben, die Ländereien umverteilt. Die Machtgleichgewichte verschoben sich daher massiv.

Habsburg begann gleichzeitig, eher als einzelne Macht zu operieren und verbündeten Mächte als solche zu betrachten; die Idee einer gesamtdeutschen Kriegsfolge geriet demgegenüber immer mehr in den Hintergrund. Der Krieg brachte den Prozess, dass Habsburg zwar die Kaiserwürde besaß, sich aber immer mehr als eine eigene Kraft sah, die mit dem Reich nur teilidentisch war, wenn nicht ins Rollen, so doch zumindest in eine erhebliche Beschleunigung.

Der zweite große Konflikt jener Epoche ist der Spanische Erbfolgekrieg (oder besser: die spanischen Erbfolgekriege), die für Wilson deutlich unterschätzt werden (er nennt sie den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“). Die Zahlen sprechen für sich: während der spanischen Kriege mobilisierten die Mächte teilweise mehr Soldaten als für den Kampf in Deutschland. Diese Kriege waren extrem komplex und wurden durch mindestens ebenso komplexe Vertragswerke beendet. Als Endergebnis rutschte Spanien endgültig in den Rang einer sekundären Macht ab.

Die Betrachtung der Folgen dieser Epoche befasst sich notwendigerweise mit der Frage nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Wilson ist hier deutlich revisionistisch unterwegs. Er sieht die meisten Opferzahlen (die gerne im Bereich von 30-40% liegen) als überhöht und letztlich Propaganda an und schätzt sie eher auf 15-20%. Gleichwohl gibt es starke regionale Unterschiede (Österreich etwa verzeichnet sogar einen Bevölkerungszuwachs, während etwa Württemberg knapp die Hälfte seiner Bevölkerung verliert). Auch die Kriegsgräuel, weil unzweifelhaft vorhanden, wurden im Endeffekt übertrieben – weniger in ihrer Existenz als in ihrer Einzigartigkeit und Massierung für den Krieg. Wilson stellt als Hypothese in den Raum, dass beim Zensus 1648, bei dem die Fürsten die Steuerbasis ihrer verheerten Ländereien neu zu errechnen suchten, die Versuchung gewaltig war, sich als schlechter darzustellen als in Realität und alle Misswirtschaft auf den Krieg zu schieben.

Wilson spielt auch die „entfesselte Soldateska“ jener Epoche herunter. Für ihn ist der Dreißigjährige Krieg kein Bruch mit vorherigen Zeiten; die Heere hätten sich in ihrem Auftreten nicht dergestalt verändert. Der Krieg ernährte sich entgegen des populären Sprichworts eben nicht, sondern wurde durch Steuern und gewaltige Schulden finanziert. Wallenstein als Kriegsunternehmer sei eher die Ausnahme als die Regel gewesen: zwar war es normal, Regimenter und kleinere Einheiten als Unternehmen zu betreiben, aber das Wallenstein’sche Ausmaß war eine Ausnahme und sollte auch nicht permanent sein: Wallenstein wollte mit Krieg aufhören und sich zur Ruhe setzen, er wurde durch dynastische politische Ereignisse zurück in den Krieg gezwungen. Damit setzt sich Wilson deutlich von der Idee ab, dass die Soldaten und ihre Anführer selbst den Krieg vorangetrieben hätten und platziert die Schuld klar bei den Fürsten.

Die Heere blieben insgesamt zahlenmäßig vergleichsweise klein, weil größere Ansammlungen logistisch nicht machbar waren. Die Zunahme der Armeegröße sorgte stattdessen her für mehrere Heere. Normale Größen waren 10.000 bis 20.000 Mann; selbst die größten Schlachten sahen unter 60.000 auf beiden Seiten. Praktisch irrelevant war bis auf Belagerungen die Artillerie, die weder transportiert werden konnte noch durchschlagkräftig oder effizient war. Stattdessen dominierten immer noch Piken- und Musketierhaufen. Wilson äußerst sich ausführlich zum Verhältnis der Truppen.

So nimmt die Bedeutung der schweren Kavallerie rapide ab, während leichte Kavallierie an Bedeutung gewinnt (deren Pistolen gleichwohl unterperformen, weil sie eine minimale Reichweite haben). Der Tod der Pferde sorgte dafür, dass zum Ende der Feldzugsaison zwischen 25% und 50% der Kavalleristen üblicherweise liefen. Die Pferdebestände wurden über den Winter wieder aufgestockt, und das Spiel wiederholte sich im folgenden Jahr. Die Sonderrechte der Kavalliere, die bisher auch organisatorisch völlig von der Infanterie getrennt war, wurden Stück für Stück abgeschafft. Dadurch entwickelte sich eine Art Professionalisierung der Kavallerie.

Ebenfalls viel Raum gibt Wilson der Debatte um das Verhältnis von Musketieren zu Pikenieren. Er postuliert, dass die Vereinfachung, ein größerer Musketieranteil entspreche einer moderneren Armee, keinesfalls zutreffend sei. Die technischen Schwierigkeiten der Musketen (hohe Ausfallrate, schlechte Treffsicherheit, Pulverdampf) stellten dagegen klare Limits für einen sinnvollen Einsatz dar (als interessante Seitenbemerkung sei erwähnt, dass die zeitgenössischen Darstellungen von quadratischen Formationen anachronistisch sind seien und Kopien von Laien aus Militärhandbüchern des 16. Jahrhunderts darstellten).

Ein letzter Aspekt der Epoche war die weitere Professionalisierung des Soldatenstandes. Erstmals gab es Versuche der Wundversorgung und Pensionskassen (wenngleich natürlich völlig unzureichend). Die Größe des Trosses sollte zudem reduziert werden. Zudem wurden die Musterungen zunehmend stärker bürokratisiert und boten weniger Anlass für persönliche Bereicherung. Diese Professionalisierung allerdings hatte klare Grenzen: Soldaten wurden außerhalb der Feldzüge immer noch ausbezahlt und entlassen, was zu dem Phänomen führte, dass bewaffnete, arbeitslose Banden sich zusammenschlossen, um vom Ort ihrer Entlassung wieder nach Hause zu kommen – ein Rezept für Chaos und Gewalt, das dazu führte, das bis zum Ende des Jahrhunderts die Entlassungen wie die Musterungen immer mehr organisiert und gestreckt wurden.

Die nächste Epoche, der sich Wilson zuwendet, ist die Zeit von 1714 (als die Kriegswirren des „langen“ 17. Jahrhunderts endlich endeten) bis 1815. Mich erstaunte in der Schilderung, dass er sich weigerte, 1791 als einen klaren Bruch zu sehen, und in der Schilderung der politischen Geschichte wie der folgenden Analyse wird schnell klar, warum. So viel sei schon einmal gesagt: Wilson ist auch hier revisionistisch unterwegs.

Aber zuerst tritt nun zum ersten Mal Preußen auf den Plan. Wilson verwahrt sich klar gegen die borussische Teleologie von „Preußens Mission zur Einheit Deutschlands“ oder ähnlichem Unfug, der Preußen als Sendboten der Moderne gegen ein veraltetes, verkrustetes Habsburg sieht. Immer wieder betont er, wie bereits für die vorangegangene Epoche, dass vielmehr nicht eindeutig klar war, welche der beiden Mächte tatsächlich die Überhand gewinnen würde. Zwar siegte Preußen. Doch sollte man vorsichtig sein, das überzubewerten. An mehreren Stellen in den Schlesischen Kriegen stand die Sache spitz auf Knopf, und die Wahrscheinlichkeit, dass Friedrich II. wie der schwedische Karl XII. während einer Schlacht getötet würde, war recht hoch – und hätte das abrupte Ende des preußischen Großmachtstrebens bedeutet. Manchmal sind einzelne Personen in der Geschichte eben doch entscheidend.

Überhaupt ist Friedrich eine sehr ambivalente Person. Er habe sämtliche Entscheidungskompetenz auf sich vereinigt, unter anderem aus einer schlichten Hybris heraus, aber auch aus einer Vergötterung Alexander des Großen und Ludwig XIV. (in seinen ersten Schlachten befand er sich sogar wie Alexander auf der rechten Flanke, obwohl das für Taktiken des 18. Jahrhunderts völliger Unfug war und seine Übersicht und Befehlseffizienz erheblich einschränkte). Friedrich war aber damit Avantgardist einer generellen Tendenz des Jahrhunderts: der Machtkonzentration bei den Fürsten und der Entmachtung ständestaatlicher Entscheidungsgremien. Die Armeeführung fiel weg vom Adel hin zum Fürst, der sie wiederum den sich herausbildenden Stäben übertrug.

Die Kriege selbst entsprachen einem Wandel gegenüber dem vorhergehenden Jahrhundert: endgültig war nun Krieg als legitimes politisches Mittel akzeptiert. Sie wurden aus machtpolitischen Erwägungen geführt, die allein ausreichten, um sie zu legitimieren. Oft brachen Fürsten sie vom Zaun, wenn sie eine günstige Gelegenheit sahen (so etwa Friedrich im Ersten Schlesischen Krieg, als Österreich anderweitig beschäftigt und innenpolitisch durch die weibliche Thronfolge geschwächt war). Ständige Umbildungen von Allianzen sorgten ebenso dafür, dass keine Macht je komplett dominant werden konnte.

Auffällig ist auch die weitere Umgestaltung des Reiches selbst durch die Kriege. Friedrichs Kriege gegen Österreich waren technisch gesehen Rebellion gegen den Kaiser, aber zunehmend wurden die einzelnen deutschen Länder als eigenständige Mächte mit ebenso eigenständiger Außenpolitik gesehen. Wie auch im Dreißigjährigen Krieg versuchten die Habsburger, die Reichsstände zur Mobilisierung zu nutzen. Aber gerade diese Nutzung nutzte das Instrument deutlich ab und veränderte das Reich mehr und mehr, weg von der großen Föderation hin zu einem Bund von machtvollen Einzelstaaten. Die Arrondierung im Zuge der Gebietsverluste und -gewinne zerstörte weiter die Legitimation, weil sie scheinbar ewige Titel und Grenzen grob missachtete.

Die Epoche sah auch den graduellen Abschied vom Milizensystem. Wilson stellt heraus, wie integral dieser über zwei Jahrhunderte dauernde Prozess mit dem Söldnerwesen und der Professionalisierung von Soldaten zu tun hatte. Die freiwilligen Milizen waren noch im 15. und 16. Jahrhundert das Rückgrat des monarchischen Militärs. Sie waren in drei Gruppen organisiert (jung und unverheiratet, verheiratet und mittelalt, alt), die in skuzessiver Steigerung herangezogen wurden, falls es zum Krieg kam. Dieser war ja „gerecht“, weswegen sie nur in Notfällen gebraucht wurden. Diese Milizen wurden dann durch die Anwerbung von Profis (Landsknechte) augmentiert. Da die Kampfkraft der Milizen relativ zur technischen Entwicklung abnahm, wurden immer mehr Profis angeheuert. Doch das brachte das Problem auf, was man mit diesen machen sollte, wenn kein Krieg herrschte – weswegen ein Kern eines stehenden Heeres aufgebaut wurde. Dieser Prozess wurde durch den Dreißigjährigen Krieg noch einmal deutlich beschleunigt.

Er spielte auch eine entscheidende Rolle für die Schweiz, die am Milizensystem festhielt und dieses als konstituiv für das eigene Staatswesen verklärte, in dem angeblich wackere Männer die Eidgenossenschaft verteidigten. In Wirklichkeit bestand es praktisch nur auf dem Papier. Die Hauptstärke der Schweiz bestand in den Profis, die sie an die europäischen Herrscher verkaufte (bevorzugt Frankreich, mit dem ein offizielles „Bündnis“ bestand, das aber eher ein Pikenier-Abo war). Als Napoleon die Schweiz dann Ende des 18. Jahrhunderts angriff, fiel sie wie ein Kartenhaus zusammen. Die berühmte Schweizer Neutralität hatte nie in ihrer militärischen Stärke bestanden (das war eine wohltuende Propagandalüge), sondern im Verkauf der Truppen, der dafür sorgte, dass niemand die Schweiz ernsthaft attackierte. Auch Österreich hatte wenig Probleme, Anfang des 19. Jahrhunderts die Schweiz zu besetzen, um gegen Frankreich durchmarschieren zu können. Die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, das ist ein Punkt, den Wilson immer wieder einhämmert, war ein Produkt der Politik, nicht des Militärs.

Eine untergeordnete Rolle spielt die Marine. Zwar besaßen die deutschen Staaten, vor allem Österreich und die Nordseestaaten, im 16. und 17. Jahrhundert durchaus Schiffe. Aber auch diese waren effektiv als Milizen organisiert: Handelsschiffe wurden im Kriegsfall bewaffnet, Kriegsschiffe im Frieden als Handelsschiffe benutzt oder abgewrackt. Mit dem Fortschriten der Technik war dies immer weniger möglich, und Ende des 18. Jahrhunderts besaßen die deutschen Staaten de facto überhaupt keine Salzwassermarine mehr, weil die technologischen Kenntnisse, Infrastruktur und das Geld dafür überhaupt nicht vorhanden waren. Dies würde sich erst im späten 19. Jahrhundert mit der Reichsgründung ändern.

Mich hat überrascht, dass Wilson die französische Revolution und napoleonischen Kriege dezidiert in die gleiche Kategorie steckt wie die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts. Es macht aber Sinn, wenn man sich ansieht, wie er sie organisationshistorisch untersucht. Der Krieg begann recht klassisch: Preußen und Österreich wollten einen Politikwechsel erzwingen (die Restaurierung der Bourbonenherrschaft) und sandten zu diesem Zweck vergleichsweise kleine Armeen nach Frankreich. Das hätte vielleicht ausgereicht, wenn sich die Franzosen an die Spielregeln gehalten hätten – was diese aber nicht taten.

Wilson hebt dabei gar nicht so sehr die levée en masse hervor, die er ähnlich dem Schweizer Milizensystem vor allem als Propagandamythos sieht, da die zahlreichen Ausnahmen und hohen Desertationsraten die Praxis gegenüber dem königlichen Heer gar nicht so sehr änderten – auch die Könige hatten in Kriegszeiten zehntausende von einfachen Soldaten rekrutiert. Das bekam jetzt nur einen republikanischen Anstrich (echte Massenmobilisierung sollte noch bis ins 19. Jahrhundert warten müssen). Stattdessen lag die Radikalität der Franzosen in ihrer Bereitschaft zu einer 18.-Jahrhundert-Version des totalen Krieges: sie ignorierten Verluste wesentlich mehr und akzeptierten Niederlagen nicht. Wilson macht dies an der Schlacht von Valmy deutlich: Diese endete militärisch unentschieden und war eher unbedeutend, weil die Kanonade auf beiden Seiten zu geringen Verlusten führte. Die preußische Armee vollzog einen taktischen Rückzug, wie er für die Kriegführung damals normal war. Die Franzosen interpretierten das aber als rauschenden Sieg und überhöhten diesen propagandistisch, was den Krieg wesentlich verschärfte.

Nichtsdestotrotz wurden die verschiedenen Koalitionskriege aus Sicht Wilsons weitgehend klassisch geführt. Die Truppenzahlen nahmen zu und es gab einige technologisch-taktische Verschiebungen (etwa die gestiegene Rolle der Artillerie, während die Kavallerie den Höhepunkt ihres europäischen Prestiges und ihrer Durchschlagskraft hatte, aber – in einem Vorzeichen der weiteren Entwicklung – extrem hohe Verluste hinnehmen musste), aber die Organisation der Armeen (die hier zum ersten Mal die Struktur von Korps aufwiesen, die gleichwohl ein Kriegselement blieben; die Friedensarmeen gingen auf Regimentebene zurück) erinnerte noch stark an das 19. Jahrhundert.

Die Napoleonischen Kriege waren für den Kontinent allerdings eine einschneidende Erfahrung. Die Verlustzahlen waren sehr hoch (wenngleich proportional auch nicht höher als in früheren Kriegen) und sie berührten einen größeren Teil der Bevölkerung mittelbar, weil die gestiegenen Armeegrößen eine logistische Belastung bedeuteten, die sich in schwerwiegenden Störungen des Wirtschaftslebens und drückender Abgabenbelastung zeigte, eine Abgabenbelastung, die nach dem Krieg übrigens nicht mehr heruntergefahren wurde.

Besondere Aufmerksamkeit bekommt die Zerschlagung des Reiches durch die Gründung des Rheinbunds und sein Ende 1806. Überall wurden mehr oder weniger erfolgreich Reformen durchgesetzt. Wilson beschäftigt sich am intensivsten mit denen in Preußen und widerlegt den Mythos von den radikalen Schwarzenberg’schen Reformen, die wesentlich mehr Stückwerk blieben als intendiert, schon allein, weil die Beharrungskräfte so groß waren. Auch den Mythos um die Freikorps im von den Fürsten nur sehr zögerlich ausgerufenen nationalen Befreiungskrieg gegen Napoleon sieht er vor allem als Propagandagag; die Freikorps hatten wenig militärischen Wert und eine nur geringe Größe. Die Fürsten fürchteten, wohl nicht zu Unrecht, das Gespenst des „Volkskriegs“ mehr als militärische Niederlagen gegen jemanden wie Napoleon und verhinderten deswegend eine weitgehende Mobilisierung oder Volksbewaffnung – eine Spannung, die bis 1914 erhalten bleiben würde.

Ein Grund für die Zurückgebliebenheit vor allem der preußischen Armee gegenüber der Napoleons ist laut Wilson die finanzielle Belastung: Heeresreformen kosten viel Geld, und dieses Geld wollte und konnte Preußen nicht investieren. Dasselbe Thema würde die europäischen Heere auch in der Friedens- und Austeritätszeit nach 1815 plagen. Unter den Bedingungen des Friedens von Tilsit konnten die Finanzmittel dann, selbst wenn sie vorhanden gewesen wären, gar nicht mehr investiert werden, weswegen die Reformen nur eingeschränkte Wirkung entfalten konnten. Insgesamt hatten die Napoleonischen Kriege aber den Effekt, die Reichsstruktur zu verändern beziehungsweise abzuschaffen. Die übriggebliebenen Staaten waren größer als früher und mussten nun ihre eigenen Heere entwickeln, weil die alte kollektive Sicherheit des Reichs nicht mehr funktionierte. Gleichzeitig erlaubte ihnen ihre geringe Größe aber nicht, vollständige Heeresstrukturen zu entwickeln. Der neue Dualismus zwischen Preußen und Österreich marginalisierte die außenpolitische Wirkung des „dritten Deutschland“ daher, weil deren Armeen gegenüber denen der Kleinstaaten deutlich überlegen waren.

Die gesamte Periode 1714-1815 sah eine weitere Professionalisierung des Soldatenstandes. Stück für Stück wurden Uniformen vereinheitlicht und Rekrutierungsprozesse bürokratisiert. Ein entscheidendes Problem für die Soldaten war die Höhe des Solds: nicht nur wurde dieser zwischen 1714 und den 1780er nicht an die Inflation angepasst (!), sondern er war ohnehin sehr gering. Dies zwang die Soldaten zum Betteln und zur Gelegenheitsarbeit. Die Armeen griffen zudem aus Kostengründen immer noch routiniert auf das Mittel zurück, Soldaten für Teile des Jahres zu beurlauben. Dies nahm immer weiter ab, weil es einerseits soziale Probleme hervorrief und andererseits die Professionalität beeinträchtigte.

Die sozialen Probleme waren offensichtlich: Soldaten, die betteln mussten um nicht zu verhungern, waren nicht die beste Werbung für die Armee. Gleichzeitig hatten sie Zugang zu Waffen und waren ausgebildet, eine volatile Kombination. Im 18. Jahrhundert wurden die Soldaten zudem noch in Bürgerhäusern einquartiert (die dafür Steuerleichterungen bekamen, die aber die realen Kosten nicht abdeckten und schon gar nicht den Komfortverlust von Soldaten im eigenen Haus), was in der Bevölkerung nicht eben beliebt war. Zwar begann der Bau dezidierter Kasernen; diese waren aber sowohl in der Menge als auch in der Qualität völlig unzureichend und blieben bis zu Napoleons Zeiten Stückwerk.

Die Dienstverplichtung der Soldaten betrug üblicherweise 6-8 Jahre, weil man davon ausging, dass es mindestens drei Jahre brauchte, um einen „ordentlichen Soldaten“ auszubilden (sprich: die Individualität auszutreiben). Theoretisch sollte das Milizensystem dafür sorgen, dass die aus der Dienstzeit heraustretenden Soldaten als Rekrutierungspool erhalten blieben, aber die Milizen erfüllten diese Rolle, die sie nie sonderlich gut erfüllt hatten, immer schlechter. Relativ nahm daher die Bedeutung des Berufsheers immer weiter zu, das in der Bevölkerung präsenter wurde: die Uniformen mussten auch außer Dienst getragen werden, und Soldaten wurden zunehmend als Ordnungskräfte benutzt (weil es immer noch praktisch nirgendwo Polizei gab), eine Aufgabe, die sie mehr schlecht als recht erfüllten.

Am Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Armeen damit bereits auf beachtliche Größen angewachsen, die wesentlich über die hinausgingen, die noch 50 Jahre zuvor normal waren. Parallel dazu hatten die Staaten ihre Organisationskraft verstärkt, um diese Armeen überhaupt unterhalten zu können. Gleichzeitig wurde die Führung dieser Armeen immer schwieriger, weswegen sich diese Aufgabe von den Monarchen weg auf die Generalität verschob – die Genese der späteren Generalstäbe. All das würde aber erst nach der napoleonischen Ära wirklich zum Durchschlag kommen.

Das Ende der napoleonischen Kriege sah die europäischen Staaten erschöpft und ihre Finanzen zerrüttet. Obwohl die Kriege zahlreiche Defizite in den Militärstrukturen der deutschen Staaten aufgezeigt hatten – vom zahlenmäßig zu geringen Anteil der Artillerie über die zu kurze Reichweite der Glattrohre über die Fehleranfälligkeit der Musketen, von organisatorischen Defiziten gar nicht zu sprechen – gab es wenig Anreiz, diese anzugehen, weil sie einerseits teuer waren und andererseits Reformen erforderten, die von den konservativen Fürsten mit Verve abgelehnt wurden.

Die beginnende Friedensperiode nach 1815 sah eine deutliche Reduktion der Ausgaben für die Armeen in allen deutschen Staaten, allerdings ohne eine entsprechende Reduzierung der Abgabenlast, die durch zahlreiche Sondersteuern im Krieg stark angestiegen war. Die Notwendigkeit des Staates, effizienter zu werden, wurde nicht rückgängig gemacht. Der lange europäische Friede brachte es allerdings mit sich, dass die Armeen hinter der technischen Entwicklung herhinkten und die Reserven schwanden. Das weiter genutzte Milizsystem schien mehr und mehr aus der Zeit gefallen, während die Verknüpfung von Nationalstaat und allgemeiner Wehrpflicht die Fürsten vor Probleme stellte.

In den 1830er Jahren begann eine Zeit neuerlicher Kriege, vor allem für Österreich. Die Armeen zeigten deutliche Defizite, die aber durch eine rapide Annahme von Innovationen ausgeglichen werden konnten. Die Armeen modernisierten sich. Für viele deutsche Staaten waren allerdings die Niederschlagungen der Aufstände von 1848 der erste Einsatz seit Langem. In jenen Zeitraum fällt auch der Krieg gegen Dänemark, der erste gesamtdeutsche Krieg. Von der Nationalversammlung erklärt und weitgehend von Preußen und Österreich geführt, zeigte er ddas strategisches Dilemma der deutschen Staaten im europäischem Gleichgewicht auf: Die Aussicht auf ein (auch militärisch) geeintes Deutschland erschreckte seine Nachbarn, die versuchten, genau das zu verhindern.

Die Ausweitung des Krieges mit Dänemark zu einem gestamteuropäischen Krieg wurde durch die Fürsten, in dem Fall den preußischen König, gegen den Willen der machtlosen Nationalversammlung in klassischer absolutistischer Politik verhindert. Dieses Dilemma beförderte aber ein strategisches Denken, das bis 1945 grundlegend sein sollte: eine Fortführung der frederizianischen Kriegführung. Die Entscheidung im Krieg sollte durch einen möglichst schnellen, harten Schlag direkt zu Beginn fallen, bevor Deutschlands (beziehungsweise Preußens) Feinde sich koordinieren konnten. Diese Grundprämisse sieht Wilson als durchgängiges Leitmotiv und Kern der modernen deutschen Militärgeschichte mit all ihren Folgeproblemen.

Wie üblich verliert er aber Österreich nicht aus dem Blick, das in den 1850er Jahren in Italien Krieg führt und immer noch die vorherrschende deutsche Militärmacht ist. Die Konzentration auf Preußen ist zwar aus der Rückschau verständlich, letztlich aber ahistorisch. Auch war die österreichische Armee der preußischen weder taktisch noch technisch unterlegen, wovon später noch die Rede sein wird.

An der Geschichte der Heeresvorlage in Preußen kommt aber Wilson natürlich nicht vorbei. Er sieht die Schuld für den Konflikt nicht nur beim König und Bismarck, sondern auch bei den Liberalen. Diese hätten letztlich das überfällige Ende des Milizsystems und die Übernahme der Milizen in ein reguläres Heer damit verhindert, was der eigentliche Zweck der Vorlage gewesen sei. Bismarcks Verfassungsbruch tut zwar daraufhin genau das, aber wegen der Begrenzungen seiner Taktik – bei der eine vollständig reguläre Übernahme nicht möglich war – waren die neuen Einheiten wesentlich schlechter als das reguläre Heer. Das grundlegende Problem – die Anpassung der Heeresgröße an die Demografie – blieb zudem ungelöst, weil Bismarck nur eine Einmallösung durchdrückte, die auch nicht wiederholbar war. Die Armee besaß somit einen guten Teil zweitklassiger Truppen, was sich auch auf die Qualität der Reserven niederschlug.

Der Krieg gegen Dänemark 1864 zeigte erneut taktische und ausrüstungstechnische Defizite auf. Der blutige Sturm auf Düppeler Schanzen war eigentlich nur wegen der Schwäche der Artillerie notwendig, die die dänischen Befestigungen nicht nennenswert beschädigen konnte (ein Problem, das im Ersten Weltkrieg in großem Maßstab auftrat). Da aber eine Intervention der anderen Großmächte wie 1848 befürchtet wurde und eine schnelle Entscheidung benötigt wurde, griff man zu einem massierten Bajonettangriff. Dieser war erfolgreich, aber die Militärs zogen daraus die völlig falschen Schlüsse. Anstatt Taktiken gegen Befestigungen zu suchen oder die Nutzlosigkeit der Kavallerie zur Kenntnis zu nehmen, sagen sie sich darin bestätigt, dass mit dem richtigen Geist und viel Hurrah Schlachten zu gewinnen waren. Dazu ignorierte man völlig die Erkenntnisse aus dem zeitgleichen amerikanischen Bürgerkrieg.

Den deutsch-deutschen Bürgerkrieg sieht Wilson ebenfalls als Beleg für seine Thesen. Das preußische Zündnadelgewehr etwa sei bei weitem nicht so gut wie oft behauptet wird. Es hatte zwar einige Vorteile gegenüber den österreichischen Waffen, aber auch Nachteile in der Technik. Zudem ging Preußen mit einer wahnsinnig riskanten Strategie in den Krieg – erneut möglicht schnelle Schläge, für deren Erfolg eine ganze Menge Faktoren zusammenkommen musste -, die vor allem wegen strategischer Fehler der Südstaaten klappte: diese verhielten sich defensiv und erlaubten so, dass Hannover einzeln besiegt werden konnte. Österreichs war gleichzeitig an mehreren anderen Kriegsschauplätzen gebunden und nicht voll einsatzfähfig. Trotz dieser vielen bereits für Preußen zusammenkommenden Faktoren war der Ausgang von Königgrätz letztlich Glück. Der Erfolg im Krieg trat dann vor vor allem deswegen ein, weil Österreich nach der Schlacht von Königgrätz Frieden schloss. Das aber war, wie Preußen 1870 feststellen würde, kein Automatismus. Wilson sieht bereits die entscheidende, bis 1945 ungelöste Schwäche deutscher Militärplanung: eine Verengung auf schnelle, operative Erfolge ohne Plan, was danach kommen würde. Die Fetischisierung der Entscheidungsschlacht stand in keinem Verhältnis zur Realität der Kriegführung und Diplomatie und führte zu einer Geringschätzung der Letzteren, ein Feld, auf dem Österreich wesentlich besser funktionierte.

Das heißt nicht, dass Preußen nicht klare Vorteile gehabt hätte. Der deutsch-französische Krieg zeigte diese Vorteile deutlich auf: die deutsche Mobilisierung war wesentlich schneller und umfassender als die französische, die deutsche Taktik und Ausrüstung waren besser. Das Resultat waren vernichtende Siege über die französische Armee und die Abdankung Napoleon III. Allein, das beendete den Krieg nicht. Die III. Republik erklärte den Volkskrieg und schloss mit Deutschland, dessen Versorgungslinien überdehnt waren und dessen Armee graduell immer mehr in Gefahr geriet – von einer möglichen Intervention anderer Mächte, gegen die es sich nicht abgesichert hatte, ganz zu schweigen – erst Frieden, als eine interne Revolution durch den Aufstand der Kommune drohte. Zudem würde der Rest Europas schnell aufschließen und die technisch-taktische Lücke schließen. Als Nebenaspekt erklärt Wilson, dass der Schrecken der Franktireure in ihrer mentalen Bedeutung überschätzt werde. Er macht dies vor allem daran fest, dass Deutschland trotz aller Erzählungen keinerlei Aufstandsbekämpfungsdoktrin entwickelte und weiterhin davon ausging, ein besetztes Gebiet einfach verwalten zu können (was im Ersten Weltkrieg ja auch weitgehend zutraf).

Nach 1871 begann eine weitere, lange Friedensperiode in Europa. Die Kriegführung verlagerte sich auf Kolonialkriege, wo die Gewalt wesentlich entgrenzterer war. Wilson wendet sich hier aber gegen die These „Von Windhuk nach Auschwitz“ und erkennt keine Kontinuität in Richtung Vernichtungskrieg und Holocaust. Die unterschiedlichen Anforderungen und Profile der Kolonialkriege aber bedeuteten auch, dass am Vorabend des Ersten Weltkriegs effektiv zwei Generationen keine Kriegserfahrung hatten – aller Kritik am Militarismus zum Trotz.

Die Politikgeschichte solchermaßen abgearbeitet kehrt Wilson zu den Kosten der Aufrüstung nach den napoleonischen Kriegen zurück. Die vielen deutschen Kleinstaaten taten sich schwer, die durch den technischen Fortschritt rapide steigenden Kosten des Militärs zu decken. Staatliche Budgets explodierten. Er stellt aber fest, dass relativ zum Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft die Militärausgaben deutlich zurückfielen, und das auch gegenüber dem Rest Europas. Die Gelder flossen stattdessen in die Finanzierung des beginnenden Wohlfahrtsstaat und andere Ausgaben für die Bevölkerung. An den Budgets jedenfalls lässt sich ein besonderer deutscher Militarismus (dessen Existenz Wilson grundsätzlich anzweifelt) nicht festmachen.

Die Fürsten versuchten nach 1815, ihre Armeen zu „entnationalisieren“ und weiterhin als ihnen persönlich verantwortlich zu halten. Doch der Trend der Zeit lief in die gegenteilige Richtung: die Nationalisierung schritt weiter voran. Dadurch entstand ein Prestigewinn der Armee, der dazu führte, dass das Bürgertum ebenfalls diente und nicht wie früher die Wehrpflicht umging (etwa durch das Stellen von Ersatzleuten, was als gutbürgerliche Alternative galt). Trotzdem blieben Standesgrenzen deutlich daran erkennbar, dass die Bürgerlichen als „Einjährig Freiwillige“ dienten, also nur ein Drittel der Zeit ableisteten, und dann Reserveoffiziere wurden. Diese verkürzte Dienstzeit wie der Reserveoffizierstatus kosteten viel Geld und blieben somit als Distinktionsmerkmal erhalten.

Noch deutlicher sichtbar war das bei den professionellen Soldaten, denn der Sold blieb weiterhin absurd niedrig, besonders für Offiziere. Diese zahlten meist effektiv drauf. Das war bewusste Politik, denn so kontrollierte der Adel den Zugang zu Offiziersposten jenseits der immer weiter nivellierten formellen Regelungen. In diesem Vorgehen ist in meinen Augen eine deutliche Parallele zu der Frage nach Diäten für Reichstagsabgeordnete zu sehen, die Wilson aber nicht zieht.

Völlig neu ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Aufbau von Flotten. Sowohl Österreich als auch Deutschland begannen hier quasi von null an – wie bereits beschrieben hatten sie ihre bisherigen Marinen weitgehend abgerüstet, als die Technik die Möglichkeit von bewaffneten Handelsfahrern nahm – mit dem Aufbau einer Marine. Dies stellte sie vor eine ganze Reihe von Problemen. Das erste war, dass beide Länder nie einen klaren Fokus entwickelten. Der Auftrag der Marine war quasi unklar. Österreich versuchte, mit Italien zu konkurrieren (erfolglos), während Deutschland eine Hochseeflotte baute, um Kohlestationen zu schützen, die es brauchte, weil es eine Hochseeflotte hatte. Zudem bestand die Strategie auf falschen Annahmen, etwa dass eine britische Blockade in Küstennähe stattfinden und deswegen schnell zu einer maritimen Entscheidungsschlacht führen würde.

Doch damit nicht genug. Die Unabsehbarkeit der Entwicklung von neuen Schiffstypen und die zunehmende Rapidität dieses Wandels machten neue Typen schnell obsolet und führten in technologische Sackgassen. Dazu kam, dass die Kosten für die Seerüstung exponentiell stiegen und für die deutschen Staaten, die zwangsläufig Landmächte waren, eine unglaubliche Belastung darstellten. Kaum bekannt ist angesichts der Konzentration auf das Wettrüsten zwischen Deutschland und England um 1900 herum, dass Österreich-Ungarn bis in die 1880er Jahre die führende deutsche Seemacht war.

Eine weitere Entwicklung dieser Zeit war die massive Zunahme der Sanitätsdienste wegen Fortschritten in der Medizin. Verwundete waren früher weitgehend sich selbst und der Anteilnahme ihrer Kameraden – oder dem des Trosses – überlassen gewesen. Doch im 19. Jahrhundert nahm die Zahl des ärztlichen Personals immer mehr zu, wurden Militärkrankenhäuser eingerichtet (die häufig der Nukleus für die ersten großen städtischen Kliniken waren). Natürlich waren diese Vorkehrungen immer noch völlig unzureichend, wie sich spätestens im Ersten Weltkrieg herausstellen sollte. Aber die Chancen der Verwundeten zu überleben stiegen rapide.

Eine Besonderheit stellten die ab den 1880er Jahren eingerichteten Kolonialtruppen („Schutztruppe“) dar. Sie waren werder Teil der Armee noch der Marine, weil beide nichts damit zu tun haben wollten, und blieben damit eine halb private, schlecht kontrollierte Einheit mit extrem hohen Kosten. Die Vernichtungskriegführung gegen Herero und Nama und den Einsatz in der Boxerrebellion streicht Wilson als leider unter den Kolonialmächten nicht herausstechend hervor. Eine weitere Auffälligkeit in der Organisation der Schutztruppe war ihr deutlich erhöhter Anteil an medizinischem Personal; die Tropenkrankheiten forderten einen hohen Tribut.

Nach dieser Betrachtung sei hier noch die Entwicklung der Kriegsstrategien erwähnt, was natürlich vor allem auf Schlieffen und Moltke hinausläuft. Der Generalstab basierte seine Pläne auf einer möglichst rapiden Mobilisierung unter Nutzung der überlegenen deutscher Infrastruktur. Dies hatte schließlich 1871 geklappt, was die Vorlage für eine Wiederholung bot. Die Grundidee war ein schnelles Ausschalten.  des Gegners. Bis heute ist unklar, was tatsächlich geplant war – ein Dauerstreit in der Militärwissenschaft, in den sich Wilson kaum einmischt, weil alles so oder so aber hochgradig unrealistisch war. Wilsons Grundkritik, dass der deutsche Generalstab wesentlich zu taktisch dachte, das Grundproblem des deutschen Militärs, kommt hier mit Macht zurück. Selbst wenn der Schlieffen-Plan erfolgreich gewesen wäre, insofern als dass er seine operativen Ziele erreicht hätte, so wäre doch völlig unklar, warum danach der Krieg im Westen hätte vorbei sein sollen. Diese Traumtänzerei der Militärplaner werden wir auch im Zweiten Weltkrieg wieder finden.

Der letzte große Abschnitt ist unter „Demokratisierung“ gefasst, worin ich ein Echo von Hedwig Richters These vom Zusammenhang von Demokratie und Nationalsozialismus erkenne, aber auch eine Verklammerung mit der Nachkriegsgeschichte. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, die Zeit von 1914 bis 2021 als eine große Einheit zu betrachten, aber es macht eine ganze Menge Sinn, haben wir hier doch das (langsame) Ende der alten Klassenstruktur und die Mobilisierung der ganzen Bevölkerung – zumindest bis in die späten 1970er Jahre, aber dazu später mehr.

Politikgeschichtlich beschreibt Wilson zuerst den Verlauf des Ersten Weltkriegs mit einem Fokus auf den scheiternden Ablauf des Schlieffenplans. Er streicht das Fehlen von Verbündeten in der deutschen Strategie und die Missachtung der bestehenden heraus, die Deutschlands Chancen von Anfang an schwer beeinträchtigten. Dies liege an der Konzentration auf die operative Ebene, in der irrigen Hoffnung, den Krieg durch eine Entscheidungsschlacht beendne zu können. Auch der Verdun-Mythos wird kurz gestreift (nein, Falkenhayn plante keine Abnutzungsschlacht). Vor allem aber betont Wilson hier die zahlreichen geostrategischen Fehlentscheidungen, vor allem die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs.

In einer Abkehr von zahlreichen Klischees steht Wilsons Betonung, dass die Armee effektiv wahnsinnig unprofessionell war. Der Grund dafür liegt in der alten Weisheit der preußischen Militärplaner des 18. Jahrhunderts, dass es drei Jahre Training, brauche, um einen effektiven Soldaten zu formen. Doch bereits die Reservisten, die 1914 mobilisiert wurden, haben viel zu wenig Erfahrung. Selbst die Erfahrung, die sie dem Papier nach haben sollten, würde nicht ausreichen, doch die reale war noch wesentlich unzureichender. Die bald folgenden Wehrpflichtigen hatten überhaupt keine Erfahrung. Hier rächte sich, dass die Armee nie demografisch angepasst worden und viel zu niedrige Prozentsätze der Bevölkerung ausgebildet hatte. Allein, relativ zu den anderen Armeen war das deutsche System trotz allem besser. Man darf nur nicht den Fehler machen, es für objektiv gut zu halten; den eigenen Ansprüchen wurde es hinten und vorne nicht gerecht.

Das alles ist wenig überraschend. Seit 1871 hatte es keine europäischen Kriege mehr gegeben. Letztlich waren die großen Armeen und Mobilisierungspläne immer auch Abschreckungselemente gewesen, ähnlich den heutigen Atomwaffen. Tatsächlich einsetzen wollte man sie eigentlich nicht, und die rapide zunehmende Komplexität mit all ihren Mobilisierungsplänen hatte für eine Insulierung der militärischen Planungen von jeder (zivilen) strategisch-diplomatischen Handlungsweise gesorgt, die sich 1914 fatal auswirken sollte. Es machte sich auch sofort ein massiver Kontrollverlust der zivilen Institutionen bemerkbar, weil man alles Operationelle dem Militär überlassen hatte. Selbst wenn die zivilen Institutionen gewollt hätten, hätten sie nicht kontrollieren oder selbst tun können, was das Militär mit der de-facto-Übernahme der Regierungsgewalt spätestens ab der Ludendorff-Diktatur 1916 leistete (mit bestenfalls mittelmäßigen Ergebnissen, nebenbei bemerkt). Der anfängliche Burgfrieden mit seiner Reichstagsbeteiligung und öffentlicher Debatte wich immer mehr der Militärdiktatur, ohne das Nebeneinander je auflösen zu können.

Ironischerweise findet sich eine komplett gegenteilige Dynamik in Österreich: zu Beginn des Krieges fand hier gerade kein Burgfrieden statt, sondern eine Bestätigung und Verstärkung der Autokratie in einer Art Ruhebefehl des Kaisers. Im Verlauf des Krieges fand dann aber eine langsame Öffnung statt, die allerdings weniger als Demokratisierung und viel eher als Desintegration des österreich-ungarischen Staatsgebildes zu verstehen ist. Wilson betont auch die wahnsinnig schlechte Führung der k.u.k.-Armee, ihre schlechte Organisation und besonders die Rolle Conrad von Hötzendorfs. Österreich verschwindet allerdings bereits 1914 als Faktor und muss seine Kriegsführung effektiv der deutschen Koordination unterordnen.

Allein, eine solche Koordination findet kaum statt, weil Deutschland seine Verbündeten kaum mehr als als Nebengedanken begreift und sich vor allem auf die eigenen operativen Anforderungen beschränkt. Wilson kommt zu dem generellen Schluss, dass keine gute Koordination von Taktik und Strategie stattfindet. Das Militär konzentrierte sich vollständig auf Taktik, ein dauerhaftes Micromanagment bis in die höchsten Ebenen des Generalstabs, ohne dass je klar geworden wäre, welches Ziel eigentlich wie erreicht werden solle. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Vorstellung, dass der Krieg kurz werden würde, ohne dass je klar gemacht worden wäre, warum eine verlorene Schlacht (im Erfolg des Schlieffen-Plans) den Krieg beenden sollte.

Das Ende des Krieges sieht dann die komplette Auflösung der deutschen Armee. Ab Sommer 1918 steigen die Gefangenen- und Deserteurszahlen massiv an. Die Waffenstillstands- und danach Friedensbedingungen erforderten eine weitgehende Abrüstung. Die Paramilitärs – Freikorps und andere – blieben jedoch in Stärke von fast einer halben Million Mann aktiv und wurden von allen Parteien (!) als Unterpfand gegen die Alliierten und Kern einer zukünftigen Armee unterstützt. Abgesehen von diesem Grundkonsens gab es aber große Spannungen. Die Konservativen mochten die Freiwilligenverbände (etwa die Volksmarinedivision) nicht, weil sie sie an den „Volkskrieg“ erinnerten, gegen den sie schon 1813 waren und den sie das ganze 19. Jahrhundert lang zu verhindern gesucht hatten (woraus dann ja auch die Schwäche des Mobilisierungsapparats resultierte). Die Linken lehnten die Paramilitärs nach dem Ende der Freiwilligenverbände ab, weil der bestehende Rest der Freikorps rechtsradikal war und spätestens 1920 offen putschte. Dieser innenpolitische Konflikt wurde durch internationalen Druck gelöst: der Versailler Vertrag erzwang ihre weitgehende Auflösung.

Die neue Reichswehr blieb „unpolitisch“ und weitgehend ziviler Kontrolle entzogen. Dieses „unpolitisch“ wandte sich natürlich nur gegen rechts, nicht gegen links; die Bekämpfung der politischen Linken galt der Armee von Anfang an als zentrale Aufgabe, die sie mit großer Lust und Gewalt durchführte. Generell sah das Militär es als seine Hauptaufgabe, sich die eigene Autonomie zu bewahren und war damit bis zur Machtergreifung auch weitgehend erfolgreich. Wilson beschreibt auch die heimliche Aufrüstung durch die „schwarze Reichswehr“, die ein offenes Geheimnis Weimars war. Selbst die SPD akzeptierte diese weitgehend stillschweigend, einfach, weil es keine Alternative zu geben schien. Der Schock der Jahre 1921-1923, als Frankreich und Belgien wiederholt mit ihrem Militär in Westdeutschland ihre Politik durchsetzten, saß tief.

Die Versailler Beschränkungen auf 125.000 Mann (inklusive Marine) machten jegliche Pläne für einen Krieg komplett unrealistisch. Das hielt die Reichswehrführung natürlich nicht davon ab, weiterhin für den Fall eines Krieges Offensiven zu planen. Diese Pläne sahen eine Reichswehr von 300.000 Mann vor. Abgesehen davon, dass die Vorstellung, mit 300.000 Mann im Kriegsfall eine Entscheidung gegen Frankreich zu erzwingen, ganz egal, wie gut ausgebildet und ausgerüstet diese waren (was ohnehin eine dubiose Annahme war) völlig absurd war, erklärten die Reichswehrplaner nie, woher diese Zahl kommen sollte, denn die Reichswehr zählte nie mehr als die Hälfte dieser Größe. Diese unrealistischen Planungen bleiben bis 1945 Merkmal deutscher Stabsarbeit.

In Österreich indessen gab es eine winzige Armee, die wie in Deutschland vor allem dazu diente, linke Aufstände zu unterdrücken. Auch hier wurden freiwillige Verbände einer demokratischeren „Volksarmee“ schnell beseitigt. Anders als Deutschland akzeptierte Österreich aber problemlos seinen neuen Status als kleines Land ohne militärische Autonomie und beugte sich damit den neuen Realitäten. Deutschland indessen versuchte zwar, die Beschränkungen von Versailles zu durchbrechen und sich in Revisionismus zu üben, suchte aber wie vor 1914 wieder nicht ausreichend Verbündete, sondern hoffte, den Gordischen Knoten auf operativer Ebene durchschlagen zu können. Es ist das Dauerdilemma der deutschen Politik jener Epoche.

Die Übernahme der Macht durch die Nazis offenbarte eine überraschend konfliktreiche Beziehung. Zwar liebte die Armee die Reformen der Nazis (was sie solide und loyal hinter Hitler brachte), wollte aber weder mit der SA (was sich mit Nacht der Langen Messer 1934 dann auch erledigte) noch der SS etwas zu tun haben (was ein Dauerproblem blieb und mit dem Aufschwung der Waffen-SS ab 1943 in den Vordergrund trat). Aber Hitler entmachtete die in Weimar weitgehend unabhängigen Militärs praktisch vollständig, was diese weitgehend widerstandslos hinnahmen. Die Kriegsplanungen, die in den 1930er Jahren begannen, liefen wieder auf den harten Erstschlag hinaus, ohne Vorstellungen, was danach passieren würde, und ohne ordentliche Strategie und Logistik, um einen mehr als einige Wochen dauernden Konflikt zu stützen.

Die Schweiz in der Zwischenzeit blieb aus ideologischen Gründen bei ihrer weitgehend ineffektiven Milizarmee. Glücklicherweise reichte der erklärte und glaubhafte Wille, auch nach einer militärischen Niederlage (die gegen jeden potenziellen Gegner sicher gewesen wäre) weiterzukämpfen, um von einer Invasion abzuschrecken. Die offiziellen Kriegspläne der Schweiz sahen eine Aufgabe von rund 80% des Territoriums und einen Rückzug in die Berge vor, von denen aus ein Guerillakrieg geführt werden sollte. Was Wilson in diesem Kapitel in meinen Augen allerdings etwas unterschlägt ist die Bedeutung der Schweiz als wirtschaftliche Plattform, die wesentlich mehr zu der Erhaltung der Neutralität beitrug als die Aussicht, Schweizer Guerillas bekämpfen zu müssen. Die Schweiz stellte sich schließlich im Krieg allen Beteiligten zur Verfügung.

In seinen Betrachtungen zur Außenpolitik der Nationalsozialisten findet sich wenig Neues, aber die Betonung selbst eines erfolgreich eroberten Europas als „landlocked“ (also ohne Zugang zu den Weltmärkten, was Hitler freilich eingepreist hatte) und der fehlenden Alliierten Deutschlands, wo zusätzlich die Idiosynkrasien des Nationalsozialismus in seiner rassischen Überlegenheitsfantasie voll durchschlugen (darüber hat etwa Mark Mazower geschrieben) In meinen Augen bleibt diese Betrachtung sehr unterkomplex, gerade was Rolle der Wirtschaft angeht (wo der Goldstandard für mich immer noch „Die Ökonomie der Zerstörung“ bleibt) – aber das war bei den vorherigen Kapiteln sicher auch so, und hier schlagen nur meine eigenen Präferenzen und Spezialisierungen durch.

Der eigentliche Kriegsverlauf wird nur kurz skizziert. Wilson sieht viel von der Schuld für die anfänglichen Erfolge der Wehrmacht 1939/40 bei den Alliierten; die deutsche Strategie selbst war eigentlich ziemlich hanebüchenen (ich habe genau darüber auch schon vor Jahren auf dem Geschichtsblog geschrieben). Es zeige sich immer wieder Mangel an einer tragfähigen geopolitischen Strategie. Ich halte diese Analyse für falsch, denn Hitler fehlte es nicht an der Analyse oder einer Strategie; perverserweise hatte er wesentlich mehr strategische Überlegungen angestellt, die auch in sich viel schlüssiger waren, als die Planer des Ersten Weltkriegs. Es waren nur Pläne, die auf falschen Annahmen beruhten und völlig unrealistisch waren. Aber Hitler scheiterte nicht daran, zu wenig über Strategie nachgedacht zu haben.

Völlig bei Wilson bin ich aber darin, dass sich die deutsche Militärführung (und zunehemnd eben auch ein an Option armer Hitler) viel zu stark auf Operationelles konzentrierten und darüber hinaus die strategische Ebene zunehmend vernachlässigten. Zusätzlich war die Kriegführung durch Ablenkungen wie die italienischen Probleme, die zunehmend eine Belastung darstellten, behindert. Letztlich aber bleibt die zentrale Erkenntnis, die populären Betrachtungen (und denen nach dem Krieg, aber dazu gleich mehr) diametral entgegensteht: der Krieg war unter keinen Umständen zu gewinnen. Das liegt, wie im Ersten Weltkrieg, an der Natur des Krieges als „Materialschlacht“. Die zunehmende Radikalisierung gegen Ende des Krieges verlängerte diesen zwar und vergrößerte das Leid um ein Vielfaches, war aber letztlich nur der logische Endpunkt der intellektuellen Sackgasse, in der deutsche Militärplaner seit dem späteren 19. Jahrhundert feststeckten.

Die Nachkriegszeit sah Milizgründungen in West (die winzigen Bundesgrenzschutz und österreichische B-Polizei) und Ost (die riesige kasernierte Volkspolizei). Die ab 1955/56 gegründeten neuen deutschen Armee waren ab sofort in Bündnisse integriert und verloren ihre Eigenständigkeit, die sich am eindrücklichsten am Fehlen eines Generalstabs ausdrückte. Anders als nach 1919 wurde das aber nicht durch Schatten-Generalstäbe kompensiert. Vielmehr war eine eigenständige Kriegführung einerseits wegen der Notwendigkeit von Bündnisintegration und -koordination nicht mehr denkbar, andererseits aber wegen der Rolle von Atomwaffen in einem zukünftigen Konflikt.

Die Atomstrategie beider Blöcke machte es erforderlich, in völlig neuen Kategorien zu denken. Besonders im Westen zeigte sich eine gewisse Eigenständigkeit der Bundeswehr dann aber darin, dass man die NATO-Strategie, die in den 1950er Jahren einen Rückzug auf den Rhein und eine Bombardierung der sowjetischen Verbände in Westdeutschland vorsah, durch eine ständige Verschiebung der Frontlinie zuerst an Main und Elbe und dann sogar direkt an die deutsch-deutsche Grenze veränderte. Diese Planungen sahen dann (natürlich) auch wieder begrenzte Offensivoperation auf DDR-Gebiet vor und waren glücklicherweise völlig irrelevant. Im Kriegsfall wäre das alles ohnehin sehr wahrscheinlich Makulatur gewesen.

Die NVA hatte demgegenüber in ihrem Bündnis eine viel größere Rolle im Kriegsfall als die Bundeswehr. Ihr Auftrag war eine weitgehend eigenständige Offensive nach Norddeutschland, während die Warschauer-Pakt-Verbände eher den Süden attackiert hätten. Unrealistisch war auch dies, schon allein wegen völlig illusorischer Annahmen darüber, wie weit die Soldaten über nuklear verseuchtes Terrain würden vorrücken können.

Von dort ausgehend gelangen wir zur Auflösung des Warschauer Pakts ab 1990 und der berühmten „Friedensdividende“, also der massiven Abrüstung der Bundeswehr von immerhin einer halben Million Mann auf zuerst rund 350.000, dann weit unter die Hälfte dieser Kalter-Kriegs-Stärke. Parallel zu dieser Abrüstung gingen die beginnenden Auslandseinsätze einher. Wilson skizziert kurz die Auseinandersetzung um den rechtlichen Rahmen über die BVerfG-Entscheidungen, die zu der einzigartigen Struktur der Auslandseinsätze über Bundestagsentscheidungen führten (fast alle anderen NATO-Staaten sehen das als Exekutiv-Funktion). Die Bundeswehr entwicklete sich mehr und zur reinen Berufsarmee, wenngleich das Element der Wehrpflichtigenarmee bis 2011 eine zunehmend dysfunktionale Nebenexistenz ausführte. In jüngster Zeit kam die Cyberkriegführung sowie das Gefechtsfeld Weltraum als Betätigungsfeld hinzu, auf denen die Bundeswehr, höflich ausgedrückt, Nachholbedarf hat.

Nach dieser Politikgeschichte geht Wilson auf die Erfahrung des Militärs in der Gesellschaft und die Personalproblematik ein. Schon im Kaiserreich sei diese nicht universal gewesen, was den Klischees der Pickelhaubengesellschaft deutlich ins Gesicht fliegt, und habe über den Verlauf 1871-1914 deutlich abgenommen, weil die Armee nicht proportional mit der Bevölkerung wuchs. Wie in den anderen europäischen Ländern auch wurden die professionelle deutsche und k.u.k.-Armee in den Anfangs-Schlachten des Jahres 1914 praktisch evaporiert und mussten durch Wehrpflichtige aufgefüllt werden, was die allgemeine Qualität deutlich reduzierte und nicht eben dazu angetan war, die Verluste zu beschränken. Am übelsten traf dies Österreich-Ungarn, dessen Armee sich 1914 fast auflöste und mühsam wieder zusammengebaut werden musste, aber nie auch nur ansatzweise an das ohnehin nicht sonderlich hohe Niveau von 1914 heranreichen konnte. Deutschland gelang es bis 1916 vergleichsweise gut, diese Probleme zu kompensieren, danach allerdings immer weniger (erneut: anderen Ländern erging es genauso).

Da es in der Weimarer Republik keine Wehrpflicht gab und der Versailler Vertrag bewusst keinen Austausch der Truppe erlaubte – für Soldaten waren 12 Jahre Dienstzeit, für Offiziere gar 25 Jahre vorgeschrieben -, was Wilson für einen Fehlschluss aus den Jahren der preußischen Reformzeit Anfang des 19. Jahrhunderts hält (Deutschland wurde hier Opfer der eigenen Hardenberg-Propaganda), hatten große Teile der Bevölkerung keinen Kontakt mit der Armee mehr. Die rapide Expansion der Wehrmacht nach 1933 sorgte für massive Personalprobleme, weil das Berufspersonal überhaupt nicht in der Lage war, die Professionalisierung zu gewährleisten. Die Ausbildungszeiten waren zudem zu kurz (drei Jahre wurden von Preußen als Minimum betrachtet, wir erinnern uns), und der Krieg verkürzte diese weiter – ein Problem, das schon im Ersten Weltkrieg bestanden hatte. Die Verluste vor allem ab 1941 sorgten für eine rapide Erschöpfung der Jahrgänge, und ab 1944 musste quasi alles eingezogen werden, was irgendwie laufen konnte. Die Qualität der Wehrmacht sank deswegen über die Jahre deutlich ab.

In diesem Zusammenhang skizziert Wilson auch die deutsche Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs. Hier liegt der Fokus vor allem auf der Fehlallokation von Ressourcen. Das beständige infighting des polyzentrischen NS-Staats produzierte massive Ineffizienzen (vor allem im Gegensatz zu der vergleichsweise viel rationaleren Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, die natürlich ihre ganz eigenen Probleme hatte). Die Luftwaffe und Marine waren geradezu schwarze Löcher für riesige Geld- und Ressourcenaufwendungen, ohne dass auch nur ansatzweise ein ordentliches Qualitäts- und Quantitätslevel erreicht worden wäre. Besondere Erwähnung findet, völlig zu Recht, die V2, die eine absurde Menge Ressourcen für praktisch keinen Effekt verschlang. Erneut fällt jeglicher Mangel an Fokus und strategischer Zeilvorgabe auf. Dieses Phänomen lässt sich in meinen Augen auch für die Bundeswehr heute beobachten.

Nach dem Krieg war der Enthusiasmus für eine Wehrpflicht eher gering; die Ohnemich-Bewegung war nicht grundlos die erste deutsche Protestbewegung. Die Wehrpflicht ab 1955 wurde aber gesellschaftlich akzeptiert, wenngleich nicht eben gefeiert, und die Armee erreichte ihre Zielstärke von einer halben Million Mann gegen Ende 1960er Jahre. Damals gingen fast alle jungen Männer durch das Sozialisierungsritual der Wehrpflicht; eine Größe, die sich mit den besten Zeiten des Kaiserreichs messen kann. Ab den 1970er Jahren ist dann aber eine massiver Anstieg der Zivildienstleistenden bei einer gleichzeitigen Verkürzung der Wehrpflicht zu beobachten.

Wilson diagnostiziert eine immer größere Abkopplung zwischen den Anforderungen an moderne Kriegsführung mit immer komplexerem Gerät und der Qualität des Personals, dessen Ausbildungszeiten viel zu kurz waren, um effektiv sein zu können (er sieht hier Echos zum Kaiserreich). In den 1990er Jahren erfolgte dann eine Personalreduktion, woraus ein riesiger Überhang an Ausbildern und nutzlosen Wehrdienstleistenden bestand, der Stück für Stück abgebaut werden musste, während gleichzeitig versucht wurde, den Anforderungen der zunehmenden Auslandseinsätze zu genügen, die wesentlich längere Dienstzeiten und Erfahrung beziehungsweise Training erfordern. Wilson skizziert einen regelrechten Realitätsschock durch die Auslandseinsätze vom „aggressiven Campingausflug“ zu Beginn des Afghanistaneinsatzes hin zur heutigen Professionalisierung. Gleichzeitig zeigen diese Einsätze aber auch die fehlende Eigenständigkeit und Abhängigkeit von den USA, die etwa 2021 auch Deutschland zum Abzug zwingen.

Es ist natürlich nicht so, als ob diese Paradoxien den Militärs selbst nicht aufgefallen wären. Ein Grundproblem für die Zeit zwischen 1914 und 1945 war, dass die Armee unglaublich konservativ eingestellt war und eine starke ideologische Zielsetzung mitbrachte: die Verhinderung eines Volkskriegs und einer Demokratisierung der Streitkräfte (die gleichwohl ausgerechnet unter den Nazis einsetzte, die den Klassencharakter der Streitkräfte aufhoben, und der in der Bundesrepublik mit dem „Staatsbürger in Uniform“ kodifiziert wurde). Daher entstanden Ineffizienzen auch beim Training und eine starke Vorauswahl konservativer Offiziere und Mannschaften, deren Fähigkeit zur Adaption neuer Umstände nicht immer die beste war. Dieser Widerwille gegen die Idee des Volkskriegs blieb auch 1919-1923 erhalten, wo die Reichswehrführung bewusst auf Massenmobilisierungen verzichtete und lieber Träumereien über einen hochgradig trainierten und ausgerüsteten Reichswehrkader hegte. Aus diesen ideologischen Prädispositionen erklärt sich auch das ambivalente Verhältnis zum Nationalsozialismus; weder Angriffs- noch Vernichtungskriegkonzepte waren ein großes Problem für die konservativen Militärs.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte der Wiederaufbau der Bundeswehr und NVA durch solche Offiziere, die sich als politisch unbelastet präsentieren konnten. Dies war vor allem der Fall, wenn sie unrechtmäßig wegen Verwicklungen mit dem 20. Juli in Verdacht geraten waren, was den zusätzlichen Vorteil hatte, dass es unwahr war, denn bis weit in die 1960er Jahre hinein galten die Attentäter den deutschen Militärs als abstoßende Verräter. Die Expertise ehemaliger Wehrmachtsoffiziere wurde zudem von den USA stark nachgefragt, was zu ihrer Rehabiliation beitrug, veraltete aber vor allem angesichts der Rolle von Nuklearwaffen und neuer Technologie sehr schnell. Diesen Männern gelang es aber in dieser Zeit ausgezeichnet, nachhaltig das Bild der „unpolitischen Wehrmacht“ zu prägen, das erst in den 1990er Jahren wirklich angegriffen werden wird und bis heute wirkmächtig vor allem in der populären Erinnerung fortbesteht.

Nach der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht 1956 war die Idee vom „Staatsbürger in Uniform“ der Leitgedanke der Bundeswehr. Ironischerweise dienten in der BRD mehr Männer in der Armee als im Kaiserreich oder jemals davor (die Gesamtzahl war ähnlich wie im Kaiserreich, aber bei etwas geringerer Gesamtbevölkerung). Die Bundeswehr umfasste im Kalten Krieg ca. 500.000 Mann, die im Verteidigungsfall (man beachte hier die Semantik; man sprach nur noch von „Verteidigung“) auf ca. 1,3 Millionen anwachsen sollte. Das allerdings sei im Hinblick auf die Erfahrung der Weltkriege eher eine dubiose Annahme, da der Trainingsstand dazu gar nicht ausgereicht hätte. Die mobilisierten Reservisten wären gar nicht in der Lage gewesen, das Bundeswehrgerät effektiv zu bedienen.

Die Erfahrung der DDR beruhte auf einer wesentlich krasseren Militariserung. Die NVA, die prozentual deutlich größer war als die Bundeswehr und eine viel offensivere und bedeutendere Aufgabe im Kriegsfall hatte, war gesellschaftlich wesentlich präsenter und wäre im Kriegsfall durch paramilitärische Organisationen und Reservisten verstärkt worden. Dazu kam eine starke Wehrerziehung in Schule und Jugendorganisationen. Aber auch hier bleibt der tatsächlicher Kampfwert fraglich. Eine eher kuriose Note ist, dass die NVA aus politischen Gründen nie in der Tschechoslowakei oder Polen eingesetzt wurde und deswegen keinerlei Einsatzerfahrung vorweisen kann. Sie war aber unbestreitbar sehr effektiv in der Unterdrückung von Aufständen zuhause.

Österreich dagegen hatte wie in der Zwischenkriegszeit eine winzige Armee. Seine Marine (zwei Patroillenschiffe für die Donau) wurden bis in die 1990er komplett ausgemustert. Theoretisch dient die Armee der Landesverteidigung, ist aber weitgehend ineffektiv. Da Österreich neutral ist, besaß es im Kalten Krieg immer ostentativ einiges Sowjetgerät, war aber effektiv wie auch heute nach Westen orientiert. Die Schweiz blieb ihrem Modell der Milizen treu, fügte aber im Kalten Krieg einen neuen Fokus auf Zivilschutz ein, was zum massiven Bau von Bunkern führte, die im Kriegsfall die Bevölkerung schützen sollten, und die Rolle der Luftraumsicherung betonte. Beide Annahmen sind für die jüngere Zeit ebenfalls sehr fraglich (man bedenke nur die Diskussion in der Schweiz über die Anschaffung neuer Jagdflieger oder die Referenden zur kompletten Abschaffung der Armee).

Gegen Ende geht Wilson auch auf die Problematik der Vergangenheitsbewältigung ein. Auch hier gibt es wenig Neues. Er vertritt die in jüngster Zeit stark in Frage gestellte und veraltete These der gescheiterten Entanzifizierung in den 1940er Jahren und konzentriert sich ansonsten stark auf die Adenauer-Ära, in der der Mythos der sauberen Wehrmacht und eine Schlussstrich-Mentalität gepflegt wurden. Er skizziert dann kurz die bekannten Wellen des Revisionismus: die Auschwitzprozesse in den 1960er Jahren, die Auschwitz-Serie 1979, die Wehrmachtsausstellung 1995. Für all diese Wellen betont er natürlich die Positionierung der Armee, die zuerst mit einer Weißwaschung ihrer Geschichte reagiert, sich dann ab den 1970er Jahren und dem Aufstieg der Friedensbewegung ab den 1970er Jahren weitgehend aus öffentlichen Sphäre zurückzieht.

Generell ist es auffallend, wie absurd erfolgreich die Friedensbewegung darin war, die Rolle der Armee zurückzudrängen (wenngleich ich die Bedeutung, die Wilson dem Doppelbeschluss für den Fall der Regierung Schmidt gibt, für völlig überschätzt halte) und die deutsche Gesellschaft zu „pazifizieren“ (was sich in der zunehmenden Gleichberechtigung des Zivildienstes und seinem Anstieg auf beinahe die Hälfte der Wehrpflichtigen ausdrückt).

Abschließend sei noch einmal betont, dass ich trotz der Länge dieser Ausführung natürlich nur die Oberfläche kratzen kann. Ich empfand die Lektüre wegen der Synthese von 500 Jahren Militärgeschichte als sehr befruchtend, selbst wenn natürlich jede*r, der/die als Experte vertiefte Kenntnisse über eines der gestreiften Gebiete hat, zwangsläufig viel zu kritisieren finden wird (wie meine Anmerkungen für die Zeit ab 1914 glaube ich deutlich machen). Eine letzte Bemerkung habe ich noch zum Hörbuch: mir ist völlig unklar, warum Sprecher für Bücher über deutsche Geschichte gewählt werden, die offensichtlich nicht wissen, wie man Deutsch ausspricht. Die Worte sind teilweise schlicht unverständlich. Aber das ist nur ein Detail. Ich spreche eine volle Empfehlung aus!

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