Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Ich hab den September vergessen, daher hier eine Kombo-Liste.

Diesen Monat in Büchern: Untergang Roms, Russische Geheimdienste 1990-2010, NATO-Osterweiterung, Escape into Meaning, Palästina im Zweiten Weltkrieg, Neil Gaiman's Death

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -

Bücher

Kyle Harper – Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire (Hörbuch)

Spätestens seit Edward Gibbon lässt die Frage, warum das Römische Reich fiel, die westliche Welt nicht los. Zu faszinierend ist das Narrativ von Zivilisation und Dekadenz, von Hochkultur und Niedergang. Allzu offensichtlich ließen sich Parallelen zur stets als prekär empfunden eigenen Lage ziehen, im deutschen Sprachraum am bekanntesten in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“. Die moralisch überhöhten Untergangsnarrative hat die Forschung (wenngleich nicht die populäre Wahrnehmung) mittlerweile glücklicherweise hinter sich gelassen. Trotzdem bereitet der Untergang als Ereignis immer noch zahlreiche Fragen. Kyle Harper legt mit diesem Buch eine neue These vor, die er explizit als komplementär zu bestehenden Argumentationen sieht, für die er aber zuversichtlich einen erhöhten Erklärungsbedarf sieht: das Römische Reich fiel, weil es ihm nicht gelang, ein Gleichgewicht zwischen Ausbeutung und Natur zu schaffen. Es war eine Kombination aus Viren und Klimakrise. Es ist eine starke These, aber es dürfte unbestreitbar sein, dass dies bisher in Narrativen über den Untergang des Reiches keine große Rolle gespielt hat.

Harper beginnt seine Erzählung mit einigen Grundthesen, die er im Verlauf des Buches stärker ausarbeitet. Die erste dieser Thesen lautet, dass das Römische Reich seinen Höhepunkt im 2. Jahrhundert erreichte: materieller Wohlstand, praktisch keine Gefahr einer Hungersnot, neue technologische Entwicklungen und stark entwickelte Bürokratie und Militär vereinten sich zu einem nie gekannten Wohlstandsniveau. Harper lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass dies alles in malthusischen Grenzen verlief: das Römische Reich war massiv abhängig von der Nahrungsproduktion, deren Effektivität sich nur sehr begrenzt steigern ließ. Zwar brach im 5. Jahrhundert Westrom zusammen und Ostrom dagegen blieb als staatliche Einheit und Imperium intakt. Harper fügt dem aber noch einen zweiten Gedanken hinzu: Die Effektivität Konstantinopels wurde durch die Seuchen des 6. und 7. Jahrhunderts sehr stark behindert und geschwächt und weit hinter sein Potenzial zurückgeworfen.

Seine zweite These lautet, dass Klima und Krankheiten in ihrer Bedeutung für den Untergang Roms völlig unterschätzt werden. Er identifiziert drei große Seuchen, die den Mittelmeerraum entvölkern und das Reich in die Knie zwingen. Die schiere Größe des Reichs und seine Integration und Vernetzung wirkten dabei als Brandbeschleuniger. Harper sieht das Reich als inhärent instabil, weil sich Pandemien erstmals in der Menschheitsgeschichte entwickeln können. Deren erste stellt dann die Justinianische Pest dar.

Die dritte These befasst sich mit der Rolle des Klimas. Roms Aufstieg fällt in einen extrem günstigen klimatischen Zeitraum, das „Römische Klimaoptimum“ (RCO): Sehr hohe Durchschnittstemperaturen (vergleichbar zu den heutigen Temperaturen) bei gleichzeitig hohen Regenmengen (ganz und gar nicht vergleichbar mit heute) verschoben die Wachstumsgrenzen bis tief in die Sahara und hoch in die Berge (Harper verweist etwa auf archäologische Funde von Ölmühlen im griechischen Gebirge, die nur Sinn machen, wenn damals Olivenbäume in diesen Höhen wuchsen, in denen sie es heute nicht tun). Dies erlaubte allein in Italien rund acht Millionen zusätzliche Einwohner*innen innerhalb der erwähnten malthusischen Grenzen. Diese Periode kam im 4. und 5. Jahrhundert zum Ende, als eine deutliche Abkühlung eintrat und damit großer malthusischer Druck auf die Bevölkerungszahlen entstand – eine freundliche Umschreibung für ein Massensterben durch Hunger.

Harper erklärt nun die „biologische Verfassung“ des Römischen Reichs. Die Römer waren generell kein gesundes Volk und litten sehr stark unter Krankheiten. Die Kindersterblichkeit war extrem hoch. Die Römer waren wesentlich kleiner als der Durchschnitt der antiken Menschen davor und danach, was sich archäologisch nachweisen lässt; so etwa sorgte die römische Eroberung Britanniens zwar für eine Zunahme des Lebensstandards, erhöhte aber gleichzeitig massiv die Sterblichkeit und sorgte für einen deutlichen Rückgang der durchschnittlichen Körpergröße. Die Krankheitsphasen sind auf den Spätsommer (wegen der Hitze), den Herbst und den Winter (Feucht, kalt) konzentriert und weisen je ihre eigenen deutlich wahrnehmbaren Sterblichkeitsspitzen auf.

Zusätzlich wandte sich das Klima in dieser Zeit langsam, aber wahrnehmbar gegen Römer. Das Klima kühlte langsam ab und wurde trockener, was die vorherigen Rekordernten des Römischen Reichs unter malthusischen Bedingungen nicht mehr möglich machte und einen wahrnehmbaren Druck auf die Bevölkerungszahlen auszulösen begann, der dann Folgeeffekte in Form sinkender Rekutierungszahlen für die Armee, sinkenden Steuereinnahmen und steigendem Migrationsdruck an den Außengrenzen hatte.

Aber: diese Krankheiten waren selbst in ihren schlimmsten Ausprägungen praktisch immer lokale Ereignisse und konnten sich nicht über ganzes Imperium ausbreiten. Das schafften erst ganz neue Erreger, die überhaupt erst dadurch entstehen konnten, dass das Reich durch die „einigenden mikrobischen Kraft“ des Imperiums geeint war: die starke Urbanisierung und die Verbindung von besonders seuchenträchtigen Regionen innerhalb Europas. Das erste pandemische Großereignis, mit dem sich Harper näher beschäftigt, ist die antoninische Pest. Die Todeszahlen müssen horrend gewesen sein, und die Zeitgenoss*innen nahmen die Pest als einschneidendes, apokalyptisches Ereignis war. Welche Krankheit es genau war, ist historisch sehr schwierig zu rekonstruieren. Sie wütete vor allem in den Städten, in denen sie hervorragende Bedingungen fand, während das Land – wo der Großteil der Bevölkerung lebte – noch weitgehend verschont blieb. Da allerdings damals wie heute die ökonomische Aktivität und die Innovationskraft weitgehend in den urbanen Zentren konzentriert war, waren die realen Wohlstandsverluste nichtsdestotrotz immens.

Das Imperium erholt sich aber von dieser Pest, wenngleich mit deutlich geringerer Bevölkerung, ohne je wieder den Höhepunkt des 2. Jahrhunderts zu erreichen.Rom etwa dürfte eine Größe von 700.000 Einwohner*innen erreicht haben, deutlich unter dem vorherigen Höhepunkt von knapp einer Million, und zudem künstlich aufgebläht durch die Sozialleistungen, die eine unproduktive Masse an Ort und Stelle hielten. Harper betont für diese Phase des Imperiums noch einmal die Bedeutung von Handelsnetzen, die Rolle der Metropolen, die Integrationskraft der Bürokratie (vor allem ihrer provinzialen Eliten, die nun mehr denn je in die imperiale Bürokratie drängten und dort auch reüssieren konnten) sowie die Bedeutung Ägyptens und des Geitreidehandels. Letzteres verdient besondere Aufmerksamkeit: die Fruchtbarkeit Ägyptens durch die Nilüberflutungen machte es zur „Getreidekammer“ des Reichs, besonders Italiens, das von den Lieferungen abhängig war, die in einer unglaublichen Masse von Getreideschiffen über das Mittelmeer gekarrt wurde.

Ab dem Tod Marc Aurels rutschte das Reich dann erneut in eine Krise: wieder wurde es von Seuchen geschüttelt, die die römische Resilienz schwächten, und barbarische Angriffe wesentlich verheerender machten als zuvor. Zudem schlug der Klimawandel härter zu. Eine Zunahme von El-Nino-Ereignissen im Pazifik ließ die Nilflut ausfallen (solche Ausfälle kamen vorher in einem von 20 Jahren vor und wurden mit einem von drei nun zu einer regelmäßigen Erscheinung), das Wetter wurde weiterhin schlechter und kälter. Das fein austarierte System der Getreideimporte, von dem die römische Urbanisierung abhing, geriet damit aus dem Gleichgewicht.

Dazu kam die Cyprianische Pest in Nordafrika, die „vergessene Pandemie“. Diese entvölkerte weite Teile Nordafrikas (die damals ja noch fruchtbar waren und ebenfalls Getreide exportierten!) und massiv die Christianisierung beförderte. Welche Seuche genau die Region ergriff ist unklar, es könnte eventuell Ebola oder etwas Vergleichbares sein (die Quellen deuten jedenfalls darauf hin), ist aber vor allem deswegen bedeutend, weil es bei solchen Krankheiten bereits massiv hilft, wenn Patient*innen Wasser und Essen bekommen. Wegen der hohen Sterblichkeit und der Nahrungsknappheit aber starben die heidnischen Betroffenen meist für sich alleine, während christliche Patient*innen von ihren Gemeinden versorgt und gepflegt wurden und in wesentlich größerer Zahl überlebten – Harper nennt sie „Leuchtfeuer in der Pandemie“. Eine bessere Werbung für den neuen Kult konnte man sich kaum vorstellen, und für Harper ist hier ein Wendepunkt in der Akzeptanz und Verbreitung des Christentums zu suchen.

Das Reich indessen stabilisierte sich nach dem Tod von Commodus unter Septimius Severus ein letztes Mal, aber das Reich veränderte sich in seiner Grundstruktur unwiderruflich. So wurde die Rolle der Armee wurde wesentlich prononcierter. Ihre Kosten waren gigantisch und stiegen weiter an. Ohnehin war die römische Währung (der silberne Denar) extrem stabil; der Sold der Legionäre war effektiv seit Augustus nicht angepasst worden und die Währung eine Proto-Fiat-Währung, deren Silbergehalt keine großen Auswirkungen auf ihren Wert besaß, sondern stattdessen das Vertrauen in das staatliche Münzprägungsmonopol entscheidend war. Nun aber war eine Anpassung des Preissystems mitsamt dem entsprechenden weiteren inflationären Druck nicht mehr aufzuschieben und veränderte die wirtschaftlichen Gewichte innerhalb des Reiches, das bislang eine sehr geringe Präsenz gehabt hatte (kaum 1000 bezahlte Beamte im ganzen Imperium!) und dessen reale Steuerraten nun massiv stiegen. Die wesentlich involvierteren provinzialen Eliten verzichteten jedoch nicht auf ihre bisherige Ausbeutung, so dass die Belastung der Menschen spürbar anstieg.

Diese Kombination aus Krankheit, wirtschaftlichen Verwerfungen, Bevölkerungsrückgang und Barbareneinfällen subsumiert in der Geschichtswissenschaft gewöhnlich als „Krise des 3. Jahrhunderts“. Harper wendet sich in diesem Buch stark gegen die revisionistische Teilrichtung der Forschung, die diese Krise eher kleiner sieht als es die Historiografie für gewöhnlich tat, und hebt stattdessen die folgende Restauration durch die Soldatenkaiser heraus. Für ihn ist die folgende Erholung nicht Beweis für die vergleichsweise kleine Bedeutung der Krise, sondern eher Beleg für die Leistung von Septimus Severuns und der anderen Soldatenkaiser.

Deren Herrschaft markiert für Harper einen klaren Umbruch im Reich: Ab jetzt herrschen Profimilitärs. Die Soldatenkaiser führen eine scharfe Trennung von zivilen und militärischen Ämtern ein, die bisher in Form der senatorialen Elite untrennbar verbunden waren. Ein zentrales Betätigungsfeld eben dieser Eliten fiel dadurch vollständig weg, was die soziale Struktur des Reiches permanent veränderte.

Ein zentrales Merkmal der „Krise des 3. Jahrhunderts“, das bisher völlig untererforscht ist, sieht Harper erneut im Klimawandel: Das RCO endet endgültig, das Wetter wird wesentlich schlechter. Das sorgt für Dürre in den Steppenregionen und erzwingt eine Massenmigration der dortigen Steppenvölker. In Folge bedrohen die Hunnen zum ersten Mal das Reich. Hier jedoch wird Harper selbst revisionistisch: in Attila und seinen Horden sieht er keine dauerhafte Gefährdung des Reiches; sie sind mehr Episode.

Aus diesen Wirren und Wandlungen erwächst die Spätantike, die ihren „offiziellen“ Beginn üblicherweise mit Diokletian und Konstantin sieht. Diese Kaiser zentralisieren das Reich stark und führen das Christentum ein, eine weitere Wasserscheide in der Geschichte des Reichs und effektiv der ganzen Menschheit. In dieser von Krieg, Pestilenz und Klimawandel geprägten Zeit ist das Christentum wahnsinnig erfolgreich, während gleichzeitig die staatlich organisierten (!) heidnischen Kulte praktisch völlig zerstört werden (heidnischer Volksglauben bleibt noch Jahrhunderte bestehen, wie die klagenden Berichte der mittelalterlichen Missionare überzeugend belegen). Diokletian und seine Nachfolger teilen zudem das Reichs und schaffen mit Konstantinopel einen neuen Schwerpunkt, der näher an der neuralgischen Zone der Donauregion, die der Schwerpunkt des Römischen Reichs geworden ist, liegt.

Schließlich erreicht das Narrativ den Zusammenbruch des weströmischen Reiches. Das Ende des ROC und die Nachwirkungen der Pest zusammen mit den Barbareneinfällen sorgten für eine Fragmentierung und einen Zusammenbruch der staatlichen Strukturen, die nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Es ist keine sonderlich neue Analyse, dass das alles eher ein Prozess als ein Ereignis war, egal wie sehr die Plünderungen Roms die Zeitgenossen geschockt haben mögen. Sie waren auch nicht zwangsläufig; Stilicho und andere hätten mit etwas mehr Glück das weströmische Reich vielleicht erhalten können. Es ist aber sicher nicht übertrieben zu sagen, dass die Chancen für das weitere Bestehen des Imperiums zumindest im Westen zu diesem Zeitpunkt eher schlecht standen.

Der Blick Harpers wendet sich deswegen nun weitgehend nach Osten, wo das Römische Reich nicht nur weiterbesteht, sondern sich auch wieder erholt. Die kaiserliche Bürokratie und Armee funktionierten weiter, aber der demografische Druck bleibt weiter deutlich spürbar: die Bevölkerungszahl ist schlicht geringer, wenngleich sie erneut wächst. Besonders Justinian wird hier hervorgehoben: seine frühe Regierungszeit ist die Blüte der Spätantike. Die Truppen, wenigstens nominell auf einem Allzeithoch, werden mittlerweile in Gold statt Silber bezahlt (Zeichen der monetären Verwerfungen aus der Krise des 3. Jahrhunderts, in der zum ersten Mal eine Goldzahlung stattfand), das  Reich wird weiter zentralisiert (mittlerweile gibt es über 30.000 bezahlte Beamte) und das Amt des Kaisers sakralisiert – kein primus inter pares mehr, sondern eine göttliche, durch Rituale entrückte Figur an der Spitze des Staates. Starke innere Reformen wälzten das Reich so sehr um wie nie zuvor in der römischen Geschichte; wohl kein Kaiser hat je so sehr die mos maiorum ignoriert wie Justinian. Sein loyaler und fähiger General Belisarios eroberte sogar Italien zurück. Es sah gut aus für das Römische Reich. Dann jedoch wurde es von einem verheerenden Doppelschlag mikrobischer und klimatischer Natur getroffen: die Justinianische Pest einerseits und die „Spätantike Eiszeit“ andererseits zwangen die ganze Region in die Knie.

Die Pest war vermutlich die Beulenpest, die auch im 14. Jahrhundert Europa verheerte, mit ähnlichen Todeszahlen. Die Beulenpest wird durch Nagetiere übertragen und ist damit grundsätzlich unabhängig von menschlichen Migrationsmustern – anders als bei Antoninus Pest oder der des Cyprian ist nun auch das Land betroffen gleichermaßen betroffen. Die Strukturen des Reiches begünstigen die Verbreitung der Krankheit gleichwohl massiv – sowohl die immer noch zu tausenden das Mittelmeer überquerenden Getreideschiffe als auch die Städte sind riesige Reservoirs für Ratten, die Träger der Flöhe sind, die die Ratten töten und dann auf den Menschen überspringen. Die Bevölkerung sinkt wohl um rund 60% – ein massiver Aderlass, die Tödlichkeit der Infektion selbst liegt für Betroffene bei gut 80%! Damit geht ein weitgehender Zusammenbruch von Rekrutierungszahlen für die Armee einerseits und der Steuerbasis andererseits einher, was einen massiven Anstieg der Steuerlast für die Überlebenden bedeutet, weil die Steuern als Gesamtsumme für die Distrikte und nicht pro Kopf erhoben wurden (anders als im 14. Jahrhundert, als die Pest den Überlebenden große Wohlstandsgewinne durch steigende Löhne brachte).

Die „spätantike Eiszeit“ auf der anderen Seite wurde vermutlich durch eine Serie von Vulkanausbrüchen ausgelöst. Das Reich erlitt ein „Jahr ohne Sommer“ mit massiven Ernteausfällen. Der Klimawandel bedeutete zudem einen endgültigen Verlust von weiten früher landwirtschaftlich genutzten Zonen, die bereits in den Jahrzehnten vorher mehr und mehr marginalisiert wurden und bedeutete den Rückzug der Menschen aus den betroffenen Gebieten. In Rom lebten nun kaum mehr 30.000 Menschen – das füllte nicht einmal mehr eine Ecke des Kolosseums, wie Harper eindringlich beschreibt.

Diese Katastrophen hatten starke Auswirkungen auf den Glauben und die Religion, besonders das ohnehin endzeitaffine Christentum. Gregor der Große kann als bedeutender Papst stellvertretend hierfür stehen. Er sah sich und seine Zeit an der Schwelle zur Apokalypse, was die besondere Wichtigkeit der missio beförderte: die Seelen der Heiden mussten rechtzeitig vor dem Untergang konvertiert werden. Die einzigen Großbauten jener Zeit, die überhaupt noch entstehen oder erhalten werden, sind Kirchen, was das Aussehen der stark geschrumpften Städte dominiert. Der massive Wohlstandsverlust (Harper stellt sich auch hier gegen den Revisionismus jüngerer Forschung, der den Untergang des Römischen Reiches nicht so sehr als katastrophalen Zivilisationsverlust beschreibt und hebt eben diesen hervor) ließ die Kirche als mit Abstand reichste Institution zurück und schwächte gleichzeitig den Staat. Damit waren die Voraussetzungen für das Mittelalter gegeben.

Die Pest selbst blieb für zwei Jahrhundert endemisch und traf im Schnitt knapp alle 20 Jahre die Region; die Bevölkerung betrug nun noch maximal die Hälfte des früheren römischen Reichs. In dieser Endzeitstimmung vereinte Mohammed die arabischen Stämme unter dem Banner einer neuen, monotheistischen Religion mit starkem Missionierungsaspekt und Idee der „letztgültigen“ Offenbarung. Mit diesem Großereignis, das die römische Macht vollends brechen und Ostrom zu einer puren Regionalmacht herunterstutzen sollte, endet Harpers Buch.

Ich bin kein Experte für die Antike, aber aus meinem beschränkten Wissensstand fand ich wenig zu kritisieren. Harper betont immer wieder, dass seine Thesen komplentär zu sonstigen Erklärungen für den Untergang Roms sind und verwahrt sich gegen allzu deterministische Ansichten; besonders in seiner Betonung wirtschaftlicher Zusammenhänge innerhalb des Imperiums sichert er sich dagegen immer wieder ab. Gleichwohl ist es gerade das den Lesefluss erleichternde und zum Genuss machende starke Narrativ, das diesem Ziel immer wieder im Weg steht, weil Harper – eine generelle Tendenz angelsächsischer Geschichtsschreibung – zu einer Überbetonung eben dieses Narrativs neigt. Solange man das aber im Hinterkopf behält, ist das kein grundsätzliches Problem. Und angesichts der Klimakrise, in der wir selbst stecken, und den Erfahrungen der Corona-Pandemie, ist dieses Buch mit Sicherheit eines, das nicht nur von Expert*innen antiker Geschichte gelesen werden sollte.

Andrei Soldatov – The New Nobility: The Restoration of Russia’s Security State and the Enduring Legacy of the KGB

Der russische FSB genießt einen schier legendären Ruf, der zu guten Teilen auf einer langen Traditionslinie beruht: der gefürchtete zaristische Geheimdienst stellte sich nach 1917 lückenlos als NKWD in die Dienste der kommunistischen Diktatur und wurde bald darauf in den KGB umstrukturiert, der nicht nur ein Repertoire an Antagonisten für James Bond zu stellen wusste, sondern auch für das Funktionieren der Diktatur unabdingbar war. Über 200.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen und vermutlich Millionen Zuträger*innen schufen den Polizeistaat der Sowjetunion. Unter Jelzin gab es Versuche, den KGB zu entmachten und demokratischer Kontrolle zu erstellen. Doch bald waren diese beendet, und 2000 übernahm mit Wladimir Putin der ehemalige Chef des nun in FSB umbenannten Geheimdiensts das höchste Amt im Staat. Er belohnte seine Weggefährten fürstlich: ein neuer Adel entstand, der dem vorliegenden Buch von Andrei Soldatov den Namen gegeben hat.

Soldatov beginnt seine Geschichte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Der KGB war direkt am fehlgeschlagenen Putsch gegen Gorbatschow beteiligt, weswegen Jelzin ein gesundes Grundmisstrauen gegen den Dienst mitbrachte. Da Jelzin auch durch die Zerstörung der UdSSR und damit deren zentraler Institutionen an die Macht kam – vor allem die KPdSU, die quasi totale Kontrolle über den KGB ausübte. Da das neue Russland keine solche Partei kennen sollte, war ein übermächtiger Geheimdienst ein Problem. Um ihn zu kontrollieren, beschloss Jelzin auf „checks and balances“ zu setzen.

Zu diesem Zweck zerlegte er den KGB in mehrere konkurrierende Geheimdienste, sie untereinander um Einfluss rangen und sich somit neutralisierten – soweit zumindest die Theorie. Der FSB begann jedoch bald, seine konkurrierenden Geheimdienste immer mehr zu kannibalisieren. Im Zuge dieser Umstrukturierungen hatte sich auch das Anforderungsprofil des FSB gegenüber dem KGB geändert. Anstatt einen gewaltigen Polizeistaat aufrechtzuerhalten, sollte er sich auf „klassische“ Geheimdienstaufgaben wie Spionageabwehr und Auslandsspionage konzentrieren.

Bereits unter der Ägide Putins begann der FSB jedoch, in alte Muster zurückzufallen und sich als „Schwert und Schild“ des Staates zu begreifen, um einmal die Stasi-Rhetorik zu bemühen. Diese Mentalität wurde mit Putins Aufstieg zum Ministerpräsidenten und kurz darauf zum Präsidenten zur neuen Staatsdoktrin. Putin war sich seiner Herkunft wohl bewusst und brachte diverse Weggefährten mit in den Kreml. Aber auch diejenigen, die zurückblieben, wurden wesentlich aufgewertet.

Bereits in der Sowjetunion waren die FSB-Agenten mit Privilegien bedacht worden. Unter der „Liberalisierung“ Russlands in den 1990er Jahren verramschte der FSB seine Besitztümer an die reiche Elite des Geheimdienstes, dessen höhere Offiziere auf Basis der FSB-Besitzstände zu Millionären wurden. Ein klarer Bruch bestand zwischen den Generälen und Obersten des Geheimdiensts jenseits der 60 und den jüngeren Agenten darunter: letztere erhielten praktisch nichts, was einen Abfluss talentierten Personals in die neue Welt der Privatisierungen zufolge hatte, wo in der Folgezeit viele ehemalige KGB-Agenten Anstellung als „Sicherheitsbeauftrage“ der Unternehmen fanden – eine kaum verhohlene Legalisierung der Industriespionage, die für die neue russische Wirtschaft zum normalen Unternehmensfaktor wurde.

Der FSB selbst setzte dafür perverse Anreize: wer in der Privatwirtschaft mehr verdiente als beim FSB, musste die Differenz abgeben – oder auf das FSB-Gehalt verzichten. Das sorgte dafür, dass die FBS-Elite effektiv kündigte, aber nominell im FSB blieb und somit weiter Zugang zu allen Kolleg*innen und Informationen hatten. Die Folgen kann man sich leicht ausdenken.

Putin machte mit diesem System Schluss, indem er den FSB wieder zur Elite des russischen Systems machte. Privilegien wurden wieder ausgegeben und massig Möglichkeiten für Bereicherung geschaffen. Es ist diese Entwicklung, die zur Rede des titelgebenden „neuen Adels“ führte und den FSB wieder wie in der Sowjetunion zur zentralen Stelle im Staat machte. Die Machtstellung hatte er aber bereits unter Jelzin erreicht, wie ein Interview mit Putin aus dem Jahr 1998 gut wiedergibt: gefragt, ob eine Putschgefahr wie bei Gorbatschow bestünde, lachte Putin nur und fragte „Wozu, wir sind doch schon an der Macht“. Diese zynische Ehrlichkeit hat Putin, zumindest wenn man Merkel Glauben schenken darf, nie abgelegt.

Anfang der 2000er Jahre wandelte sich das Betätigungsfeld des FSB aber grundlegend, im Einklang mit dem der meisten westlichen Geheimdienste: die Terrorbekämpfung rückte auf die Agenda. In Russland hatte dies nicht dieselben Ursachen wie in den USA; stattdessen war es der genozidale Krieg in Tschetschenien, der eine Welle sowohl seperatistischen als auch islamistischen Terrors nach Russland brachte. Der FSB reagierte darauf mit nackter Gewalt – und einer beeindruckenden Inkompetenz.

Mehrere große Terroranschläge dieser Jahre sorgten für beeindruckende Opferzahlen – nicht so sehr wegen der Terroristen selbst, sondern weil der FSB mit einer beeindruckenden Gleichgültigkeit gegenüber zivilen Toten vorging und zudem schlicht nicht besonders gut war. Soldatov rekonstruiert mehrere Terroranschläge dieser Ära im Detail, aber das Muster ist dasselbe: für den FSB galt die Regel, dass alles vergeben werden konnte, was die Kontrolle des Staates nicht gefährdete. Über zweihundert Zivilisten zu töten, gefährdete nicht den Staat. Die Kontrolle über eine Region zu verlieren dagegen schon. In letzterem Fall wurde das Personal schnell ausgewechselt. In ersterem Fall wurde es reich belohnt. Wenig verwunderlich, dass bei der Schadensvermeidung nichts gelernt wurde.

Eine sehr Putin-spezifische Entwicklung in den 2000er Jahren stellt die Schaffung einer komplett neuen Terrordefinition und einer massiven Ausweitung der Kompetenzen dar. Terrorismus wurde unter Putin nun als all das definiert, was den Staat und seine Tätigkeit gefährden könnte – inklusive und vor allem Kritik an demselben. Das war der Beginn des modernen russischen Polizeistaates. Im Zuge dieser Definition wurde jegliche abweichende Meinung nicht nur als potenziell terroristisch gebrandmarkt, sondern auch als Produkt ausländischer Spionagetätigkeit.

Auch das war eine lange KGB-Tradition, die der FSB einfach fortführte. Mit uhrwerksmäßiger Routine gab der FSB völlig aufgeblähte Erfolgszahlen heraus. Rund 100 enttarnte feindliche Agent*innen werden jährlich gemeldet, dazu rund 400 einheimische Kollaborateure. Dass diese Zahlen überzogen sind, sollte offensichtlich sein, aber die Abwehr echter Spione ist auch nicht der Grund für diese Maßnahmen. Vielmehr wird so jede Kritik abgeschreckt, weil sie sofort als ausländische Aktivität gebrandmarkt wird und potenziell mit heftigen Strafen belegt.

Auf diese Art verwandelte der FSB Russland unter Putin mit Riesenschritten erneut in einen Polizeistaat. Der Geheimdienst war zentral in der Zerstörung des zarten Pflänzchens der Demokratisierung und Liberalisierung, auf dem bereits Jelzin herumgetrampelt war.Gleichzeitig baute der Geheimdienst eine größere Cyberkriegs-Abteilung auf, die ihre Wurzeln ebenfalls im Kampf gegen Dissidenten und Tschetschenen hatte, aber bald auch im Ausland Schaden anrichtete. Der Clou ist dabei, dass der FSB weniger eigene Hacker*innen unterhält, sondern „freiwillige“ Gruppen auf die „richtigen“ Ziele dirigiert und das in einer perversen Verhöhnung von Zivilcourage durch öffentliche Anerkennung belohnt.

Ein weiteres Betätigungsfeld des FSB ist das sogenannte „Kompromat“, also echte oder gefälschte belastende Informationen über unliebsame Gegner. So versuchte der FSB etwa, einen amerikanischen Diplomaten zu erpressen, indem er Bilder von angeblichen Seitensprüngen fakte. Die amerikanische Botschaft stellte sich klar hinter den Diplomaten und verurteilte die Angriffe, aber allzu oft dürften solche Schmierkampagnen erfolgreich sein.

Die Bestandsaufnahme Soldatovs stammt noch aus den frühen 2010er Jahren und kennt insofern die massive Zunahme russischer Hackingangriffe, der flächenmäßigen Streuung von Fake News und natürlich dem Angriff auf die Ukraine seit 2014 nicht. Umso erstaunlicher und erschreckender ist, wie diese Methoden bereits in den ersten Tagen von Putins Herrschaft erkennbar werden und wie hellsichtig die Analyse dessen ist, was in Russland passiert. Das ganze Buch besitzt zwar einen Unterton, der Russland als nervige Regionalmacht ansieht, die dem Westen nicht wirklich gefährlich werden kann und eher ihre direkten Nachbarn bedroht, ist aber ansonsten für die Geschichte des FSB sehr zu empfehlen und auch nicht übermäßig lang.

M. E. Sarotte – Not one inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate (Hörbuch)

In der Krise um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022/23 brachten die Gegner*innen einer Sanktionspolitik gegenüber Russland und Unterstützungspolitik für die Ukraine häufig das Argument vor, dass die NATO zumindest eine Mitschuld an dem russischen Angriff trage, da sie durch ihre Osterweiterung und damit eine Verschiebung der strategischen Peripherie nach Russlands Grenzen hin einen sicherheitspolitischen Druck erzeugt habe, den Moskau durch eigene Handlungen erleichtern zu suchen müsste. Sie beklagen das Verpassen einer Chance, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubunden. Ich habe über den Mythos, dass die Osterweiterung der NATO gegen Versprechen des Westens während des Falls des Eisernen Vorhangs verstoßen habe, schon einmal thematisiert. M. E. Sarottes Buch war nun eine willkommene Gelegenheit, um sich näher mit dieser Epoche und der Diplomatie darin zu beschäftigen.

Sarotte beginnt ihre Erzählung mit „zwei Dresdner Momenten“: dem Sturm wütender DDR-Bürger*innen auf die Stasi-Behörde und Kohls 10-Punkte-Plan. Diese beiden Momente rahmen das erste Kapitel ein. Aus der Perspektive des jungen Agenten Wladimir Putin, der Demonstrierende mit der Androhung von Schusswaffengebrauch von einem Eindringen in die KGB-Residentura abhält, sehen wir den Zusammenbruch der SED-Diktatur. Für Putin war dieser Moment, wie hinreichend bekannt ist, ein traumatisches Desaster, das ihn sein Leben lang prägen und das seinen Zugang zur Macht entscheidend beeinflussen würde. Anders als in der üblichen deutschzentrischen Erzählung gerne kolportiert, erfolgte der Fall der Mauer nicht in einem Vakuum. Die Deutschen waren tatsächlich ziemlich spät dran.

Ebenso wie Valdislav Zubok in seinen Büchern „Collapse. The Fall of the Soviet Empire“ (hier besprochen) und „A Failed Empire“ (hier besprochen) nimmt auch Sarotte eine gesamteuropäische Sichtweise ein und betont die Rolle Polens und Ungarns. In Polen war die Oppositionsbewegung seit 1980 in einen Dauerkampf gegen die kommunistische Diktatur verstrickt, während Ungarn im Lauf des Frühjahrs und Sommer 1989 effektiv aus dem Warschauer Pakt austrat und ihre Grenzen öffnete, was den Druck auf die Nachbarstaaten immens erhöhte. Gorbatschow indessen hatte zu jener Zeit mit einem ganzen Strauß von Problemen zu kämpfen – von der desolaten wirtschaftlichen Lage zu innerer Opposition gegen die Reformpolitik hin zu seinem eigenen politischen Unvermögen – und ging nicht entschieden gegen diese Entwicklung vor.

In den USA indessen war nicht mehr Präsident Reagan an der Macht, sondern sein Nachfolger George H. W. Bush. Diese Personalie war für den Prozess von höchster Bedeutung, weil Bush und vor allem sein Sicherheitsberater Brent Scowcroft bei weitem nicht so idealistisch gesinnt waren wie Reagan. Gorbatschows große Pläne – eine Auflösung der NATO und des Warschauer Pakts und eine Gründung eines komplett neuen, umfassenden Systems – verwarfen sie von Beginn an. Darin waren sich Kohl und Bush auch einig. Sie hielten solche Gedankenspiele für Traumtänzerei. Das Heft des Handelns lag beim Westen, und die Sowjetunion hatte keine Karten mehr in der Hand. Kohl sah die Lage nach kurzer Verwirrung in den Wochen nach dem Mauerfall klar und war entschlossen, sie zu nutzen. Sein Vorschlag einer Föderation der beiden deutschen Staaten war ein deutliches, unilaterales Vorpreschen, mit dem er zwar die deutschen Alliierten und Gorbatschow vor den Kopf stieß, aber Fakten schaffte – eine Strategie, die er im Einigungsprozess noch öfter anwenden sollte.

Die USA nehmen als Veto-Macht in den Geschehnissen eine entscheidende Rolle ein. Für Bush und seine Berater stand der Erhalt der NATO und ihre fortgesetzte Rolle von Anfang an außer Frage. Bush lehnte sowohl eine Auflösung des Bündnisses als auch eine Fusion mit dem Warschauer Pakt ab. Gorbatschows Position war wesentlich unklarer. Er wollte die NATO grundsätzlich aufgelöst oder um die Sowjetunion erweitert sehen (er stellte sogar einen informellen Aufnahmeantrag), aber wirklich konkret waren diese Überlegungen nicht. In den Verhandlungen wurden sie immer wieder von anderen Themen beiseitegedrängt, bis die Auflösung der UdSSR sie hinfällig machte.

Kohl indessen verhandelte im ganz kleinen Kreis in direkten Verhandlungen mit Gorbatschow einerseits und Bush andererseits. Andere Mächte wurden bewusst außenvorgehalten, auch Großbritannien und Frankreich (was Thatcher und Mitterand ziemlich ärgerte). Was die USA vermeiden wollten war von Anfang eine Art Versailles 2.0, bei dem zahlreiche Mächte am Tisch saßen und mit ihren Sonderwünschen die Friedensverhandlungen endlos hinauszögerten. Deutschland umgekehrt wollte Jalta 2.0 vermeiden – ein Diktat der vier Siegermächte. Die Verhandlungen kamen daher beiden Seiten zupass.

Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich auch ein deutlicher Konflikt zwischen Kohl und seinem Außenminister Genscher. Der FDP-Mann wollte, ganz im Geiste der Ostpolitik, die Gelegenheit für eine Auflösung der NATO und eine europäische Sicherheitsarchitektur nutzen. Kohl riss sämtliche Kompetenzen an das Kanzleramt und fuhr Genscher immer wieder in die Parade; der Außenminister seinerseits suchte nach Verhandlungspartnern in der Sowjetunion. Es war Kohl, dessen Rechnung aufging, denn die Macht des Kanzleramts und der Unwille der Westalliierten für diese Lösung einerseits und die Auflösung der UdSSR andererseits machten das zu einem reinen Hirngespinst.

Wie auch beim 10-Punkte-Plan betätigte sich Deutschland als Treiber der Verhandlungen. Kohl gelang es sehr geschickt, durch das Schaffen von Fakten ein vebreitetes Gefühl der Unausweichlichkeit zu schaffen. Innerhalb von zwei Monaten ging die ganze Welt davon aus, dass die Frage nicht mehr war, ob Deutschland wiedervereinigt werde, sondern wann und zu welchen Bedingungen. Für Deutschland war natürlich die volle Souveränität wichtig, aber während Genscher und die FDP durchaus bereit waren, Einschränkungen bei der Bündniswahl bis hin zu einer Neutralisierung Deutschlands à la Stalinnote zu akzeptieren (ich habe über dieses Szenario bereits geschrieben), war für Kohl und weite Teile der CDU eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands unverhandelbar – schon allein, um die Unterstützung der USA zu bekommen.

Die Frage der freien Bündniswahl betraf bei weitem nicht nur das Gebiet der bald ehemaligen DDR. Auch Osteuropa geriet hier in den Fokus. Diese Zeit ist für die Kausa des „not one inch„-Versprechens von Außenminister Baker, das auch den Titel des Buches bietet, relevant: Baker erklärte während der 2+4-Verhandlungen (ein Format, das außer den vier Haupt-Alliierten alle Kriegsteilnehmer gegen Deutschland außen vor hielt und umgekehrt Deutschland volle Gleichberechtigung zugestand, ein gewaltiger Sieg Kohls und Bushs), dass die NATO sich nicht „one inch“ über die Elbe bewegen werde. Es ist nach wie vor unklar, inwieweit Gorbatschow glaubte, damit ein belastbares Abkommen in der Hand zu haben; weder Bush noch Kohl noch die dabei ohnehin nie gefragten Osteuropäer fühlten sich daran gebunden.

Ein schwacher Versuch Gorbatschows, die Regel in die 2+4-Verträge zu schreiben, scheiterte. Stattdessen akzeptierte Gorbatschow die Formel der Helsinki-Konferenz von 1975, wonach alle souveränen Staaten ihr Bündnis selbst wählen könnten – inklusive derer des Warschauer Pakts. Bislang war das ein reines Lippenbekenntnis gewesen, aber jetzt, wo Osteuropa der sowjetischen Knute entkam, wurde es plötzlich hoch relevant. Gorbatschow glaubte fest daran, dass die europäischen Länder freiwillig in ein neues Sicherheitssystem mit der Sowjetunion treten würden – ein hochgradid irreale Vorstellung, denn die grundlegende Dynamik, nach der ohne amerikanische Präsenz in Europa ein Abrutschen des Kontinents in die Einflusssphäre Moskaus drohte, hatte sich seit 1949 nicht verändert.

Die konkreten Regeln, die für die NATO-Expansion ausgearbeitet wurden, waren denn die Folgenden: die NATO würde keine Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationieren. Bis 1994 würden alle alliierten Besatzungstruppen das Land verlassen. Der größte Streitpunkt während der Verhandlungen war, ob das Gebiet der ehemaligen DDR von NATO-Truppen oder nur Bundeswehreinheiten betreten werden dürfte. In den 2+4-Verträgen wurde explizit festgeschrieben und mit einer zusätzlichen Unterschrift aller Parteien bestätigt (!), dass dies ab 1994 geschehen könnte, sofern die deutsche Regierung ihre Zustimmung gab. Das war für die Osterweiterung essenziell, denn eine demilitarisierte ehemalige DDR hätte es der NATO praktisch unmöglich gemacht, Verbindungslinien zu ihren potenziellen neuen Verbündeten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zu halten. Diese jedenfalls würden lieber heute als morgen in die NATO eintreten, eine Aussicht, die innerhalb des Bündnisses nicht eben unumstritten war. Weder Deutschland noch, ganz besonders, Frankreich waren sonderlich begeistert und bremsten, wo sie konnten.

Ein Grundproblem des Verhandlungsprozesses war die Unsicherheit bezüglich der UdSSR. Kohl und Bush schätzten, anders als Genscher, die politische Lage völlig richtig ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gorbatschow noch lange an der Macht sein würde, war gering; die Wahrscheinlichkeit, dass nach ihm wesentlich unangenehmere Verhandlungspartner kämen, sehr hoch. Kohl sprach deshalb wiederholt davon, die „Ernte vor dem Sturm einbringen“. Diese Annahme eines Regimewechsels in der Sowjetunion und eines möglichen Zusammenbruchs war von den USA wie Deutschland eingepreist und bestimmte den Gang der Verhandlungen. Es war müßig, eine Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Gorbatschows zu entwickeln, weil diese niemals Bestand haben würde. Es galt, abzusichern was erreicht war. Darin liegt auch der Grund für die im Gegensatz zu Reagan so auffällige Knausrigkeit Bushs bezüglich Krediten für Gorbatschow: er rechnete damit, dass das Geld verloren sein würde – analog zu US-Hilfen für die Tschechoslowakei 1945 bis 1947.

Das eigentliche Albtraumszenario aber war das zahlreicher nuklear bewaffneter Bürgerkriegsparteien bei einem Zusammenbruch des Imperiums. Dies passierte glücklicherweise nicht, da mit Boris Jelzin ein neuer, williger Verhandlungspartner bereitstand. Diese Kooperation beruhte auf Jelzins Kalkül, westliche Hilfe zu erhalten – während er die Sowjetunion zerstörte. Genauso kam es auch. Die USA erkannten Jelzin als Verhandlungspartner an, und im Dezember 1991 wurde die rote Fahne über dem Kreml unter unwürdigen Umständen eingeholt. Damit war Genschers Alternativentwurf gescheitert, aber noch nicht alle Versuche einer Einbeziehung Russlands in eine wie auch immer geartete neue Sicherheitsarchitektur.

Bis 1994 allerdings liefen die Beteiligten auf Eierschalen. Solange sowjetische beziehungsweise russische Truppen in Deutschland standen, konnten diese den Einigungsprozess blockieren – eine Erweiterung der NATO war also nicht möglich. Die Akzeptanz der Einheit war von der Bundesregierung effektiv gekauft worden. Das Geld, über 12 Milliarden DM, war praktisch direkt in den korrupten Kanälen Russlands verschwunden (ein weiterer Beleg für Bush, hätte er noch eines bedurft, dass jeder Kredit verschwendetes Geld war). Die Summen dienten der Deckung der „Besatzungskosten“ und dem Abzug der Roten Armee, und Kohl war so erpicht darauf, dass er im Sommer 550 Millionen extra für einen fünf Monate früheren Abzug auf den Tisch legte. Russland gab dieses verhandlungstechnische Ass hauptsächlich aus der Hand, weil der Staat – wie immer seit den frühen 1980er Jahren – praktisch bankrott war und jeden Pfennig dringend brauchte.

Doch nicht nur in der Sowjetunion hatte es einen Machtwechsel gegeben. Relativ überraschend verlor Bush 1992 die Wahl gegen Bill Clinton, der mit einem ganz eigenen außenpolitischen Team einen Richtungswechsel einläutete. Die staffer, die Clinton zur eigentlichen Gestaltung der Außenpolitik mitbrachte, waren alle stramm auf NATO-Expansionskurs und forcierten diesen mit wesentlich mehr Schärfe als Bush das getan hatte. Gleichzeitig war Clintons Konzentration auf Bosnien gerichtet, wo zu dieser Zeit die Balkankrise ihren Ursprung nahm. Die Aufmerksamkeit der europäischen Länder dagegen wurde durch die Wandlung der EG in EU, die Aufnahme von Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen (die letztlich scheiterte) in Beschlag genommen. Explizite Wünsche Osteuropas und der USA nach einer zeitgleichen EU-Erweiterung nach Osten wurden wiederholt zurückgewiesen, auch, weil die neuen Beitrittsländer explizit forderten, besser als die Visegrad-Staaten behandelt zu werden. Deutschland ächzte zudem unter den Kosten der deutschen Einheit.

Unter diesen Umständen fand der Antrag Jelzins auf Aufnahme Russlands in die NATO vermutlich nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient hatte. Wie ernst es Jelzin damit wirklich war ist schwer zu sagen; sein Alkoholismus schlug immer wieder durch und ließ ihn völlig abwegige Dinge tun (wie Clinton lakonisch bemerkte, war es besser, einen friedlichen Betrunkenen als einen nüchternen Kriegstreiber im Kreml zu haben). Zu all dem kam noch ein weiteres gewaltiges außenpolitisches Problem: die Ukraine.

Diese hatte nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion nun viele ICBMs, konnte diese aber mangels Technologie und Ausbildung nicht nutzen. Es war von Anfang an US-Politik, alle ehemals sowjetischen Nuklearwaffen in russische Hände zu geben, um bessere Rüstungskontrolle üben zu können. Besonders vor dem Hintergrund von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ergibt sich hier ein faszinierendes counterfactual einer abschreckungsfähigen Ukraine. Diese war bereits in den 1990er Jahren um ihre Integrität besorgt und wollte Mitglied der NATO und EU werden. Dies stellte selbst unter Jelzin eine rote Linie für Russland dar, was dieser auch unumwunden kommunizierte. Die Ukraine versuchte, in langen Verhandlungen Sicherheitsgarantieren zu erhalten, aber schließlich zwang sie ihre desolate wirtschaftliche Lage (die noch schlimmer als die ebenso katastrophale russische war) zum Einlenken. Die Ukraine bekam 1997 das zahnlose Budapest-Memorandum, das „assurances“ ihrer territorialen Integrität, nicht aber die wesentlich weitreichenderen „guarantees“ anderer solcher Abkommen beinhaltete und übergab alle Atomwaffen an Russland.

Ein weiterer außenpolitischer Themenkomplex war die Zukunft der Visegrad-Staaten. Diese wollten sowohl in die NATO als auch in die EU; beides lehnten diverse EU- und NATO-Staaten (erneut vor allem Frankreich) ab. Die Kosten dieser Umstellung waren schließlich gigantisch, auch in politischer Hinsicht. Allein die Neuaufstellung der Agrarsubventionen war ein Albtraum. In diesem Kontext drängte Russland weiterhin auf ein alternatives Sicherheitssystem und stieß damit zumindest teilweise auf Interesse. Die Clinton-Administration sah eine Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und Staaten wie die Ukraine, deren Aufnahme in die NATO oder EU illusorisch war, in eine Art Warteraum zu schieben (ähnlich dem wenig erfolgreichen EU-Versuch der „privilegierten Partnerschaft“ mit der Türkei).

1994 erfolgte die Gründung der „Partnership for Peace“, einem großen Bündnis der NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten, das gemeinsam den Frieden in Europa sichern sollte und das eine NATO-Erweiterung überflüssig machen würde. Doch die PfP wurde sowohl durch Jelzin, dessen diplomatisches Auftreten extrem ungeschickt war (beziehungsweise von innenpolitischen Dynamiken her erzwungernermaßen unkooperativ), und die bereits genannten staffer, die eine Art Bürokratenkrieg gegen PfP führten, der von Clinton und Außenminister Warren Christopher wegen ihrer Inanspruchnahme durch Bosnien kaum geblockt wurde, bis Ende des Jahres praktisch zerstört.

Dieses faktische Ende von PfP stellte einen wichtigen Scheidepunkt dar. Clinton war ab jetzt kategorisch und entschlossen für die NATO-Osterweiterung. Jelzins Überspannung des diplomatischen Bogens ließ das auch alternativlos erscheinen, eine Kooperation mit Russland war kaum mehr möglich. Verantwortlich war vor allem der Angriffskrieg gegen Tschetschenien ab 1994/95, der die Beziehungen drastisch abkühlte und das Bild eines aggressiven, Zivilisten mordenden und die Souveränität seiner Nachbarn mit Füßen tretenden Russland mit Macht zurückbrachte.

1995 ging das Drama um die Osterweiterung in die nächste runde. Frankreich kehrte nach jahrzehntelanger Abwesenheit in die NATO-Strukturen zurück, um ein Mitspracherecht zu haben und den Prozess zu verlangsamen. Auch die EU blockte eine Erweiterung weiter ab. In den USA dagegen machte die GOP, seit den Midterms 1994 mit einer Mehrheit im Repräsentantenhaus, massiven Druck auf eine möglichst schnelle Erweiterung. Die Frage wurde zum Politikum im 1995 beginnenden Präsidentschaftswahlkampf, so dass sich Clinton auch politisch gar nicht mehr leisten konnte, anders als ein unbedingter Vertreter der Erweiterung aufzutreten. Gleiches galt spiegelbildlich aber auch für Russland, wo wie in USA 1996 gewählt wurde. Jelzin musste sich als russischer Patriot und nach außen schlagkräftig auftretender Präsident in Szene setzen.

Die amerikanische Außenpolitik befand sich damit in einer paradoxen Situation, die Sarotte als „partnerschaftliche Eindämmung“ bezeichnet: einerseits möchte man eine Partnerschaft mit Russland erhalten, andererseits möchte man seine Ambitionen und Einflusssphäre eindämmen. Dieses Paradox war letztlich unauflösbar, was auch in Russland zu immer mehr Frustration führte. Solange Jelzin an der Macht war, ließ es sich aber mehr schlecht als recht aufrechterhalten, wozu auch das gute persönliche Verhältnis zwischen Jelzin und Clinton beitrug. Doch 1996 verschlechterte sich Jelzins Gesundheitszustand massiv, was zu einer Welle an internen Machtkämpfen führte, die die russische Außenpolitik lähmten. Gleichzeitig begann in den USA langsam der Lewinsky-Skandal, der die Aufmerksamkeit des Hegemons auf fast anderthalb Jahre fesseln sollte. Die zerstörerische Wirkung dieses Skandals wird von Sarotte ausführlich herausgearbeitet.

1997 erfolgte dann allerdings trotzdem endlich die Finalisierung der NATO-Erweiterung. Noch immer versuchte Russland, Sonderregeln für Osteuropa zu implementieren, was Stationierung und andere Fragen anging. Manchmal schickte sich Jelzin gar an, die Erweiterung gänzlich zu verhindern, was allseitig deren Dringlichkeit nur weiter unterstrich. Auch einige US-Politiker*innen und NATO-Staaten stemmten sich noch einmal gegen die Erweiterung. Aber die Clinton-Administration war voll entschlossen, die Erweiterung durchzusetzen, während Jelzin recht problemlos Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei als Neumitglieder akzeptierte.

Wesentlich konfliktreicher war die Frage der Mitgliedschaft der baltischen Staaten. Für Jelzin galt (wie auch später Putin), dass keine der ehemaligen Sowjetrepubliken aufgenommen werden dürfte. Clinton wäre vielleicht bereit gewesen, einen solchen Kompromiss zu tragen, aber vom Lewinsky-Skandal in Anspruch genommen lag das Heft dees Handelsn bei Chef-Unterhändler Talbott, der maximalistisch die „Talbott-Doktron“ verkündete, nach der die Aufnahme der baltischen Staaten eine conditia sine qua non für die USA darstellte. Für Sarotte gibt es hierfür außer einer unerklärbaren ideologischen Fixierung wenig einleuchtende Gründe.

Wie bereits 1990/91 versuchten Kohl und Clinton wiederum, möglichst viele Gewinne abzusichern, bevor der Sturm losbrechen würde: es stand zu erwarten, dass Jelzins Nachfolger (Jelzin würde 2000 nicht mehr zur Wahl antreten) nicht mehr so verhandlungswillig sein würde; sowohl Kohl als auch Clinton waren zudem um ihr Erbe besorgt und wollten vor dem Ende ihrer Amtszeiten noch ihre Erfolge absichern (für Kohl hauptsächlich die europäische Einheit).

Die Lage mit den europäischen Staaten wurde schließlich durch „Erweiterungsrunden“ geklärt: zuerst würen Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn beitreten, dann die anderen Staaten. Talbott setzte sich hier durch, indem Clinton die Maxime ausgab, der Beitritt der anderen ostueropäischen Staaten (nicht aber Weißrusslands und der Ukraine!) sei „a question of when, not if„. Im Gegenzug dazu erhielt Russland nur die NATO-Russland-Akte von 1997, die Jelzin wenig außer ein paar Konferenzen und der Möglichkeit, weitgehend konsequenzlos „Nein“ zu sagen, gab.

Am Ende des Buches steht dann die Machtübergabe Jelzins an Putin. Die Wahl des bis dahin recht unbekannten KGB-Chefs und St.-Petersburg-Politikers fiel vor allem wegen einer wichtigen Tugend Putins: Loyalität. Er hatte seinen Förderer, den ehemaligen St. Petersburger Bürgermeister, nach dessen Fall aufgrund massiver Korruption bedingungslos verteidigt. Jelzin erwartete dasselbe für sich und seine Familie unter Putin, eine Sorge, die er völlig zurecht hatte und die einmal mehr die Vorteile demokratischer Regierungssysteme aufzeigt, wo weder Kohl noch Merkel sich je Sorgen machen mussten, nach 16 Jahren Regierung plötzlich von ihren politischen Gegnern ins Gulag gezwungen zu werden. In dieser Hinsicht enttäuschte Putin nicht.

Eine echte Enttäuschung war er dagegen von Anfang an für den Westen. Bereits während er offiziell nur als Jelzins Stellvertreter agierte ließ Putin im Herbst 2000 die Gesprächskanäle austrocknen und führte bestehende Verhandlungen nicht fort. Der Regierungswechsel in den USA zu George W. Bush, der mit aggressiver Außenpolitik auftrat und wie ein Elefant im Porzellanladen sämtliche internationalen Beziehungen der USA gefährdete, stellte da das zerstörerische Gegenstück dar, das dazu führte, dass bis in die 2010er Jahre kein einziger Abrüstungs- und Kontrollvertrag mehr existierte.

Ich habe einige Beobachtungen aus dem Buch ohne spezielle Wertung oder Signifikanz, sie ich anfügen möchte.

Das erste wäre die Bedeutung des Timings, besonders bei der deutschen Einheit und dem Irakkrieg 1991. In beiden Fällen profitierte der Westen massiv von einer mit unilateraler Verhandlungsbereitschaft gepaarten Schwäche der Sowjetunion, die weder zwei Jahre vorher noch ein Jahr nachher gegeben war. Kohl und Bush spürten das instinktiv und drückten und schoben, solange die Umstände günstig waren. Es ist schwer vorstellbar, dass die deutsche Einheit mit einem Bundeskanzler Oskar Lafontaine (Gott bewahre) oder auch einem Kanzler Jochen Vogel in der Geschwindigkeit oder Umfassenheit erfolgt wäre, in der sie tatsächlich erfolgte.

Auch auswärtige Konflikte (Bosnien, Tschetschenien), die Wahlen – Midterms 1994, Präsidentschaftswahlen 1996 – und innenpolitischen Druckfaktoren (vor allem der Lewinsky-Skandal) haben gigantische Kollateralauswirkungen auf das Geschehen. Ohne diese Ereignisse wären die Verhandlungen vermutlich völlig anders verlaufen. Möglicherweise besser, möglicherweise auch nicht, aber sicher anders.

Genauso zeigt Sarottes Darstellung auch die Bedeutung von Personen. Ohne Gorbatschow fällt die UdSSR nicht. Die westliche Geschichtsrezeption begeht einen schweren Fehler, wenn sie den Untergang des Sowjetimperiums als unvermeidlichen historischen Endpunkt ansieht. Solcherlei Teleologie streichelt zwar dem eigenen Ego – Ende der Geschichte and all that – aber verstellt mehr, als sie erhellt. Auch Jelzin war für den Westen ein Glücksfall. Gleichzeitig ist nicht schwer zu verstehen, warum die beiden Staatsmänner aus russischer Sicht desaströs waren.

Umgekehrt wird aber auch deutlich, dass sich keine noch so bedeutsamen Staatenlenker*innen institutionellen und gesellschaftlichen Faktoren entziehen können. Hier entspringt auch mein größter Dissens mit Sarotte. Die Autorin hält sich grundsätzlich bei Wertungen sehr zurück und versucht sich an einer rein diplomatiegeschichtlichen Darstellung; letztlich aber ist ihre Überzeugung, dass in den 1990er Jahren Chancen für eine dauerhafte Zusammenarbeit mit Russland verspielt wurden, deutlich herauszulesen.

Ich bin mir dessen nicht sicher. Die Ansicht Kohls, Bushs und Clintons, dass Russland als europäischer Nachbar und Demokratie inhärent instabil war, wurde durch die Geschehnisse im Land immer wieder bestätigt. Natürlich kann man kontrafaktische Szenarien produzieren, in denen großzügige amerikanische/westliche Hilfen Gorbatschow oder Jelzin stabilisieren und ein friedliches Russland oder gar Sowjetunion produzieren, die sich in die westliche Welt integriert.

Aber die tatsächlichen Geschehnisse – die desolate wirtschaftliche Lage, die grassierende Korruption, die antidemokratischen Instinkte, die autoritären Instinkte, die hegemonialen Instinkte – zeigten sich immer wieder in Situationen, die bestenfalls peripher mit westlichen Handlungen zu tun hatten. Der Westen zwang Russland nicht, einen blutigen Vernichtungskrieg in Tschetschenien zu führen. Er zwang Jelzin nicht, das Parlament beschießen zu lassen und eine neue, autokratische Verfassung zu diktieren (auf deren Basis Putin heute noch regiert). Der Westen zwang Russland nicht, die vielen Milliarden aus dem Westen praktisch völlig in korrupten Institutionen versickern zu lassen. Der Westen zwang Russland nicht, keine zivile Kontrolle über das Militär zu installieren und es nicht ständig putschen zu lassen oder mit Putschen zu drohen. Und so weiter.

So viele dieser Faktoren hängen genuin mit Russland und seinem Aufbau zusammen und finden sich so nicht in Osteuropa, dass es mir sehr unwahrscheinlich erscheint, dass großzügigere westliche Zusagen in den 1990er Jahren dauerhaft viel verbessert hätten, einmal abgesehen davon, dass diese innenpolitisch kaum zu verkaufen waren (gegen die republikanischen Falken in den USA und gegen die klammen Haushaltskassen und den Reformstau in der EU). Wir waren nicht einmal in der Lage, Griechenland zu stützen. Ich sehe einfach nicht, wie das hätte mit Russland passieren sollen.

Auch der gerne bemühte Vergleich, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ja auch als besiegter Gegner integriert und nicht marginalisiert wurde, zieht nicht wirklich: Deutschland hatte völlig andere strukturelle Voraussetzungen. Hier versickerten die Marshallplan-Gelder nicht in einer korrupten Bürokratie, hier gab es eine starke demokratische Tradition, hier gab es eine rechtsstaatliche Tradition, hier gab es ein Einsehen in die Notwendigkeit einer untergeordneten Integration. Diese Faktoren fehlten dem immer noch auf formelle Gleichberechtigung mit den USA pochenden Russland völlig. „Obervolta mit Atomraketen“ konnte einfach nicht als zweite Großmacht integriert werden, schon allein, weil dies die Bündnisse auseinandergerissen hätte.

Das heißt nicht, dass das Buch nicht empfehlenswert wäre; ich habe es mit großem Gewinn gelesen. Sarotte ist eine integre Historikerin und kennzeichnet ihre eigenen Wertungen deutlich, so dass man sie leicht von ihren Analysen trennen kann, so wie sich das gehört. Wer sich für den Themenkomplex interessiert, sollte unbedingt zugreifen.

Evan Puschak – Escape into Meaning (Hörbuch)

Evan Puschak ist den einen oder anderen vielleicht als „The Nerdwriter“ bekannt, einem YouTube-Kanal, in dem er in kurzen Video-Essays über Kunst und Popkultur spricht und von Shakespeare-Sonetten über Picasso hin zu Superman alle möglichen Themen mit ruhigem, persönlichem und sehr kenntnisreichem Blick analysiert. Puschaks Stil ist die Konzentration auf einzelne Elemente, die er dafür in großer Tiefe analysiert, und ein großer Schatz an intertextuellen Referenzpunkten, mit denen er die Kunst einerseits mit Bedeutung versieht und andererseits interessant macht. Nun hat er ein Buch geschrieben, in dem er ihn zehn Essays verschiedene (bestenfalls grob verknüpfte) Themen bespricht. Ich habe mir natürlich das Hörbuch besorgt, das er selbst liest, denn ich möchte seinen bestechenden Stil nicht missen.

Im ersten Essay – Kapitel 1 – beschäftigt er sich mit „Emmerson’s Magic“. Er stellt den Betrachtungen des Poeten einen sehr persönlichen Bericht über seine Erfahrungen in der Highschool und der bedrückenden Atmosphäre, die jegliches Lernen verhinderte, voran. Es ging um Noten und um das Erfüllen von Erwartungen, aber echte Erkenntnis blieb aus, Interesse wurde nicht geweckt. Das ist eine Kritik, die ich nur emphatisch teilen kann und die nicht auf das amerikanische Schulsystem beschränkt ist. Ganz anders sieht Puschak die „college experience„: die großen Freiheiten und das weitgehende Fehlen von Notendruck in seinem Studiengang (film studies, natürlich) erlaubte ihm, Erfahrungen zu machen und eigene Interessen zu entwickeln.

Puschak beschreibt die Entdeckung des Autoren Ralph Walo Emmerson als formativ. Seine Essays öffneten seinen Horizont. Er beschreibt die grandiose Prosa des Autoren einerseits und seinen Blick auf die Welt andererseits; für Puschak ist Emmerson ein stets enthusiastischer Neunjähriger, der mit großen Erkenntnissen und großem Blick auf die Welt schaut – der „wohl eloquenteste Neunjährige der Weltgeschichte“, in seinen Worten. Gleichzeitig sieht er auch die Grenzen. Emmersons Arroganz wurde zu seiner eigenen, und aus heutiger Sicht schaut Puschak eher beschämft auf den scheinbar allumfassenden Wissensstand des Frühzwanzigers, ein Gefühl, das ich nur zu gut nachvollziehen kann.

Kapitel 2 – „I think the Internet wants be my mind“ – formuliert die wenig innovative Grundthese von der Entgrenzung des Internets und dass das Internet das Denken übernehme: man bekomme Meinungen zu Themen, bevor man sie selbst entwickeln könne quasi vorgegeben. Puchak zeigt dies am Beispiel einiger Internetkontroversen um Filme oder andere Medien auf: bevor man das fragliche Produkt selbst gesehen, gelesen oder gespielt hat, weiß man bereits, was man darüber denkt beziehungsweise zu denken hat. Diese Art von group think ist natürlich nicht auf Popkultur begrenzt, aber die Beschäftigung mit ihr ist etwas sicherer für Puschak als das Ganze auch noch auf Politik zu beziehen.

Das dritte Kapitel, „The comforts of Cyberpunk“, zeigt Puschak dagegen eher als intellektuellen Außenseiter, wenn er beschreibt, dass das Cyberpunk-Genre auf ihn eine beruhigende und versichernde Wirkung hat. Die Vorstellung des sich selbst Verlierens im Moloch einer Großstadt, die im Cyberpunk als dystopischer Albtraum dargestellt ist, hat für Puschak einen eskapistischen Effekt: Es ist gleichzeitig auch eine Flucht aus der Verantwortung des Hier und Jetzt. Das macht Cyberpunk wesentlich eskapistischer als die sonst so verschriene Fantasy, was durchaus ein interessanter Gedanke ist.

Puschak sieht im Cyberpunk zudem eine Reflexion der jeweiligen zeitgenössischen Probleme der Epoche auf Zukunft (nicht umsonst etwa sind so viele Megakonzerne der Shadowrun-Welt japanisch, um mal ein eigenes Beispiel beizusteuern), eine Übertreibung kontemporärer Zustände (etwa Kapitalismuskritik, ein Grundtopos des Genres). Für Puschak ist Cyberpunk daher im besten Sinne letztlich bedeutungslos, weil er sich auf das Hier und Jetzt bezieht. Er sieht ihn als eine Realitätsflucht in eine ästhetisch ansprechende Welt, wie etwa bei Blade Runner. Es sei erneut betont, dass Puschak das weder schlecht findet noch dass sich darin das Genre erschöpft; es ist lediglich ein Aspekt, den er hier untersucht.

Weniger kontrovers ist das vierte Kapitel, „When experts disagree“. Puschak sieht es als eine große Belastung für ihn selbst als Bürger in einer Demokratie, Entscheidungen über fundamental unklare und komplexe Themen treffen zu müssen. Er beginnt diese Betrachtung mit der Klimakrise, indem er den „97% der Wissenschaftler*innen“-Konsens auseinandernimmt, dem er hinterhergespürt ist (dasselbe tut übrigens auch Mai Thi Nguyen-Kim, deren „Kleinste Gemeinsame Wirklichkeit“ ich hier besprochen habe). Hier gibt es tatsächlich einen Konsens, was „nur“ das Problem der richtigen Antwort darauf übrig lässt; fast schon verzweifelt reflektiert Puschak aber, dass die Politisierung des Themas quasi automatisch dafür sorge, dass eine der beiden Parteien – die Republicans – eine Gegenposition einnimmt.

Bereits hier zeigt sich in meinen Augen eine große Schwäche seiner Analyse, die zeigt, dass er damit gut beraten ist, normalerweise auf politische Äußerungen zu verzichten. Denn diese Politisierung ist US-spezifisch; in Großbritannien etwa gibt es zwar auch ein Mehrheitswahlrecht, aber die Tories sind keine Klimaleugner. Auch wenn er Folgenden über Wirtschaftsthemen wie den Mindestlohn spricht, bei dem es schlicht keinen Konsens unter Expert*innen gibt und daher fast nur bleibt, sich der jeweils eigenen politischen Fraktion anzuschließen – was ja selbst die Wirtschaftswissenschaftler*innen tun – und feststellt, dass alle Medien einen gewissen Einschlag haben, stellt er wenig rasend Neues fest. Seine Zurückhaltung für politische Diskussionen hätte sich vom privaten Bereich besser auch auf das Buch erstreckt, ist aber auf dieses Kapitel begrenzt.

Bereits in Kapitel 5, das mit dem titelgebenden „Escape into meaning“ überschrieben ist, befasst sich mit der Bedeutung des „Herr der Ringe“, das für Puschak genauso wie Cyberpunk eine zentrale Bedeutung einnimmt. Er beschreibt sein eigenes Verhältnis zu dem Stoff und entwickelt auf Basis einer Tolkien-Äußerung die Theorie, dass Fantasy eine „zweite Welt“ aufbaue, der auch wesentlich mehr Bedeutung als Cyberpunk zukomme. Sowohl im Schreiben als auch im Konsum von Fantasy bestehe eine „Flucht in Bedeutung“, die daraus resultiert, dass eine komplett parallele Welt mit einem eigenen Mythos besteht, innerhalb dessen Geschichten stattfinden, die ständig mit neuer Bedeutung aufgeladen werden und sich bei mehrfacher Lektüre auf sich selbst beziehen. Die Beschreibung Puschaks erinnert mich ein wenig an religiöse Texte, und da Puschak selbst allein die Herr-der-Ringe-Filme mehr als 50mal gesehen hat liegt der Vergleich sicher nicht allzu fern.

Kapitel 6 kommt mit einer „Ode to public benches“ wieder sehr stark an unsere eigenen Realität heran. Puschak spricht vom öffentlichen Raum als Möglichkeit des Ruhens in der Masse – der Vergleich zum dritten Kapitel drängt sich auf -, von wo aus man Menschen beobachten kann. Solche öffentlichen Orte sind für ihn aber auch ein Ort des Sozialisierens, an dem man andere Menschen kennenlernen kann. Solche zufälligen Begegnungen hält Puschak (wohl nicht zu Unrecht) für einen zentralen Bestandteil gesunder Gesellschaften. Das macht es umso schlimmer, dass solche öffentlichen Plätze in den Betondschungeln unserer für das Auto gemachten Städte rar sind. Puschak beschäftigt sich ausgiebig mit Barcelona als Gegenbeispiel, in dem er auch seit mehreren Jahren lebt. Die Stadt arbeitet bereits seit mehreren Jahren erfolgreich daran, den Autos den öffentlichen Raum zu entziehen und ihn an Menschen zurückzugeben.

In Kapitel 7 geht es wieder zurück zur Popkultur. Puschak beschreibt seinen Ansatz „Thinking in oevres“ anhand von Tarantinos zehn Filmen (von denen aktuell neun existieren) und erklärt, dass Tarantino sein künstlerisches Leben in seiner Filmografie wiedergespiegelt sieht. Das unterscheidet ihn deutlich von Regisseur*innen und Künstler*innen generell, die nicht in oevres denken und alle mögliche Arbeit annehmen. Puschak bemerkt etwa, dass es so etwas wie „schlechte Scorceses“ gibt oder dass Hitchcock besser in den 1960er statt 1970er Jahren mit dem Filmemachen aufgehört hätte. Als etwas ungewöhnlichen Vergleich zu Tarantino zieht er den Poeten Richard Yates heran, dessen Lebenswerk ebenfalls in seiner Gesamtheit gesehen werden muss und vom Autor mit großer Bewusstheit angelegt wurde. Puschak rundet das Essay mit einer kurzen Analyse des Tarantino’schen oevre ab, die für Cineast*innen zwar nichts Neues enthält, aber immer willkommen ist.

Der Bezug zu Tarantino bleibt im 8. Kapitel durch den Einstieg erhalten, denn das Zitat von Bösewicht Bill aus der Kill-Bill-Reihe, in dem dieser erklärt, dass Clark Kent die Verkleidung Supermans sei, mit der er seine Sicht der Menschheit wiederspiegle, hält Puschak fundamental falsch. Unter der Überschrift „Superman is Clark Kent“ referiert er die Bedeutung der Figur Clark Kent, die oft verkannt werde. Tatsächlich sei Clark Kent die Person, Superman das Kostüm, wie bei allen anderen Superhelden auch.

Die (laut Puschak sträflich unterschätzten) Möglichkeiten der Figur zeigt er anhand einer Analyse der Serie „Smallville“ auf, bei der sich sofort meinen generationellen Überlapp mit Puschak erkenne; „Smallville“ war für mich auch die erste Erfahrung mit dem Serienformat, und ich mochte es seinerzeit aus denselben Gründen wie er (wenngleich es heute praktisch nicht mehr watchable ist). Er vergleicht das mit der Armut der Clark-Kent-Figur in den aktuellen Filmen und schließt sein Essay mit einem Rückbezug auf das Tarantino-Zitat: Bill liegt definitiv falsch. Puschak erlaubt aber eine Trennung von Tarantino, ist Bill doch der Bösewicht des Films. Das unterbewertet Puchak in meinen Augen; Bill liegt DEFINITIV falsch, weil er in allem falsch liegt. Er spricht in der Szene ja auch nicht über Superman und Clark Kent, sondern über Beatrix Kiddo und „The Bride“, und auch hier liegt er so falsch, wie man nur liegen kann.

Etwas weniger ernst wird es in Kapitel 9, „Jerry Seinfeld’s intangibles“. Puschak konstatiert, dass die aktuelle Comedy (Colbert, Bee, Oliver, etc.) sehr aktivistisch sei (das macht sie nicht schlecht, mind you) und kontrastiert sie mit dem bewusst unpolitischen Humor Jerry Seinfelds, der vor allem in den 1990er und frühen 2000er Jahren aktiv war. Seinfeld analysierte die Absurditäten der Moderne, vor allem den suburban lifestyle. Diese Art der Comedy ist laut Puschak außer Mode gekommen. Das Kapitel enthält außerdem einige Betrachtungen der Schwierigkeit, überhaupt ein erfolgreicher Comedian zu sein. Man müsse sowohl verständlich (lucid) als auch witzig (funny) sein, also ein großartiger Kommunikator. Comedians, so Puschak, seien die besten Kommunikatoren, weil das Publikum sie erbarmungslos alle 12 Sekunden bewerte. Das ist sicherlich wahr.

Das letzte große Kapitel, „On Friendship“, wird grundsätzlich. Anders als Familie sucht man sich Freunde aus, und für Puschak, der lange Zeit nur wenige Freunde besaß und unter Anfällen von Einsamkeit litt (I feel you, man) ist das ein besonders wichtiges Thema. Freundschaft besteht für Puschak vor allem aus gemeinsamem Erleben, dem miteinander Zeit verbringen und Reden, sowohl über das Selbstbild als auch über das Fremdbild der anderen und das Refletieren von beidem.

In meinen Augen unterbeleuchtet Puschak hier, vermutlich aus Gründen seines Alters, das Problem, Freundschaften in den 30er und 40er Jahren des eigenen Lebens zu erhalten und zu schließen, aber der Fokus auf gegenseitigem Zuhören, Respektieren und Helfen ist absolut korrekt, ebenso die Wichtigkeit der ständigen Pflege der Freunschaft, ohne die sie eingeht. Freundschaften sind schließlich, so Puschak, „the only true source of happiness„. Wie wahr.

Den Abschluss macht das kurze Kapitel 11, „Writing a book“, in dem Puschak seinen Arbeitsprozess und seine Probleme vernünftiger Arbeitszeiteinteilung reflektiert. Ich kann das sehr gut nachempfinden, mein eigenes Verhältnis zu kontinuierlichen, organisierten Arbeitsprozessen ist wohl am besten mit „ambivalent“ zu umschreiben.

Insgesamt ist die Lektüre sehr angenehm, das Buch ist nicht übermäßig dick (doesn’t overstay its welcome, wie die Angelsachsen unnachahmlich sagen) und ist besonders als Hörbuch sehr zu empfehlen.

Dan Diner – Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942

Wir haben sowohl hier in Deutschland als auch im Westen allgemein einen verzerrten Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Wir Deutschen betrachten ihn meist mit uns selbst als Zentrum: Westfeldzug, Barbarossa, die Peripherie mit Balkan, Nordafrika (exotisch!) und Griechenland. Jahrzehnte triumphaler popkultureller US-Einflüsse haben uns außerdem sattsam mit dem Unternehmen Overlord und Market Garden gemacht. Dan Diner will von diesen wohlausgetretenen Narrativen nichts wissen. Stattdessen stellt er das jüdische Palästina in den Zentrum seiner Betrachtung der Jahre 1935 bis 1942, die auch nicht eben die übliche chronologische Einordnung des Zweiten Weltkriegs sind. Dafür gibt es gute Gründe, denn dieser Fokus ermöglicht ihm einen faszinierenden Blick auf diesen Konflikt und seine Auswirkungen, der wenig mit den eher deutschzentrischen Sichtweisen, an die wir gewöhnt sind, zu tun haben.

Das Narrativ beginnt mit der Konferenz im Biltmore-Hotel in den USA, auf der der spätere israelische Staatsgründer Ben Gurion einen Richtungswechsel in der jüdischen Bewegung einleitete, die eine deutliche Aufwertung der Zionisten bedeutete. Deren Traum von einem eigenen Staat in Palästina brachte die jüdische Vertretung auf einen direkten Konfrontationskurs mit dem britischen Empire und einer Annäherung an die US-Regierung. Dahinter steckten einerseits rein praktische Überlegungen – das Empire war seit dem Sykes-Picot-Abkommen in Kontrolle Palästinas und nicht geneigt, dort eine Konfrontation zwischen Juden und Arabern geschehen zu lassen – und andererseits strategische Grundentscheidungen: Ben Gurion war davon überzeugt, dass die USA die Macht der Zukunft waren und wandte sich gegen die Empire-Nostalgie seiner Vorgänger.

Diner begeht dann einen Szenenwechsel nach Palästina zur „Tankstelle Jaffa“. Da Tel Aviv zur damaligen Zeit noch ein verschlafenes Dorf war, kam Jaffa eine enorme strategische Bedeutung zu, da alle Schiffe in der Region dort auftanken konnten und alle Waren für die Route in Richtung Irak/Iran und damit die Landverbindung nach Indien (wir werden darauf zurückkommen) hier durchkamen. 1935 war Jaffa der Ort eines größeren Aufstands, der durch die Entedeckung eines größeren zionistischen Waffenschmuggels an die jüdische Guerilla vor Ort ausgelöst wurde.

Einen Aufstand erlebte das Empire zur gleichen Zeit in Bengalen. An beiden Orten findet Diner zudem eine interessante Verbindung zu Irland, denn die in Jaffa und Bengalen eingesetzten kolonialen Polizeikräfte hatten ihre Erfahrungen im Kampf gegen die IRA gesammelt und brachten was er euphemistisch „fragwürdige“ Polizeitaktiken nennt mit in die jeweilige Region, die oftmals mehr dazu taten die jeweiligen Aufstandsbewegungen anzufachen und am Leben zu erhalten als alle örtlichen Aufrührer zusammengenommen. Noch allerdings war das Empire in der Lage, mit entschlossener und brutaler Gewalt seine weit verstreuten Dependancen zusammenzuhalten. Die Gärprozesse allerdings, die Ben Gurion im Biltmore motiviert hatten, waren nicht zu übersehen.

Diner geht an dieser Stelle in eine Art Vogelperspektive. Das Empire litt an einer Überdehnung, obwohl es eine gewaltige Ausdehnung erreicht hatte (nach Übernahme der Völkerbund-„Mandate“ nach dem Ersten Weltkrieg ohnehin). Diese Überdehnung strapazierte die Ressourcen des Reiches, dessen Wirtschaft und Finanzen immer noch zerrüttet und in hohem Maß von de USA abhängig waren, über die Gebühr. Kurzum, wenn die Briten sich etwas nicht leisten konnten, dann war das ein starker Aufrüstungstrieb angesichts italienischer und deutscher Aggression in Europa und japanischer in Asien (von der britischen Innenpolitik, in der Labour Druck machte, endlich sozialstaatliche Versprechungen einzulösen, einmal ganz abgesehen).

Großbritannien sah sich daher zwischen den innenpolitischen Forderungen nach Frieden und teuren Sozialprogrammen einerseits, der Kontrolle des Empire andererseits und der deutschen, italienischen und japanischen Aggression andererseits eingeklemmt. Die Appeasement-Politik wird vor diesem Hintergrund wesentlich drängender, als wenn man nur das europäische Geschehen in Blick nimmt, und verliert viel von ihrem naivem Glanz, mit dem sie oft dargestellt wird.

Palästina und dem Nahen Osten kam eine essenzielle strategische Bedeutung zu, ebenso Ägypten. Diner zeichnet eine durchgezogene strategische Linie vom Irak, dessen Luftwaffebasen für die britische Kontrolle in den 1920er Jahren entscheidende Bedeutung bekamen (weil in einer Vorwegnahme amerikanischer Taktiken im Kalten Krieg leichte Infanterie und Flugzeuge mit geringem Personaleinsatz Kontrolle zu ermöglichen schienen) bis hin zur Levante. Ein Konflikt mit jüdischen Siedlern war das letzte, was die britische Regierung in dieser Situation gebrauchen konnte, wewegen sie sich (Ben Gurions strategische Abwendung von London hin zu Washington bestätigend) für die Araber entschied, aus der schlichten machtpolitischen Erwägung heraus, dass diese mehr waren und eine wesentlich größere Stabilitätsgefahr darstellten.

Die Zahlenverhältnisse in Palästina befanden sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und Theodor Herzls Schub für eine jüdische Emigration nach Palästina im Wandel, aber in den 1920er und 1930er Jahren erhöhte sich der Druck auf das Mandatsgebiet deutlich. Dies hatte vor allem mit Entwicklungen in Polen und Rumänien zu tun. Beide Länder übten starken Druck auf die jüdische Bevölkerung aus und machten ihnen das Leben zur Hölle, mit dem Ziel, die jüdischen Minderheiten zur Auswanderung zu bewegen. Die Parallele zur deutschen Politik jener Jahre ist offenkundig; ein weiterer Grund dafür, warum die spätere Eskalation in den Holocaust so lange nicht geglaubt und übersehen wurde. Deutschland allerdings betrieb diese forcierte Auswanderungspolitik aus wirtschaftspolitischen Gründen wesentlich inkohärenter und inkompetenter als Polen und Rumänien; Adam Tooze hat das in „Ökonomie der Zerstörung“ (hier besprochen) sehr gut beschrieben. Die britische Gegenwehr strandete die jüdischen Emigranten oftmals zwischen allen Fronten und führte zu der großen Flüchtlingskonferenz von Evian, die gleichwohl wegen der beharrlichen Weigerung aller Länder, jüdische Einwanderer aufzunehmen, zu keinem großen Ergebnis führte und in einer Analogie zur europäischen Geflüchtetenkrise 2015ff. eine große verpasste Chance darstellt.

Britische Rücksichtsnahme auf die Muslime dominierte auch die Indienpolitik. Die dortigen muslimischen Minderheiten, deren Zahl in den dreistelligen Millionenbereich reichte, drohten mit der Aufkündigung ihrer Loyalität zum Empire, wenn ihren Forderungen gegenüber der hinduistischen Mehrheit nicht entsprochen würde. Die Briten gaben nach, schon allein, weil ihnen die Ressourcen zu einer Konfrontation fehlten. Für Ben Gurion, der die Vorgänge in Indien sehr genau beobachtete, war das Anlass für eine weitere Richtungsentscheidung. Er gab die Diaspora auf und entschied sich für den „kleinen Krieg“ in Palästina, in der Annahme, zu einem „großen Krieg“ werde es nicht kommen. Ein Guerillakampf gegen Araber wie Briten schien aussichtsreich.

Dieses Kalkül wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs komplett zunichtegemacht. Der deutsche Vernichtungskrieg bedrohte auch Ben Gurion und zwang ihn in ein Bündnis mit den Briten und deren neu geschaffenem und ihm wegen der Gefahr muslimischer Aufstände feindselig gegenüberstehenden „Middle Eastern Command“, das er ursprünglich hatte vermeiden wollen (wir werden zu den Folgen dieser militärischen Kooperation noch kommen). Diner nimmt hier erneut die Vogelperspektive ein und beschreibt zwei große strategische Linien: Eine vertikale Linie durch die Welt entlang des Mittleren Ostens durch Palästina hindurch, das ein Nadelöhr sämtlicher britischer Logistik war, und eine horizontale Linie, anhand der die Achsenmächte Europa teilten.

Die vertikale Linie war für Großbritannien von entscheidender Bedeutung, weil Versorgungsgüter und Nachschub aus Australien, Südostasien und Indien über den Indischen Ozean durch den Suezkanal ins Mittelmeer und von dort aus weiter nach Großbritannien transportiert wurden. Die bereits erwähnte Landverbindung von Indien über den Iran und Irak nach Palästina spielte ebenfalls eine große Rolle. Diese Verbindungen waren an drei Stellen entscheidend bedroht: die italienische Aggression machte das Mittelmeer unsicher, der Vorstoß der deutsch-italienischen Verbände unter Rommel bedrohte Suez und die Japaner bedrohten Indien auf dem Landweg und die Seewege im Indischen Ozean aus der Luft und dem Wasser (ersteres war besonders durch die Versenkung der „Prince of Wales“ durch landgestützte Flugzeuge deutlich geworden).

Diner beschreibt die horizontale Linie, anhand derer Deutschland und Italien Europa aufteilten, als „porös“, eine Erkenntnis, die sich auch Churchill nicht verschloss (dessen strategische Überlegungen deswegen immer auf „Europas weiche Südflanke“ (Europe’s soft underbelly) gerichtet waren, ehe die Amerikaner eine Hinwendung zu Nordfrankreich erzwangen). Die Juden wurden von dieser Porosität einerseits geschützt, andererseits aber durch ihre Veränderungen bedroht. So wurde etwa die Diaspora in Griechenland und auf den griechischen Inseln erst 1944 (!) deportiert. Die dahinterstehende Geschichte der deutschen Okkupation wird ausführlich beschrieben. Mit dem Seitenwechsel der Italiener 1943 übernahmen die Deutschen die Kontrolle der Inseln, deren strategische Bedeutung aber bereits im Abflauen war. Die strategische Bedeutung der Region zeigt sich aber etwa am Expeditionskorps, das die Briten nach Griechenland schickten (wo es sich 1941 ziemlich blamierte). Den Deutschen fielen hier auch palästinensisch-britisch-jüdische Soldaten in die Hände, die sie paradoxerweise anders als ihre von den Inseln deportierten Verwandten als Kombattanten behandelten.

Ihren Höhepunkt hatte diese bis 1941/42, als etwa deutsche und italienische Bomber von Rhodos aus Haifa attackierten, um die britischen Versorgungswege zu unterbrechen. Für Großbritannien wiederum war deren Sicherung entscheidend. Die Ausschaltung Italiens in Ostafrika etwa öffnete die dortigen Handelswege zum Glück für das Empire sehr schnell wieder und sicherte den Suezkanal. In Episoden wie dieser zeigt sich das Potenzial des Buches für deutsche Lesende besonders deutlich, weil die italienischen Kolonialbesitzungen in Ostafrika aus unserer Sicht des Krieges üblicherweise überhaupt keine Rolle spielen – eine strategische Blindstelle, die wir mit den deutschen Militärs der damaligen Zeit teilen.

So hatten die Briten 1940/41 auch alle Hände voll mit dem Mittleren Osten zu tun. Sie bereiteten 1940 eine Verteidigung des Iran nach Norden vor, weil sie einen sowjetischen Einmarsch analog zu dem in Polen 1939 fürchteten (nicht zu Unrecht, Stalin wägte solche Pläne). 1942 kam diesen Verteidigungsanlagen dann plötzlich eine Bedeutung für den Fall eines deutschen Siegs im Kaukasus zu. Der Iran besaß eine große strategische Bedeutung, sowohl wegen der Landroute von Indien als auch wegen des Öls. Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion kam es 1941 zu einer Aufteilung des Landes zwischen Großbritannien und der Sowjetunion (bei einer offiziellen Wahrung der iranischen Souveränität).

Für die iranische Bevölkerung war das ein traumtischer Augenblick, denn er erinnerte deutlich an das Ende des Ersten Weltkriegs, als eine Hungersnot hunderttausende Leben kostete, verschlimmert durch die gleichzeitige Ausbreitung von Seuchen. Diese Situation war durch das Chaos des Kriegsendes entstanden, das man den Briten anlastete. Während diese ihren Teil der Verantwortung trugen, entkamen Russen und Osmanen nur durch ihr vorheriges Ausscheiden aus dem Krieg durch ihre Niederlage und den Abzug ihrer Truppen dieser Verantwortung; die Briten waren schlicht die einzigen, die zur Katastrophe 1919 noch im Land waren. Diner zeigt mit solchen Episoden aber hervorragend, welche Sichtweisen auf die Weltkriege abseits der eurozentrischen, üblicherweise rezipierten existieren.

Der Iran wurde durch die deutsche Offensive 1942, die auf die Verkehrsachse der alliierten Versorgung der Sowjetunio einerseits (über Iran und den Kaukasus nach Stalingrad) und die Öl-Ressourcen der Sowjetunion andererseits (in Maikop beim Kaukasus) zielte, in das Zentrum der britischen strategischen Überlegungen gerückt. Gleichzeitig bestand für das Empire in diesen Monaten, die den Höhepunkt der militärischen Erfolge der Achse darstellten, eine japanische Bedrohung der Südroute, besonders im Indischen Ozean. In der Rückschau überbetonte Churchill diese Bedrohung wohl, aber sie führte zu der Zeit zu einer hastigen Besetzung Madagaskars, weil man fürchtete, hier könnte sich das Szenarios des kampflosen Verlusts der französischer Kolonien an die Japaner wie in Südostasien wiederholen. Die dortigen Erfolge der Japaner hatten auch die allierten Versorgungslinien zu den Nationalchinesen unterbrochen, eine Route, die unter großem Aufwand durch den Bau einer Straße über den Himalaya (!) wiederhergestellt wurde. Japan indes wandte sich strategisch nach Osten und en USA zu, doch es zeigte sich schnell, dass es nicht die Kapazitäten und Logistik für eine großangelegte ozeanische Kriegführung hatte, was drei Jahre später zu seiner endgültigen Niederlage führte.

Nicht, dass die Briten nicht auch ohne die japanischen Begrenzungen nicht alle Hände voll zu tun hatten. Im Irak mussten sie 1940/41 einen Krieg im Krieg führen, als der dortige Sultan eine Unabhängigkeitsbewegung nicht unterdrückte und heimlich unterstützte. In dieser Zeit wurde einmal mehr die Bedeutung Vichy-Frankreichs und seiner Kolonien deutlich. Die Deutschen hatten diese in den Friedensverhandlungen von 1940 wesentlich unterschätzt, als sie Vichy erlaubten, die Kolonien neutral zu halten. Der kontinentale Blick der Deutschen, den wir ins unserer eigenen Rezeption bis heute haben und der sich so von Diners (und dem britischen) globalen Blick unterscheidet, war ein wahrer Glücksfall für die Alliierten, die wahrhafte Spagate begingen, um die Vichy-Kolonien auch weiter neutral zu halten – oder sie wie in Oman gegebenenfals ausschalteten.

Der irakische Aufstand berührte auch die Juden, die in Badgad eine größere Minderheit hatten. Diese war eher nach Indien orientiert, englischsprachig und kosmopolitisch. Gegen Ende des irakischen Aufstands wandte sich der muslimische Zorn plötzlich gegen die Juden und mündere in ein Pogrom in Bagdad, während dem die Briten „Gewehr bei Fuß“ standen und nicht eingriffen. Die Kolonialmacht wollte nichts tun, das den wackeligen Friede zwischen prodeutschen irakischen Kräften auf der einen und den Briten, die den Aufstand kontrollieren wollten, auf der anderen Seite gefährden konnte.

Für die Juden Polens indes waren die Geschehnisse in Irak und Iran von direkter Bedeutung. Die Sowjetunion hatte die Aufstellung polnischer nationaler Truppen erlaubt, war aber in der Definition dessen, was „polnisch“ war, eher eigenwillig vorgegangen: die Kommunisten machten sich ausgerechnet die ethnischen Kategorien der polnischen Nationalisten zu eigen, die weitestgehend darauf hinauslief, dass nur Katholiken polnisch sein konnten. Dadurch erfüllte sich Stalin sein Verlangen, die Annexion Ostpolens mit seiner ukrainischen und weißruthenischen Minderheit zu verfestigen und spielte gleichzeitig den polnischen Nationalisten in die Hände, die die Vision des polnischen Vielvölkerstaates nie geteilt hatten. Dies ließ die Juden in einer merkwürdigen Zwischenposition, und als die polnischen Truppen in den in den Iran verlegt wurden, desertierten tausende jüdische Soldaten nach Palästina. Die Briten wehrten sich aus Rücksichtsnahme auf die Araber lange gegen die Aufstellung eigener jüdisch-palästinensischer Verbände, die dann auch keine eigenen Abzeichen erhielten. Die Episode war gleichwohl von großer Bedeutung für Israel, weil hier eine Infusion trainierter, ausgerüsteter und zionistisch motivierter Soldaten stattfand.

Die Desertationen fanden auch unter dem Kontext der Befürchtung eines deutschen Durchstoßes nach Palästina statt. Rommels Erfolge schienen eine Eroberung Ägyptens möglich zu machen, auf die die Briten mit einem Rückzug nicht nur in den Mittleren Osten, sondern bis Indien reagiert hätten (entsprechende Pläne lagen vor). Die Juden Palästinas wären dem Zugriff der Deutschen schutzlos ausgeliefert gewesen. Auch ein Vorstoß deutscher Panzerverbände über Maikop in die Region war ein realistisch diskutiertes Szenario. Für rund hundertzwanzig Tage – bis zur Schlacht von El-Alamain – herrschte eine geradezu apokalyptische Stimmung unter den Juden Palästinas.

Ein Rückzug nach Indien indes war keine sichere Bank, die Lage dort war explosiv. 1942 brach der schlimmste Aufstand gegen die Kolonialregierung seit 1857 los. Die Armee schlug diesen zwar nieder, aber zusammen mit der künstlichen Hungersnot in Bengalen durch militärische Erfordernisse 1943, der drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, sorgten die Geschehnisse für eine weitgehende Delegitimierung der britischen Herrschaft, die nach dem Krieg zu einem schnellen Erfolg der Nationalbewegung führte (Ghandi stand während des Krieges wegen seiner deutschfreundlichen Haltung unter Hausarrest). Eine einheitlich indische Haltung kann gleichwohl nicht festgestellt werden; hunderttausende dienten, oft hoch dekoriert und angesehen, in der imperialen Armee. Nach dem Krieg jedoch geriet dieser indischer Teil der Empire-Armee in Vergessenheit, während die kleine „National“-Armee im Dienst der Japaner heroisiert und als Grundstein der indischen Unabhängigkeit glorifiziert wurde.

Eine ähnliche Amnesie findet sich auch im Mittleren Osten: die Erinnerung an die Panik von El-Alamain wrude komplett verdrängt, stattdessen übernahm man heroischere Narrative. Die Erinnerung an den Weltkrieg wurde generell schnell durch die Erfordernisse des „kleinen“ Kriegs verdrängt, der 1945 wieder verfolgt wurde, und der bis zur Staatsgründung entscheidend für die Vorgänge in Palästina sein würde. Diner spricht an dieser Stelle auch über die Rezeption des Holocaust in der Region. An diesen wurde lange nicht geglaubt, er schien schlicht unmöglich. Die Forderung, die Konzentrationslager zu bombardieren, wurde deswegen auch mit Verweis auf die zu erwartenden jüdischen Todesopfer lange abgelehnt.

Insgesamt ist Diners Buch eine unglaublich bereichernde Lektüre, weil es einen völlig anderen und globaleren Blick auf den Weltkrieg einerseits und den Holocaust andererseits ermöglicht und auch die Staatsgründung Israels 1947/48 in einen größeren Kontext rückt. Sein episodischer Aufbau spiegelt sich auch in dieser Besprechung wieder, aber ich habe das weniger als Minus empfunden, weil Diner es versteht, diese einzelnen Episoden zu einem wahren Teppich an zusammenhängenden Narrartiven zu verknüpfen. Unbedingte Empfehlung!

Neil Gaiman – Death

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir völlig entgangen ist, dass es neben der eigentlichen Sandman-Saga und „Overture“ auch noch weitere Anthologien gibt. Die erste davon habe ich jetzt durch. Wie der Name schon sagt, beschäftigt sie sich mit dem wohl populärsten Nebencharakter des Epos, Traums Schwester Tod. Das als freches Goth-Girl auftretende ewige Prinzip hat die Aufgabe, beim Tod von Lebewesen dabei zu sein und diese vom einen zum anderen Zustand zu begleiten. Ohne sie gäbe es kein Vergehen, nur ein Werden. Als anthropomorophe Verkörperung des Todes wird sie natürlich ständig gefragt, warum man sterben muss und warum das Leben nicht fair ist. Dieselbe Verkörperung gibt Gaiman Gelegenheit zu versuchen, genau diese Fragen zu beantworten oder sich ihnen zumindest anzunähern.

Gleich zu Beginn enttäuscht der schön aufgemachte Hardcover-Band allerdings gleich einmal. Die ersten drei Geschichten sind „The Sound of Her Wings“, „Facade“ und „A Winter’s Tale“, die alle bereits im eigentlichen Sandman-Zyklus enthalten sind. Das macht sie natürlich nicht schlecht, aber man kennt sie eben schon.

„The Sound of Her Wings“ ist die wohl berühmteste Geschichte mit Tod (für die Seriengucker: Episode 6, wenn Tod zum ersten Mal auftritt). Einen Tag lang begleitet Traum seine Schwester bei ihrer Arbeit und lernt auf diese Art einen neuen Blick auf die Menschheit und ihre Eigenheiten zu bekommen. Die Geschichte ist wunderschön und traurig, stimmt aber gleichzeitig auch hoffnungsfroh. Die sterbenden Menschen reflektieren kurz über ihr eigenes Leben und den Tod. Ein Baby, das feststellt „This is all I get?“ etwa trifft mich jedes Mal. Tods freundliche aber bestimmte Überleitung, das Geräusch ihres Flügelschlags, ist ebenso profund wie die Tatsache, dass sie nicht weiß oder zumindest nicht preisgibt, was danach kommt. „What happens now?“ fragt ein alternder Musiker. „Now is when you find out“, antwortet ihm Tod. Manchmal ist die simpelste die Wahrheit die beste.

„Facade“ ist eine etwas mehr ins Superheldenreich gehörende Story. Eine CIA-Agentin wird auserkoren, von einer altägyptischen Gottheit Superkräfte zu erhalten. Das funktioniert auch, sie besteht nun aus allerlei chemischen Verbindungen, die sie erschaffen kann und die sie fast unzerstörbar machen. Aber der Preis ist hoch: sie kann kein normales Leben mehr führen, ist depressiv und völlig vereinsamt. Ihr einziger Kontakt ist der Rentenbeamte bei der CIA. Da sie unzerstörbar ist, kann sie nicht Selbstmord begehen. Mir ist das alles ein wenig zu abgespacet, aber ich bin auch noch nie die Zielgruppe für diese Art von Geschichten gewesen.

„A Winter’s Tale“ ist letztlich eine illustrierte Kurzgeschichte und weniger ein Comic. Die Illustrationen sind sehr gewöhnungsbedürftige, kantige Tuschezeichnungen, die mich wenig berühren. Die Geschichte selbst ist letztlich eine Selbstdarstellung Tods, in der sie erklärt, was ihre Aufgabe ist und dass sie an der ständigen Kritik der Lebewesen schier verzweifelte. Sie überwand ihre Existenzkrise und erkannte, dass am Ende des Lebens ein freundliches Gesicht stehen muss – sie. Diese Informationen sind notwendig, um den Rest zu verstehen, und Gaiman schreibt wie immer ziemlich gut, aber viel Charakter oder Plot ist hier nicht zu erwarten.

Ebenso ein wenig enttäuschend ist der Abschluss des Bandes, der wiederum eine bekannte Geschichte enthält: „Death in Venice“. In einer Art ständigen Zeitschleife auf einer Insel in der venezischen Lagune im 18. Jahrhundert durchlebt eine dekadente Adelsgesellschaft beständig denselben großartigen Partytag. Alle Anwesenden müssten eigentlich tot sein, sind es aber durch eine unerklärte Manipulation eines Grafen nicht. Tod wartet Jahrhunderte auf ihre Chance, die kommt, als ein Junge auf der Insel in den Ruinen spielt und sie trifft. Als Erwachsener kehrt er zurück und öffnet das Tor, das sie selbst nicht öffnen konnte, und bringt allen Anwesenden den Tod. Der mittlerweile Erwachsene ist ein Elitesoldat, der mit großer Freude Gegner tötet, um sie „zu ihr“ zu schicken – eine halb-erotische Fixierung auf Tod, die er mit Sicherheit mit diversen anderen Psychopathen teilt.

Als weiteres Goodie enthält der Band eine Art Gallery verschiedenster Künstler*innen über Tod, die von „hübsch“ bis „weird“ reichen. Wem es gefällt…? Zuletzt enthält der Band eine Art Relikt der 1990er Jahre: eine Kurzgeschichte, in der Tod erklärt, was AIDS ist und wie man sich davor schützt. Das war seinerzeit sicherlich eine gute Sache, ist aber heute etwas aus der Zeit gefallen. Es lässt aber interessante Rückschlüsse darauf zu, wie dumm und zerstörerisch der AIDS-Diskurs damals gewesen sein muss. Danke, Ronald Reagan.

Und damit kommen wir zum eigentlichen Herzstück des Bandes, den beiden neuen Geschichten. Diese sind wesentlich länger als die Kurzgeschichten, die ich gerade vorgestellt habe.

„The High Cost of Living“ hat einen Sechzehnjährigen mit dem unglücklichen Namen Sexton Furnival im Zentrum. Seine Eltern sind geschieden und er ist unglücklich, weswegen wir ihn beim Schreiben eines Abschiedsbriefs kennenlernen. Gleichzeitig erfahren wir, dass Mad Hattie – die 250jährige Zauberkundige, deren Pfad sich immer wieder mit Traum kreuzt – dem Einfluss von Tod entkommen muss. Und zuletzt ist ausgerechnet heute der Tag, an dem Tod wie alle 100 Jahre als lebender Mensch auftritt, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was sterben bedeutet – wenn sie am Ende des Tages sich selbst begegnet. Traum könnte sich davon eine Scheibe abschneiden.

Die Geschichten dieser Charaktere fallen auf gewollt konstruierte Weise zusammen. Sexton lernt die menschliche Tod kennen, glaubt ihr aber nicht, wer sie ist – nicht ohne sie völlig von ihr fasziniert auf ihrer merkwürdigen Reise zu begleiten, bei der sie versucht, Mad Hatties Herz wiederzufinden. Dieses befindet sich im Besitz eines unsterblichen Magiers, der ausgerechnet einen Klassenkameraden von Sexton zum Schüler hat. Die Charaktere treiben durch das Großstadtleben und erleben allerlei merkwürdige Geschehnisse, in deren Folge Sexton eine neue Einstellung zum Leben lernt, während Tod ihrerseits ihre Liebe zu allen Menschen bestätigen kann.

„The Time of your Live“ dreht sich um die Sängerin Foxglove, die manchen vielleicht noch unter ihrem bürgerlichen Namen „Donna“ bekannt ist: die ungesehene Ex-Freundin von Judy, die auf grausige Weise im Original-Sandman-Zyklus unter dem Einfluss von Dr. Dee ihr Ende findet. Foxglove ist groß herausgekommen, was zu einer Entfremdung von ihrer Lebensgefährtin geführt hat, mit der sie ein Kind hat. Sie würde gerne ihre Sexualität offenlegen, aber ihr langjähiger Manager Larry ist dagegen, weil er ein Ende ihrer Karriere fürchtet. Als er überraschend verstirbt und ihr im Traum sagt, sie müsse unbedingt tun, was ihre Freundin sagt – die sie kurz darauf aufgelöst anruft und unter Tränen bittet, sofort zu ihr zu kommen – begibt sie sich auf eine Art Roadtrip zurück.

Ihre Freundin hat zur gleichen Zeit Besuch von Tod. Vor einem halben Jahr wäre ihr gemeinsamer Sohn Alvie gestorben, aber sie schloss einen Pakt mit Tod: wenn Alvie bleiben dürfte, würde Tod zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehren und eine Person mitnehmen. Dieser Moment ist jetzt. Während Hazel ihr Leben mit Donna im Gespräch mit Tod reflektiert, tut Donna dasselbe mit ihrem Handler Boris und einem Unterwäschemodel namens Vito. Am Ende steht dann die Entscheidung, wer mit Tod gehen und sterben muss – oder auch, wer sich vom Leben am wenigsten erhofft.

Die Geschichte dreht sich zentral weniger um den Tod selbst als um Beziehungen, Entfremdung, wie sich Menschen verändern. Natürlich spielt auch eine Rolle, welche und wie viel Zeit wir in unserem Leben haben und warum es den Tod überhaupt gibt. Immer wieder bestätigt sich Tods zentrale Philosophie: es ist das Vergehen, dass das Existieren so bedeutsam macht. Gegensätze. „Ohne das Schlechte wüsste man nicht, was gut ist“, wie sie es ausdrückt. Man kann die Philosophie teilen oder auch nicht, aber in jedem Fall denkt man bei der Lektüre darüber nach.

Alleine deswegen ist der Band empfohlen.

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