Die Kritiker*innen, man muss es leider sagen, hatten Recht. In den USA ist Cancel Culture außer Kontrolle. In mittlerweile einem Drittel aller Bundesstaaten wurden Gesetze verabschiedet oder Verordnungen erlassen, die massiv in die Lehrfreiheit schneiden und Lehrkräften an Schulen und Universitäten vorschreiben, bestimmte Inhalte nicht zu unterrichten, wenn diese die Gefühle der Lernenden verletzen könnten. Die Folge sind Druck, Entlassungen, Strafen und Selbstzensur. Die Tugendfundamentalist*innen fordern sogar die Überwachung und Meldung von Lehrkräften. Dazu sind die Gesetze schlecht geschrieben, so dass keinerlei Rechtssicherheit darüber herrscht, was genau wie unterrichtet werden darf und selbst vermutlich erlaubte Inhalte aus Furcht, jemanden zu triggern, besser nicht aufs Tableau kommen. Derzeit werden so viele Bücher verboten - im Sinne von "dürfen nicht an Schulen gelehrt oder in die Bibliotheken gestellt werden" - wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Wie konnte es so schnell dazu kommen, dass die Forderungen einiger linker Studierendenvertretungen an besonders progressiven Unis, die mit viel Fanfare in den bürgerlichen Medien kritisiert wurden und vor denen man warnte - Wehret den Anfängen! - innerhalb so kurzer Zeit so vollständige Einschränkungen von Lehr- und Meinungsfreiheit mit sich brachten? All diese Gesetze und Regelungen sind von Republicans verabschiedet worden. Während es noch immer keine einzige Uni gibt, an der geschlechtergerechte Sprache, Trigger-Warnings oder Ähnliches verbindlich vorgeschrieben werden, haben die Konservativen ein Meinungsregime errichtet, das bei den Bedenkenträger*innen der bürgerlichen Medien erstaunlich wenig Beachtung findet. Die Cancel Culture von rechts richtet sich, natürlich, gegen Diskussionen von Rassismus, Homophobie und verwandten Themen. Da nicht sein kann was nicht sein darf, schränken die Gesetze die Freiheit ein, diese im Unterricht oder Seminar zu besprechen. Die Idee ist, dass Diskussionen über Rassismus für Unruhe sorgen könnten und deswegen verboten werden müssen. Es ist wie eine Pardodie auf die (tatsächlich außer Rand und Band geratene) Trigger-Warning, die an den progressiveren Unis Einzug hielt. Die Idee dahinter war, eine Art Warnung vor Inhalte zu stellen, die Opfer "triggern" könnten - von Vergewaltigungen bis über rassistische Gewalt, und diesen so die Möglichkeit zu geben, sich aus der Diskussion zurückzuziehen. In der Praxis führten sie aber leider zu einer Art Zensurdruck, in dem gefordert wurde, bestimmte Themen gar nicht oder nur in einem bestimmten Framing anzusprechen.
Im Grundsatz war die Kritik berechtigt, doch die Hysterie, mit der eine Ausweitung solcher informeller Regelungen auf den gesetzlichen Bereich befürchtet wurde, hat bedauerlicherweise gleich dem "Wolf!" schreienden Peter den Brunnen für die tatsächliche Gefahr vergiftet. Ein ähnliches Prinzip sehen wir übrigens auch in Deutschland, wo immer noch keine einzige Uni vorschreibt, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, mittlerweile aber mit Bremen und Sachsen bereits zwei Bundesländer im Gegenzug Regelungen erlassen haben, die ihren Gebrauch explizit verbieten, und die Forderung innerhalb der CDU langsam zum Konsens wird. Ähnlich war es auch in den USA, wo Trump im September 2020 als einer seiner letzten Amtsakte mit einer Executive Order den offiziellen Startschuss gab und mittlerweile praktisch alle republikanischen Landesverbände und die Bundespartei entsprechende Programme haben - während die Democrats nichts Vergleichbares für Trigger Warnings oder andere Lieblingsprojekte der radikaleren Basis im Programm haben - und ziemlich sicher auch nicht haben werden.
Wie dramatisch ist die Lage? Schauen wir es uns anhand einiger Beispiele an, denn leider ist die aktuelle Aufregung in der liberalen Blase auch über das Ziel hinausgeschossen. Aber dazu gleich mehr.
Der Ground Zero für die Auseinandersetzung ist Virginia. Nicht, weil die Geschehnisse in dem Staat besonders wären - der Gouverneur verbietet die Lehre der "Critical Race Theory" und fordert das Bespitzeln von Lehrkräften -, sondern weil sie hier zu den stärksten politischen Konsequenzen geführt haben. In den Gouverneurswahlen 2021 gelang es den Republicans erfolgreich, die Furcht vor "Critical Race Theory" in den Wahlkampf einzubringen. Zwar weiß praktisch niemand, was das ist, aber den Republicans gelang es, die CRT zur Projektionsfläche für (vielfach rassistisch motivierte) Ängste einerseits und einem generellen Unmut über das Bildungssystem und besonders die Corona-Politik des Staates andererseits zu machen, also ein Problemamalgam, das auch in Deutschland nicht unbekannt ist. Der Verlust der Regierungsgewalt in Virginia ist ein Fanal für die Democrats und zeigt deutlich die massiven Schwächen der Partei auf.
In New Hampshire bringen die Republicans ein Gesetz ein, das jegliches Unterrichten von "negativen" Darstellungen der US-Geschichte verhindern soll, ein Schema, das sich ebenfalls in vielen Bundesstaaten findet. Die Idee ist, dass etwa der Völkermord an den Ureinwohnern oder die auf Rassismus beruhende Sklaverei nicht mehr im Geschichtsunterricht vorkommen. Ein ähnliches Gesetz gibt es auch in South Dakota, das das Lehren des Massakers von Wounded Knee verbietet, das in dem Staat 1890 stattfand. Ein ähnliches Gesetz wird gerade in Florida in den Kongress eingebracht. Zahlreiche Bundesstaaten verboten ihren Schulen, das 1619-Projekt zu unterrichten.
In Florida versucht der republikanische Gouverneur gerade ein Gesetz durchzubringen, das die Clubs verpflichten würde, vor Football- oder Baseballspielen die Nationalhymne zu spielen. In mindestens einem Schuldistrikt wurde bereits ein Kurs eines Lehrers gecancelt, der sich mit Critical Race Theory beschäftigt - mit der expliziten Begründung, er schaffe "eine Atmosphäre der Angst". Eine solche Atmosphäre entsteht allerdings eher durch die Forderung nach Meldung von Lehrkräften (“send to us any, any instances where they feel that their fundamental rights are being violated, where their children are not being respected, where there are inherently divisive practices in their schools") ihrer Bedrohung und Einschüchterung.
In Madison County, Mississippi, weigert sich ein republikanischer Bürgermeister, das Budget der Bücherei freizugeben, bevor sie nicht alle Bücher "homosexuellen Inhalts" entfernen. In Tennessee versuchen die konservativen "Moms for Liberty", ihnen ungenehme Bücher aus den Bibliotheken zu verbannen. In North Carolina wurde "Dear Martin", ein Roman über einen Yale-Studenten, der von der Polizei wegen seiner Hautfarbe verhaftet wird und deswegen in Probleme gerät, in einer Schule in Tuscola verboten. In Oklahoma fordert ein GOP-Politiker die Entlassung aller Lehrkräfte, die "die religiösen Gefühle der Schüler*innen verletzen", sprich: Evolutionstheorie lehren. In Iowa wird ein Gesetzesentwurf diskutiert, Kameras in jedem (!) Klassenzimmer zu installieren, um den Unterricht der Lehrkräfte überwachen zu können. Und noch einmal in Virginia fordert der Gouverneur die Kinder dazu auf, die Lehrkräfte auszuspionieren und dem Staat zu melden.
Das sind natürlich alles Einzelfälle - ein Bürgermeister hier, ein Abgeordneter dort, ein Schoolboard drüben, eine County-Adminstration hüben - aber die Hysterie über linke Cancel Culture entsprang einigen Studierendenprotesten an linken Unis, von daher muss sich die Rechte zumindest den Vergleich nach den von ihr selbst aufgestellten Maßstäben gefallen lassen. Es gibt offensichtlich eine verbreitete Sehnsucht danach, nicht genehme Inhalte zu kontrollieren beziehungsweise ihre Verbreitung zu verhindern, auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Nur gibt es praktisch keine gewählten Democrats, die diese Ideen unterstützen und legislativ unterfüttern. Die radikale Linke demonstriert zwar an Unis und versucht durch sozialen Druck Canceln zu erreichen, aber sie nutzt (noch) nicht den staatlichen Repressionsapparat dafür. Die GOP dagegen hat keinerlei Berührungspunkte und schreibt ein Gesetz nach dem anderen. Und das ist auch abseits des Inhalts ein Problem. Ich hatte bereits eingangs erwähnt, dass die entsprechenden Gesetze reichlich schwammig formuliert sind. Das von Florida etwa besagt:
“An individual should not be made to feel discomfort, guilt, anguish, or any other form of psychological distress on account of his or her race,” the bill reads. This from conservatives who regularly call liberals “snowflakes” ready to ban free speech in the name of “feelings.” In der Zwischenzeit mahnt der Generalstaatsanwalt “a disturbing spike in harassment, intimidation, and threats of violence against school administrators, board members, teachers, and staff”
Die Ironie, dass hier die Vorwürfe an die "liberal snowflakes", keine Herausforderung ertragen zu können sich auf die Anwender zurückspiegelt und dass die vollmundigen Bekundungen, zur Meinungs- und Lehrfreiheit gehöre auch die Auseinandersetzung mit unangenehmen Themen, einmal beiseite gelassen: was sind die Konsequenzen eines solchen Gesetzes? Nur einige Beispiele:
Those limits would allow teachers to mention that Brooklyn Dodgers infielder Jackie Robinson broke Major League Baseball's color line but not allow them to discuss why Black players were banned before him, Sharif El-Mekki, founder and CEO of the Center for Black Educator Development, said. Teachers may also introduce Malcolm X but not read his speeches, mention soul singer Marvin Gaye but not discuss his "What's Going On" lyrics, or point out Rosewood, Florida, or Tulsa, Oklahoma, on maps but talk about the racial atrocities that occurred there.
Und wie kommt man überhaupt darauf, die Beschäftigung mit der CRT schaffe ein "Klima der Angst" oder etwas in der Art? Die tatsächlich offiziell vorgebrachte Begründung ist, dass Weiße sich mit Sklavenhalter*innen identifizieren und nicht mit Abolitionist*innen und Sklav*innen. In der Annahme ist die explizite Vorstellung enthalten, dass Weiße rassistisch sind und deswegen sich durch Kritik an Rassismus verletzt fühlten! Auf eine völlig verquere Art werden so genau die Behauptungen aufgestellt, die man den Gegner*innen dann vorwirft - nämlich eine universelle Täterschaft aller Weißen konstruieren zu wollen. Das erinnert an die Rechtsextremen in Deutschland, die ständig gegen den "Schuld-Kult" der Holocausterinnerung anrennen und dabei überhaupt erst die Argumentation vertreten, dass eine Kollektivschuld bestehe, die es irgendwie zu widerlegen gebe - eine Behauptung, die aber gar nicht aufgestellt wird.
Ich habe aber eingangs schon festgestellt, dass ich die aktuelle Aufregung für insgesamt übertrieben halte. Die Gefahr der rechten Cancel Culture ist hoch, aber sie es vor allem dort, wo sie in (noch dazu handwerklich schlecht gemachte) Gesetze gegossen wird. Denn die Zivilgesellschaft hat das gleiche Recht, bestimmte Werk doof oder für Kinder und Gesellschaft ungeeignet zu finden wie die Linke auch. Wenn ich sage, dass "Vom Winde verweht" wegen der Lost-Cause-Romantik jetzt nicht unbedingt das beste Werk für den Literaturunterricht ist, dann dürfen Konservative auch "Dear Martin" blöd finden, auch wenn ich persönlich das nicht nachvollziehen kann. Der Spaß hört halt auf, wo die Macht des Staates dazu missbraucht wird.
Ein Beispiel für einen deutlich außer Kontrolle geratenen Diskurs zu diesem Thema stellt der Konflikt um den Graphic Novel "Maus" dar. In McMinn County, Tennessee, wurde das Buch vom dortigen Schoolboard in einer einstimmigen Entscheidung aus der Schulbibliothek verbannt und es wurde verboten, es zu unterrichten. Das winzige County (80.000 Einwohner*innen) hat es in die nationalen Titelseiten geschafft; zu pointiert scheint das Verbot eines so seminalen Werks zum Holocaust. Ein Beispiel dafür findet sich etwa in diesem Cartoon:
— Philippe Wampfler (@phwampfler) February 1, 2022
Ich bin allerdings bei Kevin Drum, dieses Ereignis nicht überzubewerten. Es ist okay, bestimmte Bücher für Kinder und Jugendliche als nicht geeignet einzustufen. Ich würde "Maus" jetzt auch nicht unbedingt mit der Mittelstufe lesen (trage mich aber für die Oberstufe schon länger mit dem Gedanken). Ich teile die Begründung von McCinn County nicht - denen ging es um Profanität und Sex, weil beides vorkommt - und würde eher auf die teils verstörenden Inhalte eingehen. Aber grundsätzlich können Schulen und Schulbibliotheken schon auswählen, was sie in ihre Regale stellen, das sollte ihnen nicht abgesprochen werden. Problematisch wird es dort, wo dies aufgrund identitätspolitischer Grabenkämpfe geschieht - wie im weiter oben zitierten Madison County - und nicht aus pädagogischen Gründen, selbst wenn ich die spezifischen pädagogischen Einwände nicht teile.
Als kleine Seitenbemerkung: ich halte das Problem für systemischer. Die USA haben mir ihren Schoolboards auch ein System, das solche Zensur geradezu herausfordert, während die Gestaltung des Unterrichts in Deutschland viel freier ist. Auch wenn es nicht intuitiv einleuchtend sein mag, aber das "Land of the Free" ist bei der Lehrfreiheit tatsächlich weniger weit als das ach so obrigkeitsstaatliche Deutschland.
Die Studierenden selbst sind übrigens wesentlich vernünftiger als die über sie diskutierenden Politiker*innen, Medienschaffenden und Wählenden. Bemerkenswert ist etwa die Geschichte einer Konservativen aus Mississippi, die die ein Critical-Race-Theory-Seminar besucht hat und ihre Vorurteile widerlegt fand - und auch Abgeordnete überzeugte. Auffällig war, dass die Berichte der Studentin für die Abgeordneten neu waren. Diese wussten offensichtlich überhaupt nicht, was "Critical Race Theory" überhaupt war, was leider auch ein allzu häufiges Phänomen ist. Man spricht über-, nicht miteinander.
Ein weiteres Beispiel: Der Atlantic etwa untersuchte die Thematik unter der Schlagzeile "What students really think about cancel culture" und kommt zu dem Schluss, dass die scheinbare Radikalisierung auf beiden Seiten sich am Campus kaum materialisiert. Wie so oft ist auch die durchdrehende Debatte über Cancel Culture vor allem eine Moral Panic, und zwar, wenngleich mit sehr unterschiedlicher Schärfe und Gewichtung, auf beiden Seiten. Der toxische Teil sind weder die "Moms of Liberty" mit ihren Forderungen noch #BLM-Aktivist*innen an der UCLA, sondern Politiker*innen, die ihre Macht dazu nutzen, solche Forderungen und Proteste zur juristischen Einschränkung von Lehr- und Meinungsfreiheit zu verwenden.
Vermutlich wäre es daher am besten, wenn es zu offenen Diskussionen darüber käme, was unterrichtet wird, und man den Lehrkräften mehr Freiheit einräumt, statt ständig zu versuchen, mit dem Holzhammer irgendwelche Werke zu verbieten. Die Sucht danach, für alle verbindliche, vergleichbare Curricula festzulegen, leistet diesen Anwandlungen genauso Vorschub wie der ständige Kulturkampf.
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