Der Ton wird schärfer. Die Angriffe fieser. Ein falsches Wort, und es  drohen Ausgrenzung und öffentliche Stigmatisierung. Es wird nicht mehr diskutiert, es wird sortiert. „Cancel Culture“, der Verstoß aus dem Rudel – für soziale Wesen wie den  Menschen eine Extremstrafe. Über Millionen Jahre praktisch ein  Todesurteil, ist die Angst davor immer noch dieselbe. Nur klägliche 18 % der Bevölkerung in Deutschland sind der Ansicht, man könne seine Meinung ohne Einschränkungen frei äußern. Ein vernichtendes Urteil für eine Demokratie, die von freiem  Meinungsaustausch lebt. Massenhaft halten die Menschen ihre Meinungen zurück.

Sind die Gefahren so groß wie die Angst?

Die Wächter der Politischen Korrektheit werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass niemandem strafrechtliche Konsequenzen drohen. Nur Widerspruch. Und streng genommen haben sie recht: Man darf seine Meinung  frei äußern – niemand landet deshalb vor Gericht. Man kriegt halt was auf die Fresse. Auf der Achse des Guten gibt es eine Rubrik (es sollte eine eigene Rubrik sein!) von Kolja Zydatiss mit dem Titel „Ausgestoßene der Woche“.  Eine erschreckende Illustration, auf welch zahlreiche Weisen und für welche Kleinigkeiten man von der Cancel-Culture geclasht wird.  Konsequenzen im Berufsleben, verlorene Aufträge, Stress mit Vorgesetzten, abgesagte Vertragsverlängerungen… Und das ist freilich nur  die Spitze des Eisbergs. Ungezählt sind die Fälle unter dem Radar, von  denen die Öffentlichkeit nie erfährt. Und die beendeten Beziehungen,  gekündigten Freundschaften, Familiendramen… Aber es gibt wohl noch weitere Gründe, die dem offenen Widerspruch entgegen stehen.

Angst vor Streit

Denn diesen rigiden sozialen Strafen stehen auch kulturell bedingte Harmoniebedürfnisse und Konfliktscheu gegenüber. Wie viele bringen ihren Kindern bei, dass es tugendhaft sei, in Streits nachzugeben, die andere Wange hinzuhalten? Gerade viele „Bildungsbürger“ haben verinnerlicht, sich stets um Kompromisse, Mittelwege, um Ausgleich zu bemühen. Schon Wettbewerb gilt als verdächtig, obwohl unser Wohlstand mit darauf gründet. Toleranz dagegen wird gefeiert, so als sei sie immer positiv, völlig egal worauf sie sich bezieht. In einer Gesellschaft, die sich  mittlerweile konsequent postheroisch nennt, bleibt die Faust gerne mal  in der Tasche. Gemeinsam mit dem Rudel den Nestbeschmutzer mit Dreck  bewerfen ist nicht schwer, aber wenn man sich nicht sicher als Teil der  Herde oder gar in der Minderheitenposition fühlt, bleibt man gerne  hinter der Deckung. Wie viele wagen kaum, ihren Platz in der Kassenschlange gegen Drängler zu verteidigen? Wie viele wagen dann, das grüne Kollegium beim gemeinsamen Schwärmen über die Vielfalt der Kulturen mit islamkritischen Positionen zu konfrontieren? Man muss wohl  konstatieren, dass zur Angst vor Ausgrenzung eine allgemeine  Konfliktscheu hinzukommt.

Unterdrückte Wut

Und wenn zwei, drei oder zehnmal ein Konflikt vermieden wurde, werden  aufgestaute Emotionen womöglich zu einem weiteren Problem. Wut, Zorn,  Ohnmachtsgefühle. Dann muss sich ein Gespräch nur einem strittigen Thema  nähern und der ganze Organismus reagiert mit Stress, mit erhöhtem Puls,  Herzrasen, Kurzatmigkeit. Vermutlich ist auch das ein häufiger Grund  für Schweigen. Denn tatsächlich kann es dann ziemlich kontraproduktiv  werden, seinen Standpunkt zu vertreten. Wenn man womöglich voller  Adrenalin, nach Luft ringend, mit zitteriger Stimme in  unzusammenhängenden Halbsätzen aufgeregt irgendeinen Unsinn daherstammelt, braucht das Gegenüber nur zu kontern: Siehste!

Schlechte Gesellschaft

Und natürlich will keiner für durchgeknallt gehalten werden. Das Gemeine ist ja, dass man sich als Abgestempelter in einem Pool wiederfindet mit echten Extremisten und Verrückten, mit Hooligans, Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern. Jenseits der Linie sind ja  nicht nur nette Demokraten, die vorsichtige Einwände gegen das Postulat der tausend Geschlechter geäußert haben. Man würde von den guten Bürgern (die ja trotz ihrer Spleens oft sehr nett sind!) als einer dieser Radikalen wahrgenommen, während man von zwielichtigen Kameraden  anerkennende Schulterklopfer bekommt. So weit will man ja gar nicht!

Aber Schweigen ist Blech

Es gibt also viele gute, menschlich völlig nachvollziehbare Gründe, sich darum zu bemühen, einer Ausgrenzung zu entgehen. Manche sollte man zu überwinden versuchen. Andere muss man vielleicht riskieren. Aber die Gefahren sind real. Doch so verständlich Wegducken auch ist – natürlich kann es keine Lösung sein, der Erpressung nachzugeben! Es steht nicht weniger auf dem Spiel als Meinungsfreiheit und damit Demokratie! Und man kann nicht davon ausgehen, dass die Stimmung sich irgendwann einfach  von allein wieder entspannt. Es ist eine Bewegung mit totalitären Zügen, wieso sollte sie nachlassen, wo sie so einen guten Lauf hat? Es kann  deshalb nur darum gehen, Wege zu suchen, seine Meinung trotzdem zu  äußern.

Kampf mit offenem Visier?

Viele, die sich von „#WokoHaram“ tyrannisiert fühlen, haben sich intensiv mit den umstrittenen Themen beschäftigt. Es ist ja oft erst die Auseinandersetzung mit einem Thema, die zu kritischer Beurteilung führt. Um mit der Herde zu blöken, muss man keine Bücher lesen. Und die hypermoralistischen woken Ideologien sind so voller Logikfehler und fantastischer Konstruktionen, dass es  nicht schwer ist, die Widersprüche offenzulegen. Natürlich bleibt es das  Effektivste, furchtlos und mit nüchterner Argumentation in die  Auseinandersetzung gegen den Tugendterror anzugehen und eine Verwirrung  nach der nächsten auseinander zu nehmen. Auch in Form einer Teilnahme an  Debatten in sozialen Netzwerken, ebenfalls mit möglichst sauberen Argumenten. Aber es muss gar nicht der heldenhafte Kampf mit offenem Visier sein, es gibt auch weniger gefährliche Mittel.

Argumente sind nicht allesentscheidend

Denn wenn es um den Schutz bzw. die Rückgewinnung von Meinungsfreiheit geht, dann ist es nicht das Ziel, irgendjemand vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Es muss deshalb nicht das mutige Statement in der Betriebsversammlung sein, in dem man allen ausführlich und dezidiert seine Position darlegt. Man kann auch weit unterhalb eines großen Coming-Outs einen wertvollen Beitrag leisten. Schon ein einzelnes Gegenargument ist Gold wert! Als Frage formuliert kann man Kritik sogar äußern, ohne sich mit ihr gemein zu machen. (Außerdem müssen die Tugendhaften dann ihren Unsinn zu erklären und verheddern sich bestimmt in ihren verknoteten Argumentationssträngen!) Auch die  vernehmbare Zustimmung zu kritischen Äußerungen anderer ist ein großer Beitrag. Selbst Unmutsäußerungen unterhalb des Verbalen helfen. Schon  ein Kopfschütteln, ein vernehmbares Gähnen, ein konsternierter Blick  können nützlich sein. Denn es geht allein darum, die Stimmung zu verändern!

Öffentliche Meinung ist überall

Die öffentliche Meinung besteht ja nicht nur aus Tagesschau-Kommentaren, auf die man sowieso keinen Einfluss hat. Sie  besteht auch aus dem, was in unzähligen Betriebsversammlungen, Teamsitzungen, auf Familienfesten und in Vereinstreffen gesagt wird – oder nicht gesagt wird. Stärker noch: der Tagesschau-Kommentar ist zu einem Gutteil das Ergebnis der Meinungsbildungsprozesse und Stimmungen  auf den vielen Festen und in den Konferenzen, an denen  Tagesschaukommentatoren genauso wie deren Freunde und Kollegen und alle  anderen auch teilnehmen. Und es scheint doch, dass es bei den woken  Verirrungen unserer Zeit oft nur ziemlich wenige Protagonisten sind, die  mit ihrem bestimmtem Auftreten und der Drohung mit Ausgrenzung eine wahrscheinlich viel größere Zahl Andersdenkender dominieren. Wie viele Menschen glauben denn ernsthaft, dass es Frauen mit Penissen gibt?

Einfluss auf die öffentliche Meinung

Natürlich kann jeder Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen. Sogar  ziemlich leicht! Wenn in einer Runde von 10 Leuten einer eine Meinung vertritt, zwei zustimmen und sieben schweigen, dann wird die geäußerte Meinung zur herrschenden. Egal was die sieben denken. Aber wenn nur einer in der Runde „Nö!“ sagt, wissen alle, dass es auch andere  Fraktionen gibt, dass es Meinungsvielfalt gibt. Die Meinungsherrschaft erlebt einen herben Dämpfer. Und es gibt ja in solchen Runden wahrscheinlich noch andere Unzufriedene. Vielleicht fühlt sich jemand  anders ermutigt, selbst noch deutlicher Position zu beziehen, wenn er  merkt, dass er nicht allein ist. Vielleicht geben weitere in der Runde vorsichtige Zeichen des Widerspruchs. Wenn das viele tun, reicht das  vollkommen! Denn wenn einer eine Meinung vertritt und zwei zustimmen, aber sechs gähnen und einer ruft „Laaangweilig!“, dann war es das mit der Meinungsherrschaft!

Brechen der Diskursherrschaft

Man darf die Latte also ruhig ein gutes Stück tiefer hängen! Es ist nicht nötig, sich mit hohen Ansprüchen unter Druck zu setzen. Wenn man  etwas für Meinungsfreiheit tun will, muss man keine Debatten gewinnen. Es geht nur darum, die linke Diskursherrschaft zu brechen! Darum, deutlich zu machen, dass es Menschen gibt, die eine herrschende Meinung nicht teilen. Und nicht nur die anonymen rechten Pöbler im Internet, sondern die nette Kollegin in der Kantine oder der Cousin beim  Familientreffen. Dafür reicht ein „Nö“. Das allerdings braucht es.

Geringe Kosten

Es muss sich also niemand mit wehenden Fahnen in den sozialen Tod  stürzen. Denn das Gute bei solch defensivem Vorgehen, bei Kopfschütteln, Verständnisfragen, Scherzen (Scherze sind besonders gut! Nichts  untergräbt Autorität wirksamer als ein herzliches Lachen der gesamten Runde!), das Gute bei solchen vorsichtigen Widersprüchen ist: wenn man  zur Rede gestellt wird, muss man sich gar nicht klar bekennen! Mit einem  zurückhaltenden „Ich weiß nicht“, „Irgendwie überzeugt mich das nicht“, „Verstehe ich nicht“ oder „Ich werd‘ bei dem Thema immer ganz schläfrig…“ kann man unverbindlich und unterhalb einer Verurteilung als böser Rechter bleiben. Man ist halt kein Linker. So ein Einspruch ist also viel billiger zu haben, aber trotzdem von riesigem Wert! Er schwächt die Gültigkeit herrschender Meinungen, ermutigt andere, beeinflusst die Atmosphäre.

Attacke!

Selbstverständlich bleibt das Wirksamste und Edelste weiterhin die  kluge, nüchterne und schonungslose Gegenrede. Aber wenn das nicht geht, Sie jedoch trotzdem verhindern wollen, dass die Schwärmerei der  sozialistischen Kollegen von Gendersternchen auf der Betriebsfeier sich demnächst in der Dienstanweisung wiederfindet – und wenn Sie dann sehen, dass alle anderen in der Runde wieder nur betreten auf ihre Biergläser gucken – dann denken Sie daran! Es lohnt sich! Heben Sie einfach den  Blick, ziehen Sie den Finger aus der Nase und sagen Sie laut und deutlich: Hää!?