Berechtigterweise blicken aktuell viele Menschen mit Sorge auf die Situation in der Ukraine und auf Putins Russland. Dabei sollte jedoch ein anderer Global Player nicht außer Acht ge­lassen werden: die Volksrepublik China. Mit 1,41 Milliarden Menschen die be­völ­kerungs­reichste und flächenmäßig viertgrößte Nation der Welt. Ein Land, welches sich unter der Präsi­dent­schaft Xi Jinpings massiv verändert hat und sich zum Ziel gesetzt hat, eine oder gar die führ­ende Welt­macht zu werden. Gleichzeitig eine Nation, die ins­be­son­dere von den Euro­pä­ern unterschätzt wird.

Rückblende. Es war für viele nur eine Randnotiz. Etwas, was man vielleicht übersehen oder mit einem irritierten Lächeln zur Kenntnis genommen hat. Bei der Abschlusssitzung des 20. Kon­gresses der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) am 22. Oktober 2022 wurde – kurz nach­dem die Medienvertreter ihre Plätze eingenommen hatten – ein Mann, welcher direkt neben Xi Jinping gesessen hat, von seinem Platz ge­führt. Er versuchte sich noch an einer Ak­ten­mappe fest­zu­hal­ten. Man merkte, dass er nicht ge­hen wollte. Als er dann mit sanftem Druck aus der „Gro­ßen Halle des Volkes“ geführt werden sollte, versuchte er noch sich an der Schul­ter Xi Jinpings festzuhalten. Dieser schaute jedoch nur zu Bo­den – es schien ihm un­an­genehm zu sein.

Der Mann, der abgeführt wurde, war nicht irgendjemand: Es handelte sich dabei um Hu Jintao, den 79-jährigen Vorgänger Xi Jinpings. Der greise Mann war immerhin zehn Jahre Staats­präsi­dent Chinas und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, zugleich Oberbefehlshaber der chinesi­schen Streitkräfte – sprich: „Überragender Führer“ des Landes. Vor neun Jah­ren wurde er von Xi Jin­ping ab­gelöst. Und nun öffentlich gedemütigt. Unbestätigten Medienberichten zufolge gilt Hu Jin­tao seit­dem als verschwunden. Sein Name sei in den sozialen Netzwerken und in den Suchmaschinen Chi­nas zensiert bzw. gesperrt. Die kommunizierten gesund­heit­li­chen Gründe scheinen vor diesem Hin­ter­grund wenig plausibel. Wahrscheinlicher ist, dass es sich dabei um eine Macht­de­mons­tra­tion gehandelt hat. Es war eine öffentlich demonstrierte Zäsur: Das gemäßigte, zurück­hal­ten­de China hat in Person Jin­taos die Bühne verlassen (müssen). Gleichzeitig hat der Kongress den Weg für eine dritte Amtszeit Jinpings freigemacht.

Wenn wir in diesen Tagen richtigerweise die Abhängigkeit von russischem Gas diskutieren, dürfen wir dabei nicht übersehen, dass wir uns schleichend in eine andere, viel dramatischere Abhängigkeit begeben haben: den Handel mit China. Der Anteil Chinas an den Weltexporten hat sich von vier Prozent im Jahr 2000 auf rund 16 Prozent 2022 etwa vervierfacht. 2021 war die Volksrepublik zum sechsten Mal in Folge unser wichtigster Handelspartner. Insgesamt wurden im vergan­ge­nen Jahr Waren für 246,1 Mrd. Euro zwischen Deutschland und China gehandelt. Importiert wurden dabei Waren im Wert von 142,4 Mrd. Euro – zu einem großen Anteil Roh­stoffe und Vorprodukte für Zukunftstechnologien. Fast die Hälfte aller deutschen Industrieunternehmen und etwa 40 Prozent der Handelsunternehmen beziehen einer Um­frage des ifo-Instituts vom Februar dieses Jahres zufolge Vorprodukte aus China. Vor allem die Unternehmen der Auto­mo­bil­industrie sind zu drei Viertel auf Lieferungen aus China ange­wie­sen.

Die Blockade des Suez-Kanals durch das Con­tai­ner­schiff „Ever given“, welches im März 2021 wie eine Gräte im Rachen des Welthandels steckte, machte deutlich, wie anfällig und ver­wundbar unsere Handels­routen sind und wie abhängig die globale Wirt­schaft von deren reibungsloser Funktionsweise. Sechs bis zehn Milliarden Dollar Einbußen im Welthandel kostete die Blockade des Kanals – pro Woche. Die coronabedingte Sperrung der chinesischen Häfen Shanghai und Ningbo Zhoushan hat ebenfalls zu massiven Verzögerungen und Be­las­tun­gen für die Unternehmen geführt.

Was passieren würde, wenn nun nicht eine Havarie oder eine Pandemie für Störungen sorgen wür­den, sondern diese Handelsströme aufgrund politischer Entscheidungen (längerfristig) un­ter­­bro­chen werden würden, ist kaum vorstellbar. Damit verfügt China über ein nicht un­er­heb­liches Druckmittel. Dessen ist man sich in Peking auch bewusst.

Durch das strategische Engagement der Volksrepublik auf dem afrikanischen Kontinent ent­ste­­hen zugleich neue Abhängigkeiten. Damit sichert sich China den Zugang zu und den Zugriff auf wichtige Rohstoffe. „Straßen gegen Rohstoffe lautet der Deal.“, fasst der kenianische Öko­nom Aly Khan Satchu diese Politik prägnant zusammen. Auf der einen Seite der Wunsch und der Drang der afri­kanischen Staaten nach Investitionen und den Ausbau ihrer Infrastruktur, auf der anderen Seite die Frage, wie China seinen Bedarf beispielsweise an Kupfer, Kobalt, Zink und Lithium dauerhaft decken kann. In diese Strategie passen auch die gespendeten Hilfs­gü­ter zur Ein­däm­mung der Corona-Pandemie. In Dschibuti, am Horn von Afrika, hat China eine Frei­handelszone geschaffen, welche als Basis für mehr als 700 Unternehmen und deren En­ga­gement auf dem riesigen Kontinent dient – abgesichert durch einen eigenen chinesischen Marinestützpunkt. Gleichzeitig ist Dschibuti auch Teil des gigantischen Prestigeprojektes „Neue Seidenstraße“, mit welchem China seine Handelswege zu Wasser und zu Land ausbaut und diese nachhaltig sichern will.

Viele assoziieren mit Afrika vor allem Flüchtlinge, die nach Europa drängen, und mit China die ausgelagerten Billigarbeiten, welche bei uns wirtschaftlich nicht mehr rentabel sind. Aber die Welt entwickelt sich weiter. Und Europa sieht nahezu schweigend zu.

Gleichzeitig will Xi Jinping bis 2035 die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte ab­ge­schlos­sen haben. Das Land verfügt über die weltweit größte Marine und liegt mit etwa 2.250 Kampfjets im Bereich der Luftstreitkräfte auf Platz 3. Gleichzeitig stehen rund eine Million Sol­da­ten unter Waffen. Auch in diesem Bereich will China weiter aufholen und zu den USA aufschließen. Jinping versucht hier, die fehlende Kampferfahrung durch moderne Technik zu kom­pensieren.

Wirtschaftlich ist China weiterhin auf Wachstumskurs – 2021 betrug das Wachstum stolze 8,1 Prozent. Selbst im Pandemiejahr 2020 waren es noch 2,2 Prozent. Im Durchschnitt ist die chinesische Wirtschaft seit der Jahrtausendwende um rund 8,7 Prozent pro Jahr gewachsen. Dies wird sich vermutlich auf Dauer nicht fortsetzen lassen, zu groß sind die Probleme, welche einer­seits der demografische Wandel für die Volksrepublik mit sich bringt. Die jahr­zehnte­lan­ge Ein-Kind-Politik führt zu einer rasanten Alterung der Bevölkerung. Andererseits wurde das Wachstum auch unter Inkaufnahme massivster Umweltbelastungen generiert. Insbesondere die Wasser- und Luftverschmutzung und deren Folgen werden hier künftig Veränderungen erforderlich machen. Und auch innenpolitisch gerät die Regierung aktuell wegen der anhaltend strikten Null-Covid-Politik unter Druck.

Umso attraktiver könnte für Xi Jinping der Blick nach Taiwan werden – um sich als „starker Führer“ zu erweisen. So drohte Jinping beim 20. Kongress der KPCh in der Taiwan-Frage in­direkt mit einem Militäreinsatz: Man wolle sich zwar weiterhin um eine friedliche Wie­der­ver­einigung bemühen. „Aber wir werden niemals versprechen, auf den Einsatz von Gewalt zu ver­zichten, und wir behalten uns die Möglichkeit vor, alle notwendigen Maßnahmen zu ergrei­fen.“

Auch deshalb dürfte China den Ukraine-Krieg und die Reaktionen des Westens genau be­obach­ten. Sollte China sich die mit militärischen Mitteln einverleiben wollen – was aus Sicht Pekings eine innenpolitische Angelegenheit wäre –, könnte dies durch den Westen wirt­schaft­lich sanktioniert werden. Dies würde jedoch zu massiven Belastungen auf beiden Seiten füh­ren – und es käme letzten Endes darauf an, wer den (ökonomisch) längeren Atem hat.

Dass bestehende wirtschaftliche Abhängigkeiten keine Garantie zur Sicherung des Friedens darstellen, wissen wir seit dem 24. Februar 2022 – als Putin seine Truppen großflächig hat in die Ukraine einmarschieren lassen. Umso wichtiger wäre es, sich zumindest ein wenig aus der ökonomischen Abhängigkeit zu China zu lösen.

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