Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Die Suppenkasper sind über uns
In dem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk äußerte der FDP-Verkehrsminister Volker Wissing die Ansicht, dass die Reduzierung von CO2-Emissionen den Menschen unzumutbare Einschränkungen auferlegt. Er argumentierte, dass individuelle Verhaltensänderungen, wie zum Beispiel das Vermeiden von Autofahrten, für viele Menschen zu belastend seien. Diese Haltung spiegelt die Vorstellung wider, dass politische Maßnahmen nur dann akzeptiert werden, wenn sie für die Bürgerinnen und Bürger hundertprozentig zumutungslos sind. Wissing implizierte, dass die Akzeptanz von Emissionsreduktionen nur dann möglich sei, wenn sie keine persönlichen Opfer erfordern. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der Idee, dass politische Entscheidungen manchmal unangenehm sein können, aber dennoch notwendig sind, um langfristige Probleme anzugehen, wie zum Beispiel den Klimawandel. Indem er die CO2-Reduktion als unzumutbar darstellte, versuchte Wissing möglicherweise, politische Unterstützung für seine Position zu gewinnen und gleichzeitig Druck auf andere Parteien auszuüben, weniger anspruchsvolle Maßnahmen zu fordern. (Hedwig Richter, FAZ)
Der Essay von Hedwig Richter hat viel Aufmerksamkeit erregt; sogar Marco Buschmann sah sich bemüßigt, ein kulturkämpferisches Statement für die Freiheit des Schnitzelverzehrs abzugeben. Es wird die Lesenden wenig überraschen, dass ich ihren Punkten voll zustimme, aber ich möchte auf einen anderen Aspekt hinaus: Richter benutzt viel die Begrifflichkeit der "Zumutung", in einem positiven Kontext: die Politik müsse den Leuten mehr zumuten. Während ich, erneut, völlig bei ihr bin, erinnert mich die Formulierung sehr stark an die Reformdiskurse der 2000er Jahre und der aktuellen FDP-Rhetorik. "Zumutungen" verlangen sich immer besonders leicht, wenn sie andere betreffen beziehungsweise wenn man sie selbst bereits akzeptiert hat. Das gilt für alle politischen Spektren. So verlangen sich "Zumutungen" bei sozialen Einschnitten besonders leicht, wenn man selbst keine Sozialleistungen bezieht, und "Zumutungen" beim Fleischverzehr und Tempolimit, wenn man eh wenig Fleisch isst und selten über 120 fährt.
2) The U.S. Has Received a Rare Invitation From China. There Is Only One Right Answer.
Chinas nukleare Strategie war lange Zeit auf Selbstverteidigung ausgerichtet, aber jüngste Entwicklungen haben in Washington Besorgnis ausgelöst. Das Pentagon warnt davor, dass China bis 2030 seine Atomwaffen verdoppeln will, und gleichzeitig seine Testeinrichtungen und Raketenfelder ausbaut. Diese Veränderung in Chinas nuklearer Haltung stört das traditionelle Gleichgewicht zwischen den USA und Russland. Während die USA Chinas Aufrüstung als Versuch sehen, mit ihren Rivalen gleichzuziehen, gibt es Befürchtungen, dass sie auch als Abschreckung gegen Interventionen in Konflikten wie Taiwan dienen könnte. Chinas Einladung zur nuklearen Diplomatie, in der es einen gegenseitigen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen vorschlägt, hat viele überrascht. Die USA haben jedoch noch nicht reagiert, was interne Meinungsverschiedenheiten über die Aufgabe ihrer Ersteinsatzpolitik widerspiegelt. Die Zurückhaltung von Präsident Biden, sich zum Verzicht auf den Ersteinsatz zu verpflichten, hängt mit Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Verbündeten und den Reaktionen potenzieller Gegner zusammen. Das Angebot Chinas könnte jedoch trotz möglicher strategischer Absichten Wege für Gespräche über Rüstungskontrolle öffnen, Spannungen abbauen und Normen für das neue nukleare Zeitalter festlegen. Trotz Herausforderungen könnte eine Einigung mit China über die nukleare Politik den Grundstein für zukünftige Abkommen legen und so zur globalen Sicherheit beitragen. (W. J. Hennigan, New York Times)
Grundsätzlich wäre es natürlich zu begrüßen, wenn der derzeitige "Rüstungskontrollwinter" wieder durch neue Abkommen etwas Tauwetter bekäme. Das Problem mit dem konkreten Vorschlag aber ist, dass Chinas Angebot ein Verzicht auf den Einsatz der Waffen GEGENEINANDER bedeutet. Es lässt aber explizit offen, Atomwaffen gegen andere Staaten einzusetzen. Das wäre ein massiver Rückschritt, kein Fortschritt, weil es plötzlich qua Vertrag das bisherige Tabu über den generellen Einsatz von Atomwaffen auflösen würde. Dazu kommt natürlich für die USA, dass anders als mit Russland keine strategische Parität mit den chinesischen Nuklearwaffen besteht; diese haben gar nicht dasselbe Potenzial, weswegen es für die USA natürlich nur eingeschränkt attraktiv ist, egalitär-reziproke Vereinbahrungen einzugehen.
3) Es gibt auch gute Nachrichten aus deutschen Klassenzimmern
Das Deutsche Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung zeichnet ein düsteres Bild der Bildungslandschaft mit Lehrermangel, verhaltensauffälligen Schülern und Lehrkräften, die unter psychischer und physischer Gewalt leiden. Trotz dieser Herausforderungen zeigen Lehrkräfte positive Rückmeldungen zur direkten Beziehungsarbeit mit den Schülern. Die meisten fühlen sich von den Schülern respektiert und als Vorbilder angesehen. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl im Kollegium ist jedoch oft Mangelware, und ein Viertel der Lehrkräfte erhält kaum Feedback für ihre Arbeit. Eine stärkere Teamarbeit und eine Entlastung von Verwaltungsaufgaben könnten das Schulklima verbessern und den Lehrerberuf wieder attraktiver machen, indem Lehrkräfte sich auf das Kerngeschäft des Lehrens und Erziehens konzentrieren können. (Sabine Menkens, Welt)
Erstens ist es immer gut, wenn in den Medien auch einmal positive Meldungen kommen, was die Hervorhebung dieser Nachricht ganz besonders wichtig für mich macht, reite ich doch ständig darauf herum, dass die dauernde Negativität gesellschaftlich negative Effekte hat. Aber auch inhaltlich ist das etwas, das die Verbreitung lohnt und das ich aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen kann. Das Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften hat sich deutlich verbessert, wenn ich das mit meiner Zeit vergleiche. Das fiel mir bereits im Referendariat auf (mittlerweile auch 11 Jahre her), wo ich nie mit den Problemen zu kämpfen hatte, die Referendar*innen damals mit uns hatten, und das hat sich weiter fortgezogen: das inzwischen wesentlich mehr als früher auf Gleichrangigkeit, Augenhöhe und Respekt fußende Verhalten von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen hat viele positive Nachwirkungen, die sich darin zeigen.
4) Die vaterlandslosen Gesellen von der AfD
Die AfD sieht sich mit Enthüllungen konfrontiert, die ihr Spitzenpersonal in ein zwielichtiges Licht rücken. Es besteht der Verdacht, dass einige AfD-Politiker aus Russland und China Geld erhalten haben könnten. Obwohl die Unschuldsvermutung gilt, bewundern viele in der AfD fremde Autokraten, darunter Putin und Xi Jinping. Trotzdem ist die Partei erfolgreich und hat sich im politischen Betrieb normalisiert, auch wenn sie immer radikaler wurde. Möglicherweise schadet das Verhalten einiger AfD-Politiker nun der Partei, da es die Grenzen ihrer Anhängerschaft überschreiten könnte. Einige könnten sich vom extremen Kurs der Partei distanzieren, insbesondere wenn sie den Eindruck vermittelt, die Interessen fremder Mächte zu vertreten. Jeder Prozentpunkt, den die AfD in diesem Wahljahr verliert, wäre ein Gewinn für die deutsche Demokratie. (Sebastian Fischer, Spiegel)
Die Frage, wie sinnvoll es ist, in einen Wettbewerb mit der AfD um die Begrifflichkeit des Patriotismus einzutreten, habe ich auf Bluesky mit Hanning Voigts diskutiert. Ich bin grundsätzlich der Überzeugung, dass es wenig sinnvoll ist, den Rechtsextremisten den Begriff zu überlassen. Es war ja bereits früher ein Fehler der Progressiven, ihn den Konservativen zu überlassen; nun auch noch das Prädikat komplett aus dem demokratischen Spektrum verbannen zu wollen, halte ich für eine Eselei. In den USA sehen wir ja dasselbe Problem: es macht den Democrats unendlich Probleme, dass die Republicans das Label des Patriotismus für sich gepachtet haben; an schrecklichen Auswirkungen denke man nur an den Irakkrieg.
Die FDP sorgt mit einem Zwölfpunkteplan zur Beschleunigung der Wirtschaftswende für Aufsehen. Dieser beinhaltet Maßnahmen wie Kürzungen beim Bürgergeld und das Ende der Rente mit 63, was von SPD und Grünen kritisiert wird. Die FDP betont jedoch, dass sie diese Punkte ernst meint und Deutschland wettbewerbsfähiger machen möchte. Generalsekretär Djir-Sarai betont, dass die FDP nicht vorsätzlich die Koalition sprengen will. Die SPD äußert sich genervt über die Vorstöße der FDP, während die Grünen gelangweilt reagieren. Trotzdem bleiben ernste Fragen, ob die FDP einen Koalitionsbruch vorbereitet oder Zugeständnisse vom Kanzler erreichen will. Besonders umstritten sind Forderungen wie die Abschaffung der Rente mit 63. Die FDP hält an ihren Ideen fest und betont ihre Wichtigkeit für die Wirtschaft. Der Kanzler bleibt für die FDP jedoch vorerst tabu. (Jonas Schaible/Christoph Schult/Christian Teevs, Spiegel)
Ich kann so einigermaßen verstehen, was die FDP versucht. Die Umfrageergebnisse sind mies, und die Analyse scheint die zu sein, dass man in der Ampel wesentlich mehr zurückstecken muss als die beiden Partner und dass man zu wenig erreicht. Ersteres halte ich für eine Fehlwahrnehmung, aber das ist irrelevant - Gefühle sind, was sie sind, ob im Alltag oder in der Politik (Thorsten Jungholt von der Welt attestiert der FDP ein "Glaubwürdigkeitsproblem"). Dass die FDP wenig Konkretes vorzuweisen hat, liegt aber auch an ihr selbst: wer sich selbst vor allem als Verhinderer inszeniert, kann natürlich auch nichts Konstruktives vorbringen, und "wir haben Schlimmeres verhindert" hat schon der SPD in ihren Koalitionen mit der CDU genau gar nichts geholfen.
Gewollt ist natürlich der Vergleich zum Lambsdorff-Papier (hier ein solcher), aber das ist ziemlicher Unfug. Die CDU pusht natürlich dieses Narrativ, weil sie auf den Koalitionsbruch hofft (besonders angesichts des aktuellen Umfragehochs), während die FDP sich in strategischer Ambivalenz übt: die eigene aufrührerische Basis soll gerne glauben, dass es ein potenzielles Scheidungspapier ist, während der Rest und die Partner gerne glauben dürfen, dass es irrelevanter Parteitagkrach ist. Das ist sicher eine valide Strategie. Ob sie aufgeht, wird sich zeigen und hängt neben Lindners Kommunikationsgeschick auch viel vom Glück und den Winden der Politik ab. Solche Sachen können eine Eigendynamik entwickeln und außer Kontrolle geraten.
Siehe auch die Analyse von Benedikt Becker.
Restrampe
a) Super Erklärung der polizeilichen Kriminalstatistik und dem Law&Order-Schindluder, der damit getrieben wird.
b) Ausführliche Analyse, wie republikanische Politik Menschenleben kostet.
c) Die Debatte um Falschparken ist völlig bekloppt. Statt Strafverfolgung sollte man einen Zettel an die Windschutzscheibe kleben. Einmal mehr ist der Kontrast zum Umgang mit der Letzten Generation beachtlich.
d) Philologen beklagen Anfeindungen in Abi-Zeitungen: Was Lehrkräfte hinnehmen müssen – und was nicht. Der Philologenverband sind echt solche Clowns.
e) Warum Unternehmer das Lieferkettengesetz loben.
f) Europa muss mehr Kapitalismus wagen.
g) Interessante Beobachtung zum Thema Attraktivität von NGOs.
h) Habeck spricht über den Wiederaufbau der Ukraine. Völlig zurecht, in meinen Augen.
i) Immer derselbe Punkt zur Steuerhinterziehung, bleibt aber einfach wahr. Vergleiche zu g).
j) Wissings (und seiner Vorgänger) Versagen in Zahlen.
k) Die CDU ist immer mehr auf "weg mit der Schuldenbremse"-Kurs. Die sind echt nicht doof.
l) Wagenknecht verortet sich offiziell rechts von der SPD. Wow.
m) Journalismus ist besser als sein Ruf.
n) Guter Thread zum Thema "ich interessiere mich für Militärgeschichte".
o) Beweis 3259723ß5723 dass das "free speech"-Gerede der Republicans eine reine Kampfvokabel ist. Siehe auch hier.
p) Die Dystopie des US-Gefängniswesens überrascht einen immer wieder aufs Neue.
q) Ob links oder rechts, der ÖRR ist immer das Feindbild der Populisten.
r) Kretschmann reflektiert seinen Bildungsweg.
t) Klimaschutz-Gesetz: Verfassungsgericht weist Eilantrag zurück. Wie Ariane und ich schon öfter angemerkt haben, diese Verrechtlichung des politischen Prozesses durch das BVerfG ist epidemisch.
Fertiggestellt am 26.04.2024
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