Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Is Democracy Constitutional?
In Moore v. Harper, North Carolina Republicans are arguing that no other state body, including the state supreme court, has the power to restrict the legislature’s ability to set voting rules—specifically ones allowing legislators to gerrymander the state, in defiance of a ruling by the state supreme court finding that their plan violated the state constitutional amendment guaranteeing the right to vote. This belief is based on a crank legal premise called the “independent-state-legislature theory.” [...] You’d think that the theory’s recent vintage would make it anathema to self-identified originalists, but among most of the justices this philosophy is implemented with scarcely more rigor than one might put into scanning Wikipedia to win an argument with a stranger online. More disturbing, the popularity of the theory among conservative legal elites is further indication of their commitment to an idea of “democracy” in which the Republican Party is simply not allowed to lose, and of their desire to alter the system to ensure that it cannot. [...] The beginnings of this idea came from a concurrence in Bush v. Gore, the case that threw the 2000 election to George W. Bush, written by the segregationist and then–Chief Justice William Rehnquist, joined by Clarence Thomas and the late Antonin Scalia. [...] Indeed, as Helen White of Protect Democracy writes, in election cases in 2020, Justices Neil Gorsuch, Samuel Alito, Clarence Thomas, and Brett Kavanaugh “all indicated that they would have adopted the theory and its vast consequences.” That theory, she notes, is “at odds with more than a hundred years of Supreme Court precedent and would disrupt whole bodies of law written by state legislatures and reviewed by state courts relying on that precedent.” That might be true. But it is not at odds with the partisan interests of the right-wing justices, a far more important factor in Supreme Court decisions. (Adam Serwer, The Atlantic)
No, I wouldn't think that. Wie ich schon öfter, besonders prominent aber hier, beschrieben habe ist der Originalismus eine reine Fassade. Es ist so offensichtlich Bullshit und schon immer gewesen. Man erinnere sich nur an Bush v Gore, als der "Originalist" Scalia das ihm genehme Ergebnis erzwang und so schlecht begründete, dass er in seiner eigenen Begründung erklärte, es könne keinesfalls einen Präzedenzfall darstellen. Aber zum Thema.
Die Idee "independent state-legislature theory" ist genauso wie der Originalismus ein transparenter Versuch (leider dank der idiotischen Medien sehr erfolgreich), einen intellektuellen Anstrich zu "wir machen was wir wollen" zu produzieren. Im 19. Jahrhundert wurde genau dasselbe gemacht: "Nullification Theory" nannte man das damals, die Idee, dass die Staaten jederzeit Gesetze ignorieren könnten, die ihnen nicht in den Kram passen. Es brauchte einen Bürgerkrieg, um den Blödsinn endgültig zu beerdigen. Und jetzt buddeln die Rechten den stinkenden Kadaver wieder aus.
Die "states rights" waren schon im 19. Jahrhundert eine reine Fassade. So bestanden die Südstaaten zwar darauf, dass der Bund ihnen keine Vorschriften zur Sklaverei machen konnte (denn darum ging es), aber sie hatten null Probleme damit, mit dem "Fugitive Slave Act" sämtliche nördlichen Bundesstaaten zu zwingen, permanent eine Hilfspolizei für die Sklavenfänger des Südens zu spielen. Um zu bezweifeln, dass diese Leute das ohne mit der Wimper zu zucken wieder machen würden, muss man schon echt sehr naiv sein.
2) Die Schuldenbremse wird zum Sicherheitsrisiko
Unter den Bedingungen der Schuldenbremse werden deshalb die erforderlichen Ausgaben für Militär, Diplomatie und internationales Engagement weit hinter dem Notwendigen zurückbleiben. Schlimmer noch: Notwendige Zukunftsinvestitionen werden durch die Schuldenbremse systematisch verhindert. Eigentlich sollte die Schuldenregel, so das Versprechen der Befürworter, zukünftige Generationen schützen. In der Realität nimmt sie ihnen Zukunftsfähigkeit. [...] Verpasste Investitionen sind eine größere Sünde an zukünftigen Generationen als Schulden. Öffentliche Investitionen garantieren zukünftiges Wachstum, Sicherheit und Lebensqualität. [...] Historiker werden eines Tages mit staunendem Schaudern die Geisteshaltung der Angela-Merkel-Jahre sezieren. Nicht nur hat Deutschland in der Zeit die gefährlichen Abhängigkeit von den autoritären Großmächten Russland und China verstärkt. Es hat infolge einer fatalen wirtschafts- und finanzpolitischen Orthodoxie auch die Gelegenheit verpasst, dringend notwendige Investitionen in einer Zeit wirtschaftlicher Stärke und Negativzinsen vorzunehmen. Als der Bund mit Schulden Geld machen konnte, verkündete die CDU stolz, dass sie zu ihrem Fetisch der schwarzen Null stehe. Ergebnis der Merkel-Jahre ist ein massiver Verlust an Substanz und Zukunftsfähigkeit, der jetzt immer deutlicher zu Tage tritt. [...] ommen kann, dass Sicherheit in Europa nur gegen, nicht mit Russland möglich ist, dann ist zu hoffen, dass sich ein Friedrich Merz auch ein Deutschland ohne die Schuldenbremse vorstellen kann. (Thorsten Brenner, Tagesspiegel)
Die Einschläge kommen immer näher. De facto ist die Schuldenbremse bereits tot. Die Polykrise von Corona und russischem Krieg in der Ukraine haben gezeigt, dass die regierende Koalition (egal, welche Partei darin ist) jederzeit per einfacher Mehrheit ihre Aussetzung erklären kann. Die Schuldenbremse existiert also nur, solange ein Partner der Koalition das will - Gratulation, das hatten wir vorher schon. Das nennt man "eine parlamentarische Mehrheit für den Haushalt haben". Was übrig ist, ist ein immer absurder werdender politischer Tanz mit "Sondervermögen" und "Ausnahmesituationen", um die Aussetzung zu rechtfertigen, aber letztlich ist das alles Geschichte. Nachdem jetzt neben den üblichen linken Verdächtigen auch die Sicherheits-Community auf den Zug aufspringt, die Schuldenbremse abschaffen zu wollen, werden auch weitere folgen. Das Argument wird stets das gleiche sein: grundsätzlich ist die Schuldenbremse ja super, aber just zu diesem Zeitpunkt für mein Anliegen muss eine Ausnahme gemacht werden. Sobald diese Argumentation sich mal verselbstständigt hat, wird die Ausnahme von der Schuldenbremse zu einem Routine-Akt der jährlichen Haushaltsberatungen, bei ritualisiertem Widerspruch der Opposition.
3) Was Henri Nannen und Erich Honecker gemeinsam haben
Theo Sommer geht das offenbar viel zu weit: Er sieht das Lebenswerk des „Stern“-Herausgebers und Kunststifters Nannen in Gefahr durch die Selbstgerechtigkeit der in die Bundesrepublik geborenen „Hundertfünfzigprozentigen“, die sich einbildeten, „sie wären auf jeden Fall im Widerstand gewesen“. Ja, Nannen habe „widerliche“ Schriften und Karikaturen zu verantworten, Kriegsverbrechen seien das aber nicht gewesen (was auch niemand behauptet). Viel wichtiger sei, dass er nach dem Krieg eine glaubhafte innere Umkehr durchgemacht habe, dass er daran mitgearbeitet habe, die Demokratie in Deutschland zu etablieren und somit eben doch ein wichtiges Vorbild sei. [...] Bei Sommer kommen solche neueren Erkenntnisse und Forschungsstände nicht vor. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er weite Teile seiner Kolumne abgeschrieben hat – bei sich selbst. Vor 29 Jahren, anlässlich der Entlassung Erich Honeckers aus dem Gefängnis, schrieb Sommer in der „Zeit“ den Artikel „Lieber lernen als strafen“. Sommer plädiert dort dafür, nur die Hauptverantwortlichen der DDR und anderer Unrechtsregime zu verurteilen und den Rest von der Demokratie zu überzeugen, zu versuchen, sie alle in Arbeit zu bekommen, und sich ansonsten mit individuellen Schuldzuweisungen zurückzuhalten. [...] Sommer präsentiert also 2022 den Meinungs- und Forschungsstand aus einer Zeit, als in der Bundesrepublik noch Züge der Deutschen Reichsbahn fuhren. Immerhin kann man ihm dabei nicht vorwerfen, einseitig zu sein: Theo Sommers Imperativ des vergebenden Vergessens gilt nicht nur für NS-Mitläufer, sondern auch für jene aus der DDR. Und für Apartheid-Südafrika. Und El Salvador. Nur die ganz großen Themen eben. (Moritz Hoffmann, Übermedien)
Der Artikel lässt mich etwas ratlos zurück. Inhaltlich soweit alles richtig, aber - was folgt? Sommer ist ein Relikt einer beinahe ausgestorbenen Generation. Es ist kein Zufall, dass die ganzen Debatten über die Bewertung von NS-Täterschaften jetzt wieder auftauchen, wo praktisch alle Beteiligten tot sind - nicht nur die Täter selbst, sondern in den meisten Fällen auch ihre direkten Nachkommen. Die Enkel-Generation hat da üblicherweise ein wesentlich kühleres Verhältnis dazu. Dass 1950 keine durchgreifende Säuberung möglich war, weil der Staat irgendwie funktionieren musste und sich zu viele hunderttausende bis Millionen schuldig gemacht hatten ist keine sonderlich atemberaubende Erkenntnis. Dass man sehr leicht verziehen hat, auch nicht. Also was nun?
4) Press “bothsideism” has failed Biden, and America
If it strongly criticized Donald Trump during his presidency (and since), then it follows that it must also strongly criticize Joe Biden, which is exactly what it’s done. Fair, isn’t it? Balanced, too, right? Wrong. Not only does criticism not come in equal shapes and sizes, appropriate for all presidents and both political parties (a journalistic curse called “bothsideism”), but, when unfairly applied, as it has been in covering Biden, it runs the serious risk of further damaging our still free press and weakening our already shaky democracy. [...] My own experience as a journalist for more than three decades corroborates Patterson’s research. I had a much better chance of getting my story on the evening news if I was reporting an administration disaster than if I wanted to report a success. [...] By living on negativity, the press has only compounded the inherent problems of governing a democracy already spinning out of control. [...] The tendency to wallow in the negative represents a major and continuing failure of the American press, which has now mushroomed into a problem of such historic importance that, if left unattended, may soon contribute mightily to the undermining of American democracy. It is that serious. Sadly it is not a new problem. In 1947, the Hutchins Commission concluded a special study of press failings by saying “the time had come” for the American press to stop being so negative and start becoming “responsible” for the way it covers the nation’s business. That the press in this country is “free” is a blessing, without question, but a blessing that, operating alone, may not be able to meet the challenges of a robust, swiftly changing, and troubled democracy. Change was necessary in 1947. It is desperately necessary now.
Ich habe darauf hier auch immer wieder hingewiesen: die falsche Äquivalenz (false equivalence) ist eine Seuche. Sie hat 2016 bereits zur Wahl Trumps beigetragen. In einem Zwei-Parteien-System werden der Bothsiderismus und die falsche Äquivalenz immer dazu führen, dass, egal wie radikal eine Seite ist, sie normalisiert wird. Das ist ein Vorteil in unserem System: wenn die AfD über die Stränge schlägt, stehen mit der CDU und FDP zwei vernünftige rechts orientierte Parteien zur Verfügung, während jede Idiotie der LINKEn als solche benannt werden kann, weil mit SPD und Grünen zwei vernünftige links orientierte Parteien bereitstehen.
Man kann auch gar nicht genügend betonen, dass das ein sehr altes Problem ist. Ich würde es sogar als universell ansehen. Es ist ein Bedürfnis von Leuten, sich durch Kritik von zwei Extremen in der Mitte zu positionieren. Man fühlt sich dabei immer intellektuell wahnsinnig ehrlich. Ich kenne das auch von mir selbst; nie hat man dieses Gefühl von Erhabenheit, wie wenn man bequem beide Seiten eines Streits kritisieren kann, weil man beiden nicht verbunden ist. Und das ist der Haken an der Sache: das geht nur, wenn man sich ständig über den jeweiligen Streitgegenstand erhebt. Mir fällt das bei dieser Atomkraft-vs-Tempolimit-Debatte etwa leicht. I don't give a shit. Und im globalen Maßstab spielt es auch keine Rolle. Aber das wird schnell anders, wenn wir bei "wichtigen" Themen sind.
Und "wichtig" definieren wir natürlich immer alle selbst.
WELT: Wegen des Personalmangels in vielen Branchen wird diskutiert, ob die verpflichtende Isolation wegfallen sollte. Halten Sie das für richtig?
Weigeldt: Ich halte diese permanente Debatte aktuell für sinnlos. Wir haben ein Informationschaos, das mehr vewirrt, als dass es hilft. Meiner Ansicht nach sollten wir bei den aktuellen, vernünftigen Regeln bleiben, die ja bereits die Isolationsdauer auf fünf Tage verkürzt haben. Wer einen positiven Test hat, sollte einige Tage zu Hause bleiben, auch wenn er sich ganz gut fühlt. Das gilt natürlich umso mehr, wenn man im medizinischen Bereich arbeitet. So vermeiden wir weitere Ansteckungen. [...]
WELT: Ab wann empfehlen Sie Ihren Patienten die vierte Impfung? Ab 70 Jahren, ab 60 Jahren – oder allen?
Weigeldt: Das ist wieder so eine Debatte, bei der der eine Hü und der andere Hott sagt. [...] Was mich mehr umtreibt, ist allerdings, dass sich viele bis heute kein einziges Mal haben impfen lassen. Es heißt dann immer: Wer es bisher nicht getan hat, wird es auch jetzt nicht mehr tun. Es kann nicht wahr sein, dass die Politik diese Menschen aufgegeben hat. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Das gilt auch für die Drittimpfung, bei der es große Impflücken gibt. (Katja Klapsa, Welt)
Ich bin völlig bei Weigeldt, was die Kritik am Hü und Hott der Corona-Kommunikation angeht. Das ist einfach nur ein Volldesaster. Ich habe mittlerweile so keine Lust mehr auf den ganzen Mist, ich kann das gar nicht in Worte fassen. Aber entschiedener Widerspruch bei "es kann nicht sein, dass die Politik diese Menschen aufgegeben hat". Doch, kann sein. Wir haben uns gegen eine Impfpflicht entschieden. Wir reden seit über einem Jahr von Impfungen, und es gab wahrlich genug (und hier auch eindeutige und zweifelsfreie!) Aufklärung über den Nutzen der Impfungen. Fuck alle die, die es nicht fertiggebracht haben, sich in 16 Monaten impfen zu lassen. Und kommt mir nicht mit denen, die sich nicht impfen können. Die hätten wir mit einer Impfpflicht schützen können. Haben wir nicht. Eine Maskenpflicht in Innenräumen würde helfen. Gibt's nicht. Luftfilter würden sie schützen. Sind uns zu teuer. Ich sehe genau, wer da verantwortlich ist. Aber bei denen, die sich nicht impfen lassen WOLLEN? Fuck these people. Wir reden ständig von Eigenverantwortung. Dann sollen sie die jetzt auch übernehmen.
6) Lindner widerspricht und stellt Steuersenkungen für 2023 in Aussicht
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat einem Bericht der „Bild“-Zeitung, wonach er die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geplante Vorstellung eines neuen Hilfsprogramms für Geringverdiener verhindert habe, widersprochen. Auf „Twitter“ schrieb Lindner dazu, „das Gegenteil ist der Fall“. Er schlage für 2023 unter anderem einen höheren Grundfreibetrag und einen fairen Tarif der Lohn- und Einkommensteuer vor. Der Plan sei vereinbar mit der Schuldenbremse. Des Weiteren stellte Lindner aufgrund der hohen Preise für das kommende Jahr eine Steuersenkung in Aussicht. Es gehe dabei um Geringverdiener, aber auch die „arbeitende Mitte“, sagte der FDP-Politiker am Montag in Berlin. Durch die Abschaffung der sogenannten kalten Progression sollten sie entlastet werden. Als kalte Progression bezeichnet man eine Art schleichende Steuererhöhung, wenn eine Gehaltserhöhung durch die Inflation aufgefressen wird, aber dennoch zu einer höheren Besteuerung führt. [...] Lindner hätte demnach mit Blick auf die Schuldenbremse im nächsten Jahr zusätzliche Ausgaben verhindern wollen. Im Bundesetat gebe es kaum weiteren Spielraum für zusätzliche Ausgaben, habe der Finanzminister dem Bericht zufolge argumentiert. Ähnlich hatte sich der FDP-Chef bereits am Wochenende geäußert. „Wir werden innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens wirtschaften und wirtschaften müssen“, sagte Lindner der Deutschen Presse-Agentur. (dpa, Tagesspiegel)
Das ist einfach so typisch FDP. Ein Programm, das Geringverdienenden wirklich hätte helfen können (vielleicht) wird verhindert und durch eines ersetzt, das ihnen nicht hilft. Aber wenn man nur einen Hammer hat, muss man jedes Problem als Nagel betrachten. Was meine ich? Ein Single, der oder die Vollzeit Mindestlohn verdient (ca. 1900€ brutto), bezahlt pro Monat - Trommelwirbel - 139 Euro Steuern. Wie viel von einer hypothetischen Steuersenkung für die "arbeitende Mitte" soll diese Person danach mehr im Monat haben? 10 Euro? 20? Letzteres wäre eine Steuersenkung, die so massiv wäre, dass die Schuldenbremse allenfalls eine Lachnummer bliebe. Nicht, dass die FDP das in dem Fall stören würde. Denn Lindner blockiert Investitionen in Klimaschutz, Schienennetz oder in Hilfen für Geringverdienende zwar mit dem Argument, das Geld sei nicht da, aber stellt gleichzeitig eine Steuersenkung in Aussicht.
Und das kann man ja machen! Der Abbau der Kalten Progression ist der Heilige Gral der Steuerpolitik seit mindestens den 1990er Jahren und ein sinnvolles Vorhaben. Aber dieses heuchlerische "sorry, kein Geld, Schuldenbremse" und dann das Geld aber für Steuersenkungen haben, die eben nicht den Geringverdienenden am meisten helfen, sondern der Mittelschicht (erneut: gutes Vorhaben, mach, aber lüg nicht so dreckig darüber, was du tust!) - das ist einfach nur eklig. In den Momenten sehe ich echt nur den hässlichen Lindner, mit dem aalglatten BWL-Sprech, in der Hoffnung, dass niemand versteht, was er meint. Eine Hoffnung, die offensichtlich nur zu berechtigt ist.
7) Tweet
„Unsere Wahrnehmung ist völlig aus dem Lot geraten. Wir reden über #Porsche, zugleich hat die geballte #Ökolobby des Landes in mehreren Ministerien Führungs- und Leitungsfunktionen übernommen, etwa im Wirtschaftsministerium oder im Auswärtigen Amt.“ (tm) https://t.co/RkUfa7mCbO
— Friedrich Merz (@_FriedrichMerz) July 27, 2022
Ausnahmsweise zitiere ich hier mal einen Tweet, weil mein Kommentar etwas länger wird. Das ganze Problem des schwarz-gelben Politikverständnisses findet sich in diesem Tweet konzentriert. Für Friedrich Merz ist Klimaschutz ein Klientel-Thema, auf demselben Level angesiedelt wie Hilfen für Porsche. Ob man Windräder baut oder Katalysatorregeln für den Zuffenhausener Autobauer aufweicht, ist ihm grundsätzlich gleich - nur schmiert die eine Industrie sein Brot und die andere das von Habeck, gewissermaßen.
Und genau das ist das Problem. Da besteht überhaupt keine Gleichwertigkeit. Der Klimaschutz ist die Jahrhundertaufgabe der gesamten Menschheit. Wenn eine Ökolobby die Führungs- und Leitungsfunktionen übernommen hätte, dann wäre das ein Schritt in die richtige Richtung. Denn eine "Ökolobby" ist halt nicht dasselbe wie Porsche: die einen betreiben Lobbyismus für die Bilanz eines Unternehmens (wenngleich eines volkswirtschaftlich nicht eben unbedeutenden), während die anderen Lobbyismus für Klima- und Umweltschutz betreiben. Das sind fundamental unterschiedliche Kategorien.
Das sieht man ja auch am Personal: da sind ja nicht Vertreter*innen eines bestimmten Windradherstellers im Ministerium, sondern Leute von Greenpeace und Co. Sind das die besten vorstellbaren Leute für den Job? Vermutlich nicht. Sind sie ideologisch einseitig ausgerichtet und haben zu wenig Erfahrung in wichtigen Bereichen, Stichwort Wirtschaft? Vermutlich. Haben sie ihre Prioritäten an der richtigen Stelle? Aber hallo. Es wäre an der CDU, eine eigene Ökolobby aufzubauen, aber stattdessen ziehen sie das Ganze auf die Frage runter, wer einen überteuerten Stand auf dem Parteitag kauft. Mit diesen Leuten ist kein Staat zu machen.
8) „Ausgaben befeuern Inflation“ (Interview mit Christian Lindner)
Das 9-Euro-Ticket läuft Ende August aus. Haben Sie mit Ihrem Parteifreund, Verkehrsminister Volker Wissing, darüber gesprochen, was danach kommen könnte?
Für den ausweislich der Zahlen erfolgreichen Tankrabatt und für das 9-Euro-Ticket ist keine Fortsetzung vorgesehen. Aus diesem Grund habe ich Offenheit signalisiert, etwas bei der Entfernungspauschale zu tun – die übrigens entgegen anderslautenden Gerüchten nicht nur Autofahrern gewährt wird, sondern für alle Verkehrsmittel gilt. Menschen im ländlichen Raum, wo es vielleicht keine S-Bahn, keinen Bahnhof gibt, können das 9-Euro-Ticket kaum nutzen, zahlen aber über ihre Steuern mit. Das ist Ungerechtigkeit. Ich bin kein Freund einer Gratismentalität. Die führt nicht zu effizientem Umgang mit Ressourcen. Hinzu kommt, es ist eine Kernaufgabe der Länder, den Regionalverkehr zu organisieren. (Dietrich Creutzburg/Manfred Schäfers, FAZ)
Das 9-Euro-Ticket ist eine der erfolgreichsten Maßnahmen der letzten Jahre. Da nicht weiterzumachen, ist einfach absurd. Dass Lindner jetzt die Entfernungspauschale ins Spiel bringt und das mit der Gerechtigkeit begründet, ist völliger Unfug. Die Idee war ja gerade, die Verkehrswende durch eine Aufwertung des ÖPVN zu befeuern. Sozialleistungen mit der Gießkanne wie die Entfernungspauschale leisten genau das nicht. Sie reißen einfach nur ein Loch in die Kassen. Aber sie betreffen natürlich viele FDP-Wählende, die eher nicht zum Kernklientel des ÖPVN gehören.
Auch das andere Gerechtigkeitsargument ist Blödsinn. Ich zahl eine Menge mit meinen Steuern, was ich nicht nutze. Auch bei Lindners eigenem Vorschlag passiert das ja: die Leute mit kurzem Arbeitsweg zahlen über ihre Steuern eine Subvention für die Leute mit langem Arbeitsweg. Das ist einfach völlig inkonsistent. Auch das Gerede von der "Gratismentalität" ist Unfug, ich kaufe ja immer noch ein Ticket. "Gratismentalität" war ja bei Tankrabatt und jetzt bei der Entfernungspauschale auch nicht das Thema. Und "effektiver Umgang mit Ressourcen" wäre, so viel Verkehr wie möglich in den ÖPVN zu bekommen und den so stark wie möglich auszubauen, auch und gerade auf dem Land. Aber darum geht es Lindner halt nicht; der schaut eher auf Porsche (siehe Fundstück 7).
9) A radical plan for Trump’s second term
They intend to stack thousands of mid-level staff jobs. Well-funded groups are already developing lists of candidates selected often for their animus against the system — in line with Trump’s long-running obsession with draining “the swamp.” This includes building extensive databases of people vetted as being committed to Trump and his agenda. The preparations are far more advanced and ambitious than previously reported. What is happening now is an inversion of the slapdash and virtually non-existent infrastructure surrounding Trump ahead of his 2017 presidential transition. These groups are operating on multiple fronts: shaping policies, identifying top lieutenants, curating an alternative labor force of unprecedented scale, and preparing for legal challenges and defenses that might go before Trump-friendly judges, all the way to a 6-3 Supreme Court. [...] Trump, in theory, could fire tens of thousands of career government officials with no recourse for appeals. He could replace them with people he believes are more loyal to him and to his “America First” agenda. [...] Such pendulum swings and politicization could threaten the continuity and quality of service to taxpayers, the regulatory protections, the checks on executive power, and other aspects of American democracy. [...] No operation of this scale is possible without the machinery to implement it. To that end, Trump has blessed a string of conservative organizations linked to advisers he currently trusts and calls on. [...] One uniting theme connects all of these disparate groups: fealty, to Trump himself or his “America First” ideology. Now, they are functioning as a series of task forces for a possible Trump administration. They are rookeries for former Trump staff. They are breeding grounds for a new wave of right-wing personnel to run the U.S. government. (Jonathan Swan, Axios)
Der Artikel ist hervorragend recherchiert, extrem detailliert, ausführlich und lang und ist hier nur in winzigen Auszügen zitiert. Auffällig ist für mich vor Allem eines: anders als 2016/17 geht Trump dieses Mal mit einem klaren Plan an die Sache heran. Das ist sehr Besorgnis erregend, und das geht auch über die Person Trumps hinaus, weil ähnliche Pläne ja auch bei deSantis und Co in der Schublade liegen. Zur Erinnerung: nichts hat uns 2017-2021 so sehr geholfen wie Trumps eigene Inkompetenz, die völlige Unfähigkeit, zu regieren, die auch am ausgewählten Personal lag. Dieses Mal scheint nicht nur sehr viel mehr Kompetenz von Anfang an versammelt zu sein. Es gibt auch eine Bereitschaft und die Vorbereitung zu riesigen politischen Säuberungen.
Eine der zentralen Schwächen der Trump-Administration 2017 war, dass viele konservative Fachleute nicht bereit waren, in seiner Regierung zu dienen. Dazu beförderte er hauptsächlich cronies und Speichellecker. Das ist nicht mehr gegegeben. Die GOP ist die Partei des MAGA, und eine ganze Menge Leute stehen bereit, den Staat zu übernehmen und in ihrem Sinne umzugestalten. Das ist die viel größere Gefahr als die Person, die am Ende 2024 gewinnen könnte.
10) Lindners Steuerpläne könnten Topverdienern besonders viel einbringen
Die Steuersenkungen, die Finanzminister Christian Lindner (FDP) vorgeschlagen hat, könnten vor allem Topverdienern besonders viel bringen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Modellrechnung der Arbeitnehmerkammer Bremen. [...] Die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, Katja Hessel, sagte hingegen der Nachrichtenagentur AFP, der Ausgleich der kalten Progression sei »ein Gebot der Fairness gegenüber der hart arbeitenden Mitte in unserem Land«. Es gehe nicht um »irgendwelche Steuergeschenke«, sagte die FDP-Politikerin, sondern mit Blick auf die hohe Inflation um »die Verhinderung einer massiven Steuererhöhung«. [...] Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagte, die von Lindner angekündigte Abschaffung der Kalten Progression reiche nicht aus. Geringverdiener würden kaum erreicht, weil sie meist keine oder sehr wenig Einkommenssteuer bezahlten. Erwerbstätige mit mittleren Einkommen würde eine solche Maßnahme durchaus entlasten, so Esken: »Doch im höchsten Maße profitieren Höchstverdiener, die unsere Unterstützung nicht benötigen.« Für Geringverdiener dagegen müsse es zusätzlich zur Erhöhung des Mindestlohns direkte Zuwendungen wie einen Kinderbonus oder einen Heizkostenzuschuss im Wohngeld geben. Esken sprach sich erneut für höhere Steuern auf sehr hohe Einkommen aus, um den Spielraum des Staates für das geplante Bürgergeld und eine Reform des Wohngelds zu erhöhen. (dpa, SpiegelOnline)
Ein FDP-Steuerplan, der Topverdienende begünstigt. Ich bin schockiert. Was kommt als Nächstes? Eine Forderung nach höherem Mindestlohn von der LINKEn? Aber Scherz beiseite, ich bin völlig bei Lindner, wenn es um die Abschaffung der Kalten Progression geht. Das hätte schon seit vielen Legislaturperioden passieren sollen und ist tatsächlich dringender denn je. Wenn die FDP das tatsächlich hinbekommt, Kudos, damit wäre eine mittlerweile seit sicherlich 30 Jahren verschleppte Steuerreform endlich mal vom Tisch.
Aber: es ist völlig albern, dass Lindner so tut, als ob mit einer Senkung der Einkommenssteuertarife irgendwie den Geringverdienenden geholfen würde. Ein Single mit Mindestlohn (12€) zahlt pro Monat 139€ Steuern. Um das soweit zu senken, dass diese Person das überhaupt merkt - vor allem angesichts einer zu erwartenden Mehrbelastung von mehreren hundert bis tausend Euro durch die Gasumlage - müssten die Steuern in einem Ausmaß gesenkt werden, das völlig fantastisch ist.
Nein, die Einkommenssteuer hilft hier einfach nicht. Wenn Lindner tatsächlich etwas tun möchte, um Geringverdienenden über den Winter zu helfen, wird er nicht darum herumkommen, Eskens Vorschlägen zu folgen. Höhere Steuern für hohe Einkommen, Anathema für die FDP und mittlerweile ebenso reflexhaft bei Linken vorgebracht wie Steuersenkungen bei der FDP, sind dafür auch gar nicht nötig, schon allein, weil wir von zeitlich sehr begrenzten Leistungen reden. Genauso wie bei der unsäglichen Debatte um die Verlängerung der Atomkraftwergslaufzeiten oder das Tempolimit macht mich das Ritualhafte an diesen Forderungen nur noch kirre. Man fordert, was man schon 1999 gefordert hat. Nur die Begründungen werden immer an die Krise du jour angepasst.
Resterampe
a) Die Ehe ist seit 1949 beständig auf dem Rückzug, und es hat nichts mit 68 oder Feminismus zu tun. Kevin Drum nennt stattdessen das relevanteste Argument dafür: Geld.
b) Die Ironie ist echt nett. Wir hatten das letzthin schon mal bezüglich anderer Kunstformen.
c) Irrtümer rund um den gelben Sack.
d) Ich habe dieses Argument, dass niedrige Zinsen den Armen schaden, noch nie verstanden.
e) Klasse Thread zum Ausbau der Solarenergie.
f) Spanien verbindet zwei sehr gute Policies, die in Deutschland als unmöglich gelten.
g) Die Republicans verschwenden keine Zeit: der erste Politiker fordert jetzt, die Legalität der gemischtrassigen Ehe "den Bundesstaaten zu überlassen". Widerspruch seitens der GOP? Keiner.
h) Und gleich noch mal Übergewinnsteuer: in Frankreich gibt es zwar keine, aber die glaubhafte Drohung reichte, dass die Konzerne die Benzinpreise senken. Was da nicht alles möglich ist, wenn man nur will.
i) Habe nichts hinzuzufügen, spreche aber eine unbedingte Leseempfehlung aus.
j) Spannender Thread über Thomas Manns Verhältnis zum Kommunismus.
k) Boris Johnson hat echt ganze Arbeit beim NHS geleistet. Der Spiegel ist da viel zurückhaltend.
l) Republic.ch hat einen tollen Zweiteiler zur Ernährung der Welt. Teil 1, Teil 2.
m) Super spannender Einblick, wie die kleinen Anfragen die Berliner Verwaltung lahmlegen. Wie so oft: gut gemeint kann problematische Nebenwirkungen haben.
n) So kann man Corona-Managment auch machen.
o) Die ganze Absurdität der Corona-Regeln am Beispiel Oktoberfest.
p) Interessantes Interview zum ERA und der Serie "Ms. America" anlässlich des Dobbs-Urteils; ich hatte darüber seinerzeit auch einige Sätze geschrieben, aber ich finde sie nicht mehr. Punkt war: die Serie zeigt, vielleicht unabsichtlich, weil glorifiziert, einige der größten Probleme der Linken: eine Überbewertung symbolischer Handlungen (Houston 1977) und eine Unterbewertung tatsächlicher politischer Macht (Schlaflys Kampagne) und ständiges infighting.
q) Der New Statesman hat auch was zu Thomas Mann, indem er ihn als illustrativ für Deutschlands Russophilie hernimmt. Spannend.
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