Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Zum Regieren gezwungen

An dieser Stelle also zurück zur besagten Ampel-Option und der doppelten Zwangslage der Liberalen. In dem nicht ganz unwahrscheinlichen Szenario, dass nach der nächsten Wahl sowohl eine rechnerische Mehrheit für Schwarz-Grün als auch für eben jene Ampel bestünde, wäre die Lage für die FDP weniger komfortabel, als es gerade noch scheint. Denn würde sie sich abermals der Macht verweigern, liefe sie Gefahr, sich selbst auf unbestimmte Zeit die Regierungsfähigkeit abzusprechen. Wer die FDP bislang noch wählte, weil er darauf hoffte, dass sie die eigenen Interessen in der Exekutive vertritt, käme dann vermutlich schwer ins Grübeln. Andererseits: Würde die FDP mit der SPD und den Grünen eine Regierung bilden, liefe sie wiederum Gefahr, jenen rechtsmittigen Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren, der gewiss nicht begeistert wäre, wenn der Eindruck entstünde, die FDP verhelfe zwei linken Parteien zu einer Mehrheit. Man kann sich im Übrigen fast sicher sein, dass Paul Ziemiak und Markus Blume ihre ganze Generalsekretärhaftigkeit darauf verwenden würden, diesen Umstand liebevoll herauszumeißeln, und aus der FDP einen, wie es dann vermutlich heißen würde, "Steigbügelhalter für eine Linksregierung" oder so ähnlich zu machen. Die SPD und die Grünen sollten ihrerseits diese Lage der FDP genau kennen. Denn beide brauchen die theoretische Möglichkeit einer Ampel-Regierung noch ein bisschen dringender als die FDP selbst. Die Grünen, damit sie sich gegen den linken Vorwurf wehren können, eine Koalition mit der Union sei für sie schon ausgemacht. Und die SPD, weil es für sie überhaupt die einzig realistische Machtoption ist. Und weil Koalitionsoptionsberichterstattung ohnehin ein Geschäft des gut gelaunten Konjunktivs ist, hier noch ein weiterer: Sollte im Bund tatsächlich einmal über eine Ampel verhandelt werden, käme es für SPD und Grüne ganz besonders darauf an, der FDP ihren eigenen Raum zuzugestehen. Als Kraft der ordnungspolitischen Vernunft, der maßvollen ökologischen Reform, des habituellen Jetzt-mal-halblang. Aus den realen, sagen wir, zehn Prozent der FDP müssten machtpolitische zwanzig Prozent werden, damit der Zwang zur Macht für die FDP stärker ist als die Sorge um einen Teil ihrer Wählerschaft. (Robert Pausch, ZEIT)

Eine Ampel ist eine attraktive Option, weil sie neue Pfade beschreitet und, vor allem, die CDU nach sechzehn Jahren in die wohlverdiente Opposition senden würde. Das aber sind alles Meta-Gründe. Die große Frage, die in allen Ampel-Debatten auftaucht, ist, warum um Gottes Willen diese drei Parteien zusammengehen sollten. Was ist ihr Projekt? Haben sie genügend Themen, die sie umsetzen könnten? Die Streitpunkte sind reichlich offensichtlich, und die Gefahren für die FDP, mit SPD und Grünen eine Koalition einzugehen, sind es auch. Auf der anderen Seite würde die FDP mehr Profilierungsraum und unter Umständen sogar Gestaltungsspielraum bekommen, als dies in einer klassischen schwarz-gelben Koalition der Fall wäre. Ich verstehe jedenfalls die Bauchschmerzen, die Lindner und der Rest der FDP-Führung mit dieser Koalitionsidee hat. Genauso wie übrigens auch die der Basis der anderen beiden potenziellen Partner, aber für SPD und Grüne gilt, dass beide die Chance sofort ergreifen würden.

Ich möchte zum Thema auch auf meinen Artikel zur Ampel als verpassten Chance hinweisen; die Grundsätze daraus gelten ja noch. Ich zitiere mich einfach mal selbst: Grundsätzlich hätte sich die Ampel wohl als ein sozialliberales Bündnis begreifen müssen: die FDP hätte ihr Profil als Partei von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten hervorgehoben und sich auf der anderen Seite als Korrektiv für die SPD und Grünen inszeniert (insbesondere was Energiewende und Agenda2010 anging), während SPD und Grüne ihrerseits die damalige Marktradikalität der FDP gezügelt hätten. Die Parteien hätten sich zudem, ähnlich dem Lindner-Wahlkampf 2017 und dem SPD-Wahlkampf 1998, hinter einem generellen Modernisierungsbegriff sammeln können, der durchaus das Internet und den Bildungsbereich hätte umfassen können. Eine Art großes „Deutschland zukunftsfähig machen“-Projekt, das den Status Quo auf dem Arbeitsmarkt unangetastet lässt.

2) Why can't Britain handle the truth about Winston Churchill?

Even before it took place, the discussion was repeatedly denounced in the tabloids and on social media as “idiotic”, a “character assassination” aimed at “trashing” the great man. Outraged letters to the college said this was academic freedom gone too far, and that the event should be cancelled. The speakers and I, all scholars and people of colour, were subjected to vicious hate mail, racist slurs and threats. We were accused of treason and slander. One correspondent warned that my name was being forwarded to the commanding officer of an RAF base near my home. The college is now under heavy pressure to stop doing these events. [...] It’s ironic. We’re told by government and media that “cancel culture” is an imposition of the academic left. Yet here it is in reality, the actual “cancel culture” that prevents a truthful engagement with British history. Churchill was an admired wartime leader who recognised the threat of Hitler in time and played a pivotal role in the allied victory. It should be possible to recognise this without glossing over his less benign side. [...] Even his contemporaries found his views on race shocking. In the context of Churchill’s hard line against providing famine relief to Bengal, the colonial secretary, Leo Amery, remarked: “On the subject of India, Winston is not quite sane … I didn’t see much difference between his outlook and Hitler’s.” Just because Hitler was a racist does not mean Churchill could not have been one. Britain entered the war, after all, because it faced an existential threat – and not primarily because it disagreed with Nazi ideology. Noting affinities between colonial and Nazi race-thinking, African and Asian leaders queried Churchill’s double standards in firmly rejecting self-determination for colonial subjects who were also fighting Hitler. (Priyamvada Gopal, The Guardian)

Wie bereits im letzten Vermischten angesprochen ist die britische Erinnerungskultur eine völlige Katastrophe. Eine überzogene Empire-Nostalgie, verbunden mit einer völligen Fantasieversion des Zweiten Weltkriegs, vermischt sich zu einem Mix, der Selbstzufriedenheit und Blindheit antreibt. Im Zentrum steht der vor allem in den letzten Jahren massiv angewachsene Personenkult um Winston Churchill, der inzwischen geradezu als Säulenheiliger verehrt wird. Es ist vergleichbar mit der albernen Überhöhung Ronald Reagans bei den Republicans, nur dass im Fall Churchills fast das ganze Land völlig besoffen von dieser Version zu sein scheint. Der bisherige peinliche Höhepunkt ist sicherlich die Selbstinzenierung Boris Johnsons als eine Art Westentaschen-Churchill. Die AfD kann noch so oft und laut "Schuldkult" schreien; die deutsche Erinnerungskultur ist bei all ihren Schwächen einfach den meisten anderen Ländern um Längen voraus.

3) Die Trophäen der Jungen Union

In mehreren Landesverbänden der JU berichten Frauen über Benachteiligungen, Vorurteile, ein antiquiertes Rollenverständnis und auch über sexuelle Belästigung. Man werde gefördert, „solange man keine Meinung hat und nicht sonderlich auffällt“, sagt eine JU-Frau aus Hessen. „Sobald man den Mund aufmacht, wird’s schwierig.“ Viele in der JU hätten „ein Problem mit allen Minderheiten, die nicht weiße Männer sind“, sagt eine weitere Frau aus Hessen. Da herrsche die Meinung: „Wenn die Mädels mal mitmachen wollen, geben wir denen mal ein Pöstchen.“ Doch seien weibliche Führungsleute in der JU meist „Schaufensterfrauen“. Eine eigene Meinung zu haben werde eigentlich nicht erwartet. Wenn man als Frau aufsteigen wolle, sei meist nicht das Können entscheidend, sondern ob man mit den Jungs abends ein Bier trinken gehe. Da sei man dann gezwungen, „Körbe“ zu verteilen – was sich dann politisch bemerkbar mache. [...] Mehrere noch in der JU aktive Frauen aus Hessen beklagen Sexismus in der Organisation. Es heiße, Frauen seien nicht für Führungsaufgaben geboren. Es gebe JU-Veranstaltungen, da rieten sich die Frauen gegenseitig, keinen kurzen Rock zu tragen, „sonst denkt jeder, wir sind Freiwild“. Es herrsche bei einigen in der JU die Meinung, Frauen dürfe man „nicht ins Gesicht schlagen, aber zur Züchtigung auf den Po“, sagt eine der Frauen. [...] Auch Frauen aus anderen Landesverbänden schildern, dass sie die Stimmung als belastend empfunden haben. „Auf den Veranstaltungen der Jungen Union waren einfach nur Männer. Wenn man als Frau einigermaßen normal aussah, wurde man angegafft oder immer wieder angemacht”, erinnert sich eine Frau. „Viele schienen die Veranstaltungen wie den Deutschlandtag der JU als eine Art Singlebörse zu begreifen“, sagt sie. „Ein Nein wurde nicht akzeptiert.“ Mehrere Frauen schildern anhaltende anzügliche Bemerkungen von Funktionären, die erst ein Ende nahmen, als ein anderer Mann intervenierte. (Julian Steib/Timo Steppart, FAZ)

Auch hier der Verweis auf das letzte Vermischte und die Debatte über die Rolle von Institutionen und den ihnen eigenen Kulturen. Wie man in den Wald hineinschreit, so kommt es heraus; man erntet, was man sät. Das gilt für Organisationen wie die JU auch, ob sie nun stromlinienförmige Korruption in Form eines Philipp Amthor produzieren oder massiven Sexismus reproduzieren. Es ist eben alles eine Frage der Anreize. Wenn eine bestimmte Unternehmensstruktur, corporate identity oder wie auch immer man das nennen will (ernsthaft, gibt es für solche institutionellen Normen ein griffiges Wort?) vorherrscht, werden sich die jeweiligen Mitglieder danach richten. Fische stinken immer vom Kopf her, völlig egal, um welche Art von Institution es geht.

4) Bureaucrats are terrible. The alternatives are worse.

For much of human history, societies have been unapologetically organized to benefit those in positions of political power. Practically speaking, this meant that patronage was the rule. Whether you and your family personally benefitted from the distribution of social and economic goods — land, work, trade, and so forth — was a function of what party, faction, or class you belonged to, and whether its members controlled the political levers of power. [...] The reason that clientelism stands out to us is that the liberal democracies of the West have worked very hard over the last century or so to replace this way of organizing society with an alternative based on bureaucratic norms. Bureaucrats allocate and distribute benefits and goods based not on who you know, what class or party you belong to, or which official you're willing to bribe, but based instead on officially sanctioned standards of fairness and merit. And the bureaucratic adherence to these standards is assured by insulating those who work in them, as much as possible, from political influence. (That's how we get "unelected bureaucrats.") All things being equal, this is a huge improvement over the clientelistic baseline. It institutionalizes the rule of law, regularizes what government does, makes it more likely that citizens will get treated equally, and minimizes the ability of those who win elections from using their power to benefit themselves and their supporters at the expense of other members of the political community. [...] Somewhere between the extremes of bureaucratic sclerosis and the free action of unbound public officials lies the ever-elusive mean of good government. (Ryan Cooper, The Week)

Man sollte hier wie so häufig die ideologische Scheuklappen beiseite lassen und die Vor- und Nachteile von Bürokraten und Bürokratie erkennen. Es ist ja auch kein auf den Staat beschränktes Phänomen; hier haben diese Leute nur wegen der hoheitlichen Aufgaben eine Sonderstellung. Aber jedes Unternehmen hat seine eigene Bürokratie. Um nur ein Beispiel zu nennen: die internen Verwaltungsabläufe bei Bosch stehen an Komplexität, absurden Regeln und dem Beharren auf die Einhaltung zigtausender kleiner Vorschriften keinem Bürger*innenamt etwas nach. Bürokratie hat die nützliche Funktion, Abläufe zu vereinheitlichen und berechenbar zu machen. In einer Demokratie ist das essenziell; ohne Bürokratie keine Demokratie. Aber auch Unternehmen kommen ohne nicht aus. Bürokratie hat aber genau wegen dieser Vorteile natürlich den eklatanten Nachteil, in diesem einmal festgelegten System gefangen zu sein und keine Handlungsoptionen (oder -vorstellungen) außerhalb dieses Systems zu besitzen. Deswegen müssen Bürokratien immer wieder reformiert werden, was sehr aufwändig und schwierig ist und wegen der Beharrungskräfte dieser Bürokratien oft auch scheitert. Es ist quasi ein beständiger Zyklus von Erneuerung (wenn alles chaotisch ist und nichts richtig läuft) und Sklerose (wenn alles schon viel zu lange im festgefahrenen Muster läuft). Die Zeit zwischen diesen beiden Punkten entfaltet das volle Potenzial einer Bürokratie, und gute Führungskräfte müssen erkennen, welche Zeit gerade herrscht und welche Anforderungen das mit sich bringt.

5) "Niemand muss sich rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er nichts daran ändert" (Interview mit Aladdin el-Mafaalani)

Zündfunk: In Ihrem Buch „Das Integrationsparadox“ hatten Sie die These, dass wir deshalb so viel streiten, weil es schon so gut funktioniert. Das ist jetzt drei Jahre her. Ist die Integration heute noch besser geworden, weil wir noch mehr streiten?

Aladin El-Mafaalani: Ich glaube, wir sehen die Dinge jetzt deutlicher. Man sieht auch, dass meine These, die 2018 noch sowas von provokant war, heute fast schon Mainstream, fast schon langweilig ist. Und das liegt daran, dass es in einem Tempo sichtbar wurde, das ich selber nicht gesehen habe. Es liegt daran, dass Minderheiten heute ihre Interessen artikulieren können, wie sie es früher niemals hinbekommen hätten. Und dass sie das heute in einer Weise hinbekommen, wie ich das erst in fünf oder zehn Jahren vermutet hätte. Das was passiert, ist das, was passieren muss, nämlich, dass das Konfliktpotenzial steigt, weil mehr Interessen in den Diskurs eingespeist werden und weil Dinge in Frage gestellt werden. Am Anfang geht es darum mitzumachen. Und heute können die Leute schon sagen: Hey, ihr seid privilegiert. Eure Deutungshoheit stellen wir in Frage. Und das führt dazu, dass auch die anderen Widerstände leisten.

Überrascht Sie die Vehemenz, mit der das im Moment passiert?

Nein. Die Vehemenz ist ja im Übrigen noch moderat. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eigentlich noch einen anständigen Diskurs. Einer, der ziemlich regelhaft zu sein scheint. [...]

Und wie soll man dann damit umgehen? Von heute auf morgen lässt sich die Sache ja nicht mehr ändern.

Naja, man muss es akzeptieren, dass Rassismus da ist. Das haben alle empirischen Studien gezeigt. Das sollte man also nicht so schrecklich finden, es ist kein Versehen und nicht irgendwas anderes. Wenn man das begreift, dann kann man gelassen sein. Ich würde sagen, das Prinzip, womit wir am besten weiterkommen heißt: Niemand muss sich dafür rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er ab morgen nichts daran ändert. Wer Ahnung hat, aus welcher Gesellschaft wir kommen, der kann doch eigentlich gar nicht mehr durchdrehen. Vor allem, wenn man ein bisschen informiert ist über die Geschichte. [...]

Wie könnten wir besser diskutieren und unsere Streitkultur auch verbessern?

Das wird sehr lange dauern. Ich glaube, es gibt keine Streitkultur, die man aus dem Bücherregal holt und sich durchliest. Das muss im Diskurs entwickelt werden. (Bärbel Wossagk, DLF)

Die auch in der Überschrift hervorgehobene These habe ich ja in meinem Artikel "Rassismus ist wie Brokkoli" auch schon prominent vertreten. Vorwürfe, jemand sei rassistisch, führen wegen der Binarität des Vorwurfs nicht sonderlich weiter. Was man braucht ist die Erkenntnis, dass einzelne Akte es sein können, die Einsicht, dass sie es sind und dass man sie begangen hat, und die selbstkritische Auseinandersetzung damit. Auch wenn Aktivist*innen gerne mal nervig sind, erfüllen sie doch die zentrale Rolle, diese Prozesse anstoßen zu können und neue Perspektiven zu bieten.

Gleiches gilt für den Begriff des Privilegs. Niemand muss sich dafür entschuldigen, in einer privilegierten Lage zu sein, aber das darf man durchaus anerkennen und entsprechende Schlüsse für die Bewertung der eigenen Position einerseits und der Position anderer andererseits ziehen. Konkret: Vielleicht bin ich in meiner privilegierten Lage nicht (nur), weil ich der geilste Typ auf Gottes weitem Erdboden bin, und vielleicht sind andere nicht nur in einer schlechten Lage, weil sie halt irgendwie Versager*innen sind. Aber dazu muss man eben manchmal aus der eigenen Komfortzone treten.

6) "Dumm und dämlich verdient"

Die Verteilaktion der FFP2-Masken über Apotheken sollte, so verkündete es Spahn, den besonders Gefährdeten über die Weihnachtstage etwas Erleichterung verschaffen. Im Januar und Februar gab es in den Apotheken gegen Vorlage von Coupons weitere Gratis-Masken - eine Aktion, die den Steuerzahler am Ende mehr als zwei Milliarden Euro kosten dürfte. Dabei hatten sich Spahns Beamte frühzeitig gegen die Verteilaktion ausgesprochen. Das geht aus internen Unterlagen hervor, die NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erlangten. Sie zeigen, dass Spahn die Aktion gegen das Votum der Beamten persönlich durchsetzte. Bereits Anfang November warnte das Fachreferat demnach den Minister vor "gravierenden Finanzwirkungen" und wies daraufhin, dass viele Anspruchsberechtigte "durchaus in der Lage sind",  die Masken "selber zu finanzieren". Acht weitere Referate zeichneten das klare Votum ausweislich der Unterlagen mit: "Verzicht auf die Verordnungsfähigkeit von FFP2-Schutzmasken". Doch mit grünem Stift notierte Spahn handschriftlich auf die Vorlage: "Nein, bitte um kurzfristige Erarbeitung eines ÄA". Das Kürzel steht für "Änderungsantrag". Und das Wort "kurzfristig" hatte Spahn extra unterstrichen. [...] Stattdessen legten die Beamten einen komplizierten Weg fest: Die Abgabe von 15 Masken pro Person wurde in drei Phasen unterteilt. Im Dezember konnte jeder und jede über 60 Jahren drei Masken in der Apotheke gratis abholen. Der Bund ging davon aus, dass 27,3 Millionen Menschen in Deutschland anspruchsberechtigt seien: 491,4 Millionen Euro, die der Bund somit einfach an den Apothekerverband überwies, der das Geld wiederum an die Apotheken verteilte. Egal wie viele Masken sie abgaben, sie erhielten einen festen Anteil aus Bundesmitteln: Im Schnitt gab es mehr als 25.000 Euro für jede Apotheke in Deutschland. (Lena Kampf/Markus Grill/Moritz Börner/Arnd Henze, Tagesschau)

In dieser Episode finden sich wie unter dem Brennglas so viele Probleme der deutschen Pandemiepolitik. Das Gesundheitsministerium operiert entgegen jeglichem Expertenrat auf rein politischen Maximen, die aber wiederum dann in die Behördenlogik gegossen werden. Aus der eigentlich ja sinnvollen Einschätzung, dass Masken im Eigenkauf recht teuer sind und es wünschenswert wäre, dass große Teile der Bevölkerung geregelten Zugang haben und die Masken regelmäßig wechseln, wurde dann eine Blanko-Auslieferung auf der einen Seite - viele Betroffene könnten sie ja wirklich selbst finanzieren - die dann aber ihrerseits wieder in die bürokratische Monstrosität (siehe Fundstück 5) gegossen wurde, wie sie nur ein deutsches Ministerium produzieren kann, anstatt dass man sich eine Scheibe aus den USA abeschneidet und einfach zum gleichen Preis die Masken an alle in der Post verschickt. Schade, dass die FDP nicht an der Regierung ist, da wäre wenigstens ein müder Apotherkerwitz dabei herausgekommen.

7) Warum sich die Grünen bewusst dem politischen Gegner ausliefern

Das Programm lebt damit von Voraussetzungen, die es nicht selbst schaffen kann. Das ist mutig, weil sich die Grünen damit dem politischen Gegner ausliefern. Weil es bedeutet, in den Wahlkampf zu gehen mit einem Programm, von dem man selbst nach erfolgreicher Koalitionsverhandlung für große Teile noch nicht versprechen kann, dass sie umsetzbar wären. [...] Die Parteispitze setzt darauf, dass die Schuldenbremse selbst unter Ökonominnen und Ökonomen keinen guten Ruf mehr hat, und darauf, dass die anderen Parteien sich schon darauf einlassen, wenn die Argumente nur gut genug sind und sie auch profitieren, etwa als Verantwortliche in den Kommunen, die investieren müssen. [...] Damit manövrieren sich die Grünen in eine Zwickmühle: Gehen sie auf Risiko, können sie scheitern. Wenn sie auf Sicherheit gehen, wenn sie nur das Machbare versuchen, sind sie aber erst recht gescheitert. Die Analyse lautet, dass es trotzdem nötig ist. Die Wette, dass es sich lohnt. [...] Vielleicht sind die Grünen nur viel besser als andere Parteien darin, eine Geschichte zu erzählen, von sich als Gestalterinnen einer neuen Epoche. Dadurch, dass sie mit einer Reform der Schuldenbremse kalkulieren, hinterlegen sie aber ein ordentliches Pfand. Sie gehen in Risikovorleistung. Genug, um vorläufig davon auszugehen, dass das Versprechen mehr sein könnte als nur Polit-PR. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Jonas' Wahlprogramm-Analysen sind allesamt in ihrer Gänze lesenswert; hier sind nur Auszüge. Ich finde seine Fragestellung interessant, weil ich das in diesem Framing bisher ehrlich gesagt noch nicht gelesen habe. Man könnte es ja schließlich auch einfach als eine ohnehin unerfüllbare, aber die Seele der Parteibasis streichelnde Forderung im Wahlprogramm abtun, so was wie "Deutsch ins Grundgesetz" bei der CDU. Fordert man gerne, wird nie kommen.

Nur ist das eben hier kein identitätspolitisches Versatzstück (Veggieday, ich hör dich trapsen) sondern steht als Frage im Kern jeder zukünftigen Finanzpolitik. Wie in Fundstück 1 beschrieben sehe ich keine Möglichkeit, dass die FDP sich einer Abschaffung der Schuldenbremse öffnen würde. Aber auf deren Stimmen kommt es auch nicht wirklich an. Letztlich führt hier kein Weg an der Union vorbei. Warum die das machen sollte, ist allerdings nicht wirklich klar.

Die Schuldenbremse erfüllt damit genau die Funktion, vor der ihre Gegner*innen immer gewarnt haben: durch ihren Grundgesetzrang bindet sie alle zukünftigen Regierungen auf eine bestimmte politische Richtung fest. Das ist demokratietheoretisch ohnehin bedenklich, aber angesichts der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es auch sachlich ein riesiges Problem. Es ist gut, dass die Grünen das im Wahlprogramm so explizit ansprechen. Mir ist ehrlich gesagt nicht bekannt, wie sich die SPD da aktuell positioniert, aber ich würde mal nicht annehmen, dass die einer Änderung im Wege stünden, wenn aus welchen Gründen auch immer CDU und Grüne gemeinsame Sache machten.

8) Biden Needs to Fight His Own Culture War

It is worth remembering that President Franklin Delano Roosevelt, who came to power in 1933 with a small and unflattering reputation, reshaped, during his 12 years in power, not just the politics and economy of the U.S. but its culture. FDR succeeded because he saw the birth of a spacious moral imagination as vital to his task — and recognized that his own rhetorical gifts, though impressive, were not strong enough to achieve it. [...] It was not until the 1980s that the tremendous spell of the New Deal was broken by another concerted ideological and cultural effort, this time by a Republican party under Ronald Reagan committed to redistributing upwards. [...] In 1996, Clinton campaigned on a promise to “end welfare as we know it.” The New Republic, once the American flagbearer of progressive liberalism, supported him with a cover depicting the welfare queen of Reagan’s dog whistle: a black woman smoking while holding a baby. It is this landscape fundamentally altered — ravaged, some might say — by nearly four decades of unchallenged right-wing hegemony that Biden seeks to reshape with an FDR-like vision of government as the protector of ordinary citizens. [...] And the examples of his hegemonic predecessors — Reagan as well as FDR — confirm that Biden can win the battle for the soul of America only by waging a long culture war on his own terms. (Pankaj Mishra, Bloomberg)

Ich stimme dem Artikel inhaltlich völlig zu, aber der Begriff des "culture war" scheint mir hier ziemlich deplatziert. Es geht ja eigentlich nur um vernünftiges Framing. Dass die Progressiven darin so schlecht sind, ist hausgemacht. Die Konservativen sind um Längen besser darin, ihre politischen Präferenzen zu kommunizieren. Ich habe über den Erfolg Reagans und Thatchers ja selbst geschrieben. Sie waren für Jahrzehnte prägend; ihr Erfolg ebenso total wie der des New-Deal-Konsens' zuvor.

Bezüglich Bidens progressiver Meriten mahnt Kevin Drum übrigens völlig zurecht zur Vorsicht und dämpft die Euphorie. Ich denke, Biden profitiert gerade vom Vergleich mit Trump einerseits (bei dem man echt nur gewinnen kann) und von einer deutlichen Überperformance der sehr geringen Erwartungen an ihn andererseits. Er erlebt gerade einen honeymoon. Die Herausforderungen stehen vor ihm.

9) Biden oder Bismarck

Nach der Wahl Donald Trumps 2016 erklärten einige Medien Angela Merkel vorschnell zur Führerin der westlichen Welt. Tatsächlich war sie bestenfalls eine Reichsverweserin. Merkel genoss ihre moralische Überlegenheit gegenüber Trump (und Putin), doch, wie in anderen Politikfeldern, beschränkte sie sich auf die Verwaltung des Status quo. Es ist nicht bekannt, dass die Kanzlerin sich für meinungsstarke Russlandexperten interessiert. In Deutschland wird das Amt des Russlandbeauftragten nach Parteienproporz ausgewählt und die Ostpolitik des Auswärtigen Amtes beruht nach wie vor auf den Prämissen von 1970. Aus Trägheit und Gewohnheit überließ Berlin dem Kreml in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, seine Politik der Provokation und des Regelbruchs gegenüber Deutschland und der Europäischen Union ungehindert fortzusetzen. Auch im Ukrainekonflikt engagierte sich Berlin in den vergangenen Jahren nicht, die Protestbewegung in Belarus erfuhr nur eine lauwarme Unterstützung. Wir sollten uns eingestehen: Kein sicherheitspolitisches Problem ist in den vergangenen Jahren zusammen mit Moskau gelöst worden und es ist an der Zeit zu konstatieren, dass der Kreml auch häufig gar kein Interesse daran hat. Der demütigende Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Moskau hat gezeigt, in welche Sackgasse eine Ostpolitik im Gestus der Unterwerfung führt. [...] Berlin hat sich in seiner Russlandpolitik verrannt. Tonangebend bleibt die Bundeskanzlerin mit ihrer Bismarckschen Prämisse, gute Beziehungen zu Moskau seien Deutschlands primäres Interesse. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet. Für die kleineren Verbündeten in Osteuropa, für Polen oder die Ukraine, hat sie nur wenig übrig. [...] So könnte die transatlantische Partnerschaft wiederbelebt werden. Deutschlands Politik bekäme mit amerikanischer Rückendeckung wieder mehr Gewicht. Dazu müssten wir aber bereit sein, mit dem Merkelschen Dogma eines Primats Russlands zu brechen. (Jan C. Behrends, Salonkolumnisten)

Deutschland war noch nie wirklich ein transatlantischer Partner, nicht in dem Sinne, wie es Großbritannien ist. Deutschland geriert sich außenpolitisch eher wie Frankreich, nur ohne die Konsequenz und die Mittel, diese Ansprüche auch wirklich durchzusetzen. Sich unter den Fittichen der USA zu verstecken ist nicht dasselbe wie eine transatlantische Partnerschaft.

Davon abgesehen bin ich, wie hinlänglich bekannt, völlig auf Behrends' Seite. Ich halte die Idee einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West für ein absolutes Relikt. Es hat Deutschland nie gut getan, und seine machtpolitische Basis ist schon lange dahin. Aber die SPD und mit ihr ein Großteil der deutschen Bevölkerung können von dieser Illusion einfach nicht lassen.

10) "Seid vorbereitet!" (Interview mit Olivier Blanchard)

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Blanchard: Wenn alles gut läuft, dann kann die Wirtschaft diese Gelder absorbieren. Die Unternehmen können mehr Leute einstellen und mehr Waren produzieren. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf ein sehr niedriges Niveau und allen geht es besser. Ein solches erfreuliches Szenario ist nicht völlig ausgeschlossen. Wenn es so kommt, dann wäre ich der Erste, der sich darüber freut, und ich würde einräumen, dass ich mir unnötig Sorgen gemacht habe.

ZEIT ONLINE: Sie glauben aber nicht, dass es so kommt?

Blanchard: Meine Befürchtung ist, dass die Wirtschaft zu heiß läuft: Die Arbeitslosigkeit geht so stark zurück, dass es nicht mehr genug Arbeitskräfte gibt, die bereit sind, eine Stelle anzunehmen. Dann steigen die Löhne, die Unternehmen müssen die Preise ihrer Waren anheben, um die höheren Lohnkosten aufzufangen, und im Ergebnis zieht die Inflation an. Dann muss die Notenbank Federal Reserve mit höheren Zinsen reagieren. [...]

ZEIT ONLINE: In den vergangenen Jahren haben Ökonomen oft vor einer Rückkehr der Inflation gewarnt. Dazu ist es aber nie gekommen. Warum sollte das jetzt anders sein?

Blanchard: Wir haben ein solches Ausmaß an Überhitzung einfach noch nicht gesehen. Der Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosenquote – die sogenannte Phillipskurve – ist historisch betrachtet nicht sehr stabil. Ich befasse mich seit sehr vielen Jahren mit diesem Thema. Immer, wenn man das Gefühl hatte, man hat ihn erfasst, passiert irgendetwas und man muss wieder von vorn anfangen. [...]

ZEIT ONLINE: Viele Ökonomen sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt, wenn die Inflationsrate ansteigt, dann können wir sie wieder unter Kontrolle bringen.

Blanchard: Wenn man sich Umfragen anschaut, dann sieht man: Es sind vor allem Ältere, die einen Anstieg der Inflation fürchten. Leute aus meiner Generation. Wir erinnern uns an die Zeit der hohen Inflationsraten. Wir erinnern uns daran, dass der Anstieg der Teuerung in den Siebzigerjahren zwar unter Kontrolle gebracht werden konnte, aber der Preis dafür eine schwere Rezession war, ausgelöst durch die straffere Geldpolitik. Wenn man heute unter 50 ist und in einem Industrieland lebt, hat man so gut wie keine Erfahrung mit hohen Inflationsraten gemacht. Das kann schon dazu führen, dass man die Risiken unterschätzt. (Marcus Gatzke/Mark Schieritz, ZEIT)

Ich finde dieses Interview absolut faszinierend. Es zeigt zum einen, wie unglaublich offen die Volkswirtschaft als Disziplin eigentlich ist - offen in dem Sinne, als dass offen ist, welche Prämissen, die von den Volkswirtschaftler*innen gerne im Duktus höchster Sicherheit vorgetragen werden, eigentlich richtig sind. Zum anderen enthüllt es aber auch ein sehr problematisches Mindset einiger dieser Entscheider.

Blanchard verweist auf seine Erfahrungen mit der Inflation der 1970er Jahre. Wie er völlig zurecht sagt, haben Menschen, die das Renteneintrittsalter noch nicht erreicht haben, diese Erfahrungen nicht. Das liegt eben daran, dass wir seither keine mehr hatten. Nur warnen gerade deutsche Volkswirtschaftler*innen unter dem (traumatischen) Eindruck dieser Erfahrungen permanent vor einer Inflation, die aber nie kommt.

Es mag natürlich sein, dass sie - dieses Mal wirklich! - direkt um die Ecke ist, in welchem Falle Blanchard wie ein sehr weiser Mahner erscheinen würde. Ich halte es aber mindestens für genauso wahrscheinlich, dass die Prämissen, auf denen Blanchard und viele andere ihr komplettes Weltbild aufgebaut und ihre Theorien modelliert haben, einfach nicht mehr richtig sind. Mein Eindruck ist, dass Blanchard (pars pro toto) einer jener sprichwörtlichen Generäle ist, die den letzten Krieg kämpfen und die für die gegenwärtigen Herausforderungen überhaupt keinen Blick haben.

11) What is Europe's problem with the AstraZeneca jab?

This kind of ass-covering can happen in less cynical ways, too: once one government has decided to pause the vaccine rollout – whether for good reasons or bad – other governments have an incentive to do the same. Making a bad decision as part of a pack is politically much safer than risking being the lone standout on a good decision. When in doubt, herd. All this is exacerbated by the high rates of vaccine hesitancy and outright anti-vaccine sentiment in many European countries. Once several countries had suspended AstraZeneca, Macron may have felt in France, with almost 50% vaccine hesitancy, he had no choice but to follow suit. Critics, though, might note that by doing so Macron has validated those rules and will make his eventual task of vaccinating the public even harder still. Pander today, pay tomorrow. A final bit of context for this is Europe’s – and especially the EU’s – supposed hyper-caution on technology and science. The bloc has a long history of framing inaction as sensible prudence, of confusing ass-covering with the precautionary principle. To take just one example – and to leave the thorny issue of genetically-modified foods out of it – the hypothetical dangers of nuclear power, especially since the Fukushima disaster ten years ago this month, were used to keep coal power plants online in Germany – indirectly contributing to thousands of air pollution deaths. Europe has a long record of prioritising hypothetical dangers over real ones. Given that history, letting people die of coronavirus to ‘save’ them from vaccines their own regulators say are safe, is grimly unsurprising. And die they will: these delays will have a measurable cost in lives. European countries are battling yet another wave of coronavirus re-emerging, and many countries are having to introduce stricter lockdown measures yet again – an inevitable result of reopening with an unvaccinated population. (James Ball, The New European)

Ich mag der rundum empfehlenswerten Kritik Balls (der Artikel ist noch viel länger und ausführlicher) vollumfänglich zustimmen. Sie ist auch deswegen relevant, wiel sowohl der New European als auch Ball überzeugte Pro-Europäer sind; wenn einer wie er zu einer solchen Generalkritik an der EU ansetzt, ist das noch einmal etwas anderes, als wenn es, sagen wir, in den Wirtschaftsseiten der Welt passiert.

Genauso wie beim deutschen Föderalismus erleben wir im Augenblick in aller Klarheit die Nachteile des institutionellen Arrangements, das zu Kompromiss und Konsens zwingt und stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzt. In Deutschland im Kleinen wie in Europa im Großen sorgt es dafür, dass Trippelschritte durchgeführt und vor allem aufschiebende, beinahe verwaltungstechnische Schritte genommen werden. Mit all den furchtbaren Konsequenzen, die das hat.

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