Wer in einem beliebigen Supermarkt oder Zeitschriftenladen einen Blick in die Auslage wirft, wird schnell sehen, dass eine ganze Industrie ihr Geld damit verdient, allerlei Diätrezepte an die zahlende Kundschaft zu bringen. Jeden Januar (wegen der Neujahrsvorsätze) und Sommer (wegen der freien Haut) hat diese Industrie Hochsaison, aber eigentlich funktioniert sie das ganze Jahr. Abnehmrezepte, Workouts, das volle Programm werden durchgenudelt. Die Abnahme (und bei Männern das Sixpack) werden gerne in sechs, acht oder zwölf Wochen versprochen, wenn man nur die Tipps, die in der Zeitschrift stehen, beachte. In den Regalen der Supermärkte finden sich Proteinriegel, Proteinshakes, Nahrungsergänzungsmittel und vieles mehr; die größeren Einkaufsläden haben sogar spezialisierte Shops, die Wheys und andere Nahrungsmittel anbieten, die garantiert zu Muskelaufbau und Abnahme führen. Und obwohl ein ganzes Land Jahr für Jahr mit Abnahme und Muskelbildung beschäftigt scheint, sind zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen Deutschlands übergewichtig. Das muss wohl bedeuten, dass Diäten und Sport nicht funktionieren. Anders ist das ja kaum zu erklären. - Dieser Logik jedenfalls folgen unter anderem diverse Kommentator*innen hier im Blog, wenn sie erklären, dass die Corona-Maßnahmen von Maske tragen über Lockdown nicht tragen. Wäre Corona eine Diätzeitschrift, sie fände reißenden Absatz. Leider verstehen diese Leute den Jojo-Effekt nicht, der der Diätbranche seit Jahrzehnten konstante Einnahmen beschert, ohne dass das Problem je auch nur im Ansatz gelöst werden würde. Dieser Jojo-Effekt wirkt auch in der Corona-Politik.

Die Politik gibt sich derselben Illusion hin wie Leute, die zweimal in der Woche ins Fitnessstudio gehen, sich danach mit einem Essen bei McDonalds belohnen, nach zwei Monaten drei Kilo mehr auf der Waage haben und frustriert das Training aufgeben, weil es ja offensichtlich nichts bringt. Diese Logik ist weit verbreitet, gewiss. Aber das macht sie nicht richtig. Und sie funktioniert auch bei der Pandemiebekämpfung nicht.

Während ich diese Zeilen schreibe, beträgt die Inzidenz meines Landkreises 197. Kürzlich wurde verfügt, dass Treffen mit Personen außerhalb des eigenen Haushalts auf eine Person beschränkt sind. Es gilt eine Ausgangssperre ab 21 Uhr, selbst fürs Joggen übers Feld. Während meine Mobilität und meine Privatkontakte so massiv eingeschränkt werden wie noch nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, schreibe ich gerade einen Brief an meine Kolleg*innen, in denen ich sie darüber informiere, dass ab nächster Woche die Schüler*innen der Klassen 8-11, die seit den Tagen vor Weihnachten 2020 im Fernunterricht waren, ab kommende Woche wieder in Präsenz unterrichtet werden. Die Öffentlichen Vekehrsmittel sind jeden Tag proppevoll, ebenso die Läden. Während die gebeutelten Selbstständigen der nächsten und vermutlich endgültig tödlichen Runde Schließungen ins Auge sehen, haben die Ministerpräsident*innenkonferenz und der Bundestag ein weiteres Mal beschlossen, den Arbeitgebern keine verbindlichen Auflagen zum Home-Office zu machen und debattieren immer noch darüber, ob man eine Testpflicht einführt. Anders ausgedrückt: wir machen einen Sonntags-Spaziergang, damit die Sahnetorte zum Nachmittagskaffee sich nicht auf den Rippen bemerkbar machen möge.

Ich habe die Schnauze so gestrichen voll. Seit 13 Monaten habe ich praktisch kein Privatleben mehr. Ich trage eine Maske, wann immer ich ein Gebäude betrete, das nicht mein eigenes Haus ist. Ich unterrichte den ganzen Tag in Maske (nicht vergnügungssteuerpflichtig). Meine Hobbies lebe ich zum Gutteil seit dieser Zeit nicht oder nur noch eingeschränkt aus.

Ich bin wütend über die Politik. Hier werden im Wochentakt neue Maßnahmen beschlossen, die alle ungefähr so viel Sinn machen, als wenn ich meine Noten auswürfeln würde. Es ist nichts Halbes und nichts Ganzes, ein einziges Gewürge, das sich nun schon seit Monaten hinzieht, mit Kosten, die zunehmend untragbar werden. Während manche Teile der Gesellschaft existenziell vor dem Aus stehen, läuft in anderen Bereichen alles weiter, als gäbe es keine Pandemie. Der einzige Bereich, in dem die Politik sich mühelos noch jede Zumutung einzuführen traut, ist das Privatleben der Bürger*innen, die als reine Verfügungsmasse betrachtet werden.

Es geht auch anders. Man sehe sich nur dieses Beispiel an:

Taiwan school policy since FEB 2020
compare with your country pic.twitter.com/raMWUK0rh0

— Irene Tosetti (@itosettiMD_MBA) April 13, 2021


Im Gegensatz dazu hier die bis kürzlich geltenden deutschen Regeln:

Meanwhile, Germany declared contacts at schools as "second order contacts" (because of mask usage) which means in case of any detected infection: no(!) further testing, no tracking, no quarantine of anyone except the infected pupil himself + perhaps his/her immediate neighbor) pic.twitter.com/cvaks3vaZi

— epsilon (@epsilon3141) April 13, 2021


Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Und das hat ungefähr so viel mit Taiwans Insellage zu tun wie der Abnehmerfolg mit dem Stoffwechsel. Gerne zitiert, oft unverstanden, selten verantwortlich.

Ich will, dass endlich dieses Corona-Jojo aufhört. Dass die Politik verantwortlich ist. Stattdessen hat sie weitgehend kapituliert und überträgt sämtliche Verantwortung an die einzelnen Bürger*innen und die nachgeordneten Institutionen. Mein Kultusministerium hier in Baden-Württemberg "empfiehlt" etwa den Schulen, die Klasse 13 ab kommender Woche nur noch im Fernunterricht zu beschulen, dass bis zu den Abiturprüfungen im Mai - die in Präsenz und ohne Maske geschrieben werden - sich niemand mehr ansteckt. Ein Risiko, das wegen der parallelen Entscheidung, die Schüler*innen der anderen Klassen wieder einzubestellen, natürlich um ein Vielfaches realer ist. Die Verantwortlichen wissen genau, was sie da tun. Aber sie übernehmen die Verantwortung nicht, sondern lasten sie einfach den Schulen auf. Das ist nur noch widerlich.

Genau dasselbe gilt beim Rest. Es wird so getan, als sei Pandemievorsorge eine reine Privatangelegenheit. Und weil wir uns quasi danebenbenommen haben, werden wir, um in der Analogie zu bleiben, auf Wasser und Brot gesetzt. Ich werde mit Ausgangssperren und Kontaktverboten dafür bestraft, dass die Politik unfähig ist, ein vernünftiges Lockdownkonzept hinzubekommen und seit dem Herbst 2020 nur noch durch die Krise murkst.

Ich habe genug von diesem Blödsinn. Ich habe die Entscheidungsträger*innen gerade nur noch satt. Und das ist keine gesunde Haltung. Weder für mich persönlich, weil mir ständig die Galle hochkommt, wenn das Thema im Bekanntenkreis auf Corona kommt (und wann kommt es das nicht?). Noch für Gesellschaft und die Demokratie, die unter der Inkompetenz, Feigheit und Verantwortungslosigkeit an der Spitze leiden.

Damit dieser Rant wenigstens noch mit etwas Substanziellem endet: Was würde ich mir wünschen?

Ich wünsche mir, dass die Lasten gerecht verteilt werden.

Ich wünsche mir Regeln, die dann auch eingehalten werden.

Ich wünsche mir, dass wir einmal vernünftig alle zusammen für zwei, drei Wochen zusammenstehen, die Arschbacken zusammenkneifen und diese verdammte Infektionskette unterbrechen.

Ich wünsche mir, dass wir danach mit Vernunft und Maß weiter vorgehen und nicht danach, welcher Gruppe man politisch am meisten zumuten kann.

Das kann nicht zu viel verlangt sein.

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