Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Krise einer Zeitgeistpartei
Der Artikel analysiert die aktuelle Lage des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nach der Bundestagswahl 2025. Trotz eines respektablen Ergebnisses von 4,98 Prozent verfehlte die Partei knapp den Einzug in den Bundestag und scheiterte mit einem Antrag auf Neuauszählung. Erfolge und identifizierte politische Leerstellen. Das BSW konnte Wähler aus allen Lagern gewinnen, insbesondere 350.000 frühere Linken-Wähler sowie rund 400.000 Nichtwähler mobilisieren. Der Artikel betont, dass die Partei inhaltliche Lücken in der deutschen Politiklandschaft erkannt hat. Migration: Ein Viertel der Linkspartei-Wähler ist laut Nachwahlbefragungen der Meinung, dass „zu viele Fremde“ ins Land kommen – eine These, die das BSW aufgriff. Außenpolitik: Laut Umfragen unterstützen 46 Prozent der Deutschen keine weitere finanzielle oder militärische Hilfe für die Ukraine – ebenfalls eine Kernposition des BSW. Gesellschaftspolitik: Die Deutschen seien konservativer, als linksliberale Parteien widerspiegeln, aber zugleich wirtschaftlich weiter links als CDU oder FDP. Gründe für das Scheitern. Mangelnde personelle Breite: Neben Wagenknecht und Fabio De Masi fehlten prominente Gesichter. Interne Konflikte: Streitigkeiten in Thüringen und Hamburg warfen Zweifel an der Stabilität der Partei auf. Eingeschränkte Themenvielfalt: Das BSW wurde vor allem mit Außenpolitik assoziiert, während die Linke mit sozialpolitischen Themen wieder Boden gutmachte. Zukunftsperspektiven. Der Artikel stellt die Existenzfrage: Kann sich das BSW langfristig halten? Ohne Bundestagsfraktion, klassische Mitgliederstruktur und Medienpräsenz könnte es schnell an Bedeutung verlieren. Die nächste Chance zur Profilierung bieten die Landtagswahlen 2026. Entscheidend wird sein, ob die Partei ihr inhaltliches und personelles Angebot verbreitern kann. (Jörg Wimalasena, Welt)
Das BSW steht an einer ähnlichen Stelle wie die AfD 2013. Einzug in den Bundestag knapp verpasst, aber damit in einer existenziellen Krise. Ich halte ihre Aussichten für schlechter als die der AfD damals, weil die Bedingungen mit der Person Wagenknechts und den anderen Faktoren aus dem Artikel schlechter sind. Bereits diesen Wahlkampf war die Partei vorrangig ein Medienphänomen. Wo die AfD 2013 eine Leerstelle der Politik belegte (und nein, nicht die Leerstelle, das war damals noch eine andere), ist beim BSW nicht wirklich klar, was das Ding eigentlich ist. Das muss einem Erfolg natürlich nicht zwingend im Weg stehen. Der Punkt ist: die Partei kann theoretisch eine Renaissance erleben und doch noch ein Feature der Parteienlandschaft werden. Das ist aktuell nicht absehbar. Ich kann nur mit Bauchgefühl argumentieren, und das sagt, dass der Laden keine große Zukunft hat. Aber mehr als ein Bauchgefühl ist es nicht.
2) "War economies"? Disentangling the polycrisis from the shadows of the past.
Adam Tooze analysiert in Chartbook 360 die Debatte über eine „Kriegswirtschaft“ in Europa und warnt vor verzerrenden historischen Analogien zur Aufrüstung Nazi-Deutschlands oder den Weltkriegen. Er argumentiert, dass diese Vergleiche übertrieben seien und die tatsächlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas vernebeln. Während klassische Kriegswirtschaften im 20. Jahrhundert eine Mobilisierung von bis zu 40 Prozent des BIP für militärische Zwecke bedeuteten, bewegen sich die heutigen europäischen Verteidigungsausgaben – selbst bei einer Erhöhung auf 3 bis 4 Prozent des BIP – auf einem weit niedrigeren Niveau. Tooze erinnert daran, dass die Bundesrepublik im Kalten Krieg eine bedeutende Militärmacht innerhalb der NATO war und die aktuelle sicherheitspolitische Wende keine historische Anomalie darstellt. Statt alarmistischer Vergleiche fordert er eine rationale Perspektive: keine überzogene Militarisierung, sondern gezielte Industriepolitik und eine ausgewogene Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit. (Adam Tooze, Chartbook)
Dieses Gerede von der "Kriegswirtschaft" in Deutschland ist wahrlich unerträglich. Mich nerven die beiden Extreme dieses Diskurses wirklich nur noch. Auf der einen Seite hat man die Fraktion, die jeder noch so moderaten Kritik an der Ukraine-Unterstützung sofort Putin-Dienerei vorwirft (ich kann den Satz "Putin freut sich" nicht mehr hören, der ist mittlerweile genauso inhaltsleer wie "das stärkt die AfD"), auf der anderen Seite wird eine "Militarisierung" der Republik beklagt, wenn ein Jugendoffizier einmal im Jahr die Klasse 11b besucht. Adam Tooze schafft in dem Artikel eine historisch fundierte Einordnung von Kriegswirtschaft, die wie immer gut und informativ zu lesen ist. Ich kann den Artikel nur empfehlen.
3) Jetzt kommt das AfD-Dilemma mit Wucht zurück
Die AfD beansprucht als zweitstärkste Fraktion im Bundestag Ausschussvorsitze, größere Räumlichkeiten und den Zugang zu Geheiminformationen. Die anderen Parteien stehen vor einem Dilemma: Sollen sie der AfD diese Rechte zugestehen, um demokratische Prinzipien zu wahren, oder sie ihr verweigern, um eine Normalisierung rechtsextremer Tendenzen zu verhindern? Bereits 2021 wurden AfD-Kandidaten für Ausschussvorsitze abgelehnt, was das Bundesverfassungsgericht für zulässig erklärte. Ähnlich umstritten ist die Frage, ob die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung staatliche Gelder erhalten soll. Ein neues Gesetz verschärfte die Voraussetzungen für eine Förderung, doch juristische Unsicherheiten bestehen weiterhin. Zudem wurde die AfD aus dem FC Bundestag ausgeschlossen, ein Berliner Gericht entschied jedoch, dass dies gegen die Satzung verstoße. Die Debatte zeigt, dass der Umgang mit der AfD weiterhin eine zentrale Herausforderung für die deutsche Politik darstellt. (Maria Fiedler/Felix Keßler/Jonas Schaible/Severin Weiland, Spiegel)
Ich halte die Frage nach den Zugängen zu institutioneller Macht für die Rechtsextremisten tatsächlich für das größte Problem, das wir aktuell mit der AfD haben. Dabei geht es mir nicht um den Otto-Wels-Saal, das ist Symbolpolitik. Viel relevanter sind tatsächlich Zugänge zu Informationen, Geldern und Institutionen. Wenn diese unterwandert werden, dann gewinnt die Partei an Mach - und mit ihr verfassungsfeindliche Extremisten, die dann die Demokratie von innen aushöhlen können. Nur: wie man das genau verhindern soll, ist weitgehend unklar. Manche Ressourcen stehen der Partei durch die Wahl in den Bundestag schlicht per Default zur Verfügung. Von anderen, wie der Bundestagsvizepräsidentschaft, kann man sie mit einem demokratischen Konsens abhalten. Und gerade die Ereignisse in Thüringen haben durchaus gezeigt, wie problematisch solche scheinbar irrelevanten Ämter bereits sein können.
4) Merz und die deutsche Umarmungsdemokratie
Der Artikel von Karl-Rudolf Korte analysiert das politische System Deutschlands im Vergleich zu den USA und betont die zentrale Rolle des Kompromisses in der deutschen „Umarmungsdemokratie“. Während in den USA klare Sieger und Verlierer bevorzugt werden, dominiert in Deutschland eine Verhandlungsdemokratie, in der Mehrheiten durch Kompromisse gebildet werden müssen. Dies sichert Stabilität, kann aber auch als Entscheidungshemmnis wirken. Die jüngste Einigung auf eine Grundgesetzänderung zeigt die Funktionsweise dieses Systems: Die politische Mitte, bestehend aus Union, SPD und Grünen, konnte große Widerstände überwinden und eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen. Dieser Mechanismus der „Abwehrkoalition“ funktioniert insbesondere gegen die AfD, die trotz Zugewinnen im Bundestag isoliert bleibt. Korte beschreibt die deutsche Wählerschaft als konservativ-risikoscheu, was sich in der Vorliebe für etablierte Koalitionen zeigt. Die „Große Koalition“ bleibt ein bevorzugtes Modell, da sie Stabilität und Kontinuität bietet. Auch der neue Kanzler Friedrich Merz steht vor der Herausforderung, zwischen entschlossener Führung und konsensfähiger Koalitionsbildung einen Ausgleich zu finden. Ob Merz' Führungsstil – bislang eher autoritär und entscheidungsfreudig – mit den Prinzipien der Verhandlungsdemokratie vereinbar ist, bleibt offen. Die Zukunft der neuen Regierung hängt davon ab, wie gut sie Mehrheiten organisiert und ihre Handlungsfähigkeit bewahrt. (Karl-Rudolf Korte, Spiegel)
Es ist schon irgendwie traurig, dass ein Kernelement eines seit nunmehr 70 Jahren bestehenden parlamentarischen Systems auf diese Art und Weise wieder erklärt werden muss. Ja, Deutschland ist eine Konsensdemokratie. Eine informelle Große Koalition besteht seit praktisch immer, zumindest auf dem Feld, wo die Politik von der Zustimmung des Bundesrats abhängig ist. Das setzt auch die Diskussion aus Fundstück 3) nahtlos fort: gerade hier droht von der AfD die größte Gefahr. Wenn die CDU-Landesverbände Koalitionen mit ihr eingehen, droht eine Blockade im Bundesrat. Und die Konsensdemokratie erfordert eben genau das, Konsens. Nicht über die groben Richtungen der Politik, aber einen Konsens, dass man miteinander Lösungen finden kann. Das ist mit den Rechtsextremisten nicht gegeben. Diese halten sich nicht an demokratische Normen, und nirgendwo ist man in Deutschland abhängiger von sozialen Normen als in dieser Konstruktion der Konsensdemokratie. Werden diese Normen nicht mehr eingehalten, bricht uns der Laden unter den Füßen weg.
5) Mutterschaft ist weiterhin das größte Karriererisiko für Frauen
Das Elterngeld wird angesichts steigender Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur zunehmend hinterfragt. Ökonomen wie Clemens Fuest bezeichnen es als „nice-to-have“ und halten es für verzichtbar. Der Arbeitsmarktforscher Bernd Fitzenberger widerspricht einer Abschaffung jedoch mit Blick auf dessen nachgewiesene Fertilitätseffekte. Besonders Frauen mit mittleren und höheren Qualifikationen hätten seit Einführung des Elterngelds 2007 häufiger Kinder bekommen. Arbeitsmarktpolitisch sei die Wirkung hingegen begrenzt. Zwar nehme die Erwerbstätigkeit von Frauen nach dem ersten Lebensjahr leicht zu, jedoch bleibe die Vollzeiterwerbstätigkeit gering. Das Elterngeld habe „die Teilzeiterwerbstätigkeit von Müttern verfestigt“, die Lücke beim Erwerbseinkommen liege bei 35 Prozent – weit höher als die Lohndifferenz von 16 Prozent. Zudem nutzten Männer das Elterngeld selten über die verpflichtenden zwei Monate hinaus, was die Rückkehr der Mütter in den Beruf verzögere. Eine völlige Abschaffung sei wegen der gesellschaftlichen Akzeptanz und positiven Effekte auf die Geburtenrate nicht sinnvoll. Empfohlen wird stattdessen eine Reform: etwa die Begrenzung der Bezugsdauer je Elternteil auf acht Monate, eine Reform des Ehegattensplittings sowie steuerliche Anreize für schnellere Rückkehr in Vollzeitarbeit. (Bernd Fitzenberger, Spiegel)
Das Elterngeld ist auch ein guter Indikator dafür, wie viel sich in den letzten 20 Jahren bewegt hat. Als von der Leyen es als Familienministerin einführte - eine der großen Leistungen der Merkel-CDU war sicher die gesellschaftspolitische Modernisierung des angestaubten Familienbilds der Konservativen -, war die Debatte noch eine andere, waren die gesellschaftlichen Haltungen noch andere als sie das heute sind. Das Elterngeld ist mittlerweile aus mehreren Gründen etwas veraltet. Einerseits die fehlende Anpassung an die Inflation; durch eine eiskalte Progression wurde das Elterngeld real seit 2007 massiv gekürzt. Andererseits die fehlende arbeitsmarktpolitische Flankierung: es fehlt an Maßnahmen zur Reduzierung des Gender-Work-Gaps. Ich sehe allerdings auch keine Aufbruchsstimmung in diese Richtung; der rechte Backlash verhindert das eher, egal, wie sinnvoll es wäre.
Resterampe
a) Herfried Münkler macht einen geopolitischen Rundumschlag. (Spiegel)
b) Richtiger Kommentar zur Haushaltseinigung. (Spiegel)
c) taz hat mal wieder die passende Überschrift zur Zeit (Twitter).
d) David Matei sehr stabil. (Twitter)
e) Guter Thread zum MAGA-Legitimitätsverlust und seinen Quellen (Bluesky).
f) Die Democrats müssen sich entscheiden (Financial Times).
g) Genau das ist die Gefahr der harten Immigrationspolitik (Twitter).
h) Die Free-Speech-Brigade ist wieder dran. (Twitter)
i) Wenn du unabsichtlich den unausgesprochenen Teil aussprichst. (Twitter)
j) Verbrecher-Vornamen. (Twitter)
k) Wichtige Karte. (Twitter)
l) Annalena Baerbock: Die Welt braucht mehr weiblichen Egoismus. (Spiegel) Die Kirche könnten echt alle zusammen mal im Dorf lassen.
m) Bundestagswahl: Neues Wahlrecht hat CDU kaum benachteiligt (Spiegel).
n) Das Baltikum-Szenario (Welt).
o) Volker Wissing findet, die FDP hat sich zu sehr von den Menschen entfernt (Spiegel). Surprise.
p) Wehrpflicht: Ein Pflichtjahr für alle – auch für die Boomer! (Spiegel) Ich halte weiter nichts von der Pflichtjahridee.
q) Wir hätten uns allen viel erzählen müssen (beimwort) Sehr guter Artikel zu Corona und der Laborthese.
r) Columbia University’s Anti-Semitism Problem (The Atlantic). Echt ätzend.
s) Gute Übersicht zum aktuellen Stand deutscher europapolitischer Positionen (Europäischer Föderalist).
Fertiggestellt am 24.03.2025
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