von Ruprecht Polenz

Vielleicht lesen Sie diese Kolumne mit Blick auf‘s Meer oder die Alpen. Oder sie überlegen, heute Nachmittag mal wieder in die Rieselfelder zu radeln.

Wer weiter weg will in den Ferien, muss sich an den Flughäfen auf einiges gefaßt machen. Die langen Warteschlangen vor der Sicherheitsabfertigung hatten nicht nur mit dem Ansturm zu Ferienbeginn zu tun. Das Sicherheitspersonal wird auch die nächsten Wochen noch fehlen. Selbst wenn es der Bundesregierung gelingen sollte, kurzfristig Fachpersonal aus der Türkei für den Dienst an deutschen Flughäfen zu gewinnen. Es wird nicht reichen, um alle Sicherheitsschleusen zu besetzen.

Überall sind die Stellenpläne auf Kante genäht

Personalmangel herrscht auch in der Gastronomie. Als die Restaurants wegen Corona geschlossen bleiben mußten, haben vor allem viele Teilzeitkräfte dem Gewerbe den Rücken gekehrt und sich einen anderen Job gesucht. Die Konsequenz: mancherorts reduzierte Öffnungszeiten, Abbau von gastronomischen Angeboten.

Auch das Handwerk klagt über Personalmangel. Vor allem Auszubildende fehlen. Nicht nur in den Berufen, die wie Metzger oder das Bauhauptgewerbe schon immer um den Nachwuchs kämpfen mußten. In diesen Tagen wird der sprichwörtliche rote Teppich so ziemlich vor jedem Handwerksbetrieb ausgerollt, um Auszubildende zu gewinnen.

Dazu kommt der schon chronische Mangel an Pflegepersonal und an Erzieher:innen. Wie sehr die Stellenpläne „auf Kante genäht“ sind, zeigt sich jetzt, wo viele an Corona erkrankt sind und länger ausfallen.

Jedes Jahr fehlen mehr beruftstätige Menschen

Sicher, es sind auch ungünstige Arbeitszeiten oder schlechte Bezahlung, die dazu führen, dass zu diesen Bedingungen nicht genügend Mitarbeiter:innen gewonnen werden können. Aber eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen allein wird das grundsätzliche Problem nicht lösen. Denn Deutschland fehlen Menschen. Vor allem berufstätige Menschen. Und das jedes Jahr mehr.

Ab jetzt werden jedes Jahr viel mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden als neu eintreten. Der erwerbstätige Teil der Bevölkerung schrumpft. Es sind die geburtenstarken Jahrgänge (1955 bis 1969), die jetzt in Rente gehen.

Mit 1,36 Millionen Geburten hatte der Babyboom 1964 seinen Höhepunkt erreicht. Zum Vergleich: die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 wurde 2011 mit 663.000 Neugeborenen registriert. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 773.144 Neugeborene.

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/_inhalt.html;jsessionid=251BC22D96C2DD6313B0CA98D149D4C9.live742

Allein 2022 werden über 300.000 Personen mehr in den Ruhestand gehen, als in den Arbeitsmarkt eintreten, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt.

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bis-2030-koennten-fuenf-millionen-fachkraefte-fehlen-a-a9dcf938-2156-4c98-9861-fc08a33c0439?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

Bis zum Jahr 2030 könnten Deutschland deshalb rund fünf Millionen Fachkräfte fehlen.

Unsicherheit erschwert die Integration und die Jobsuche

Auch vor diesem Hintergrund sollten die Veränderungen diskutiert werden, die das Bundeskabinett jetzt für das Aufenthaltsrecht beschlossen hat.

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/Downloads/kabinettsfassung/chancen-aufenthaltsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Ein sog. Chancen-Aufenthaltsrecht soll langjährig Geduldeten die Möglichkeit verschaffen, ein langfristiges Bleiberecht in Deutschland zu erwerben. Wer zum Stichtag 1. Januar 2022 fünf Jahre in Deutschland gelebt hat, nicht straffällig geworden ist und sich zum Grundgesetz bekennt, soll ein Jahr lang einen Aufenthaltstitel bekommen. In dieser Zeit sollen sich die Betroffenen darum kümmern können, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. Dazu gehören Deutschkenntnisse und die Sicherung des Lebensunterhalts. Außerdem muss die Identität geklärt sein.

Damit würde die Praxis der Kettenduldungen beendet, die abgelehnten Asylbewerbern jeweils für drei Monate gewährt werden, wenn tatsächliche Abschiebungshindernisse (zB Krieg im Heimatland) vorliegen. Diese befristeten Duldungen werden zwar immer wieder um weitere drei Monate verlängert. Aber sie schaffen ein Klima der Unsicherheit für die Betroffenen und erschweren die Integration in Deutschland auch in den Fällen, in denen absehbar ist, dass die Abschiebungshindernisse noch lange fortdauern werden.

Ende vergangenen Jahres lebten 242.029 Geduldete in Deutschland, davon 136.605 seit mehr als fünf Jahren.

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/chancen-aufenthaltsrecht-bleiberecht-kabinett-100.html#xtor=CS5-281

Ihre Kinder gehen in die Schule. Die Eltern dürfen arbeiten, wenn sie einige bürokratische Hürden überwinden und trotz der Befristung einen Arbeitsplatz finden. Manche Arbeitgeber schrecken allerdings davor zurück, jemanden einzustellen, wenn nicht klar ist, ob das Aufenthaltsrecht in ein paar Monaten wieder verlängert wird oder nicht.

In meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter hatte ich immer wieder mit Menschen zu tun, die auf einmal abgeschoben werden sollten, obwohl sie seit vielen Jahren in Deutschland gelebt hatten, ihre Kinder gute Schüler:innen waren und die ganze Familie auf eigenen Füßen stand. Manchmal kam sogar ihr Chef mit in meine Sprechstunde, aus Sorge, eine gute Mitarbeiterin oder einen guten Mitarbeiter zu verlieren. Ich habe nie verstanden, wo das öffentliche Interesse an diesen Abschiebungen gelegen haben soll.

Widerstand von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Das soll jetzt mit dem neuen Aufenthaltsrecht geändert werden. Noch gibt es Widerstand von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Ampel schaffe mit dem Gesetzentwurf massive zusätzliche Anreize, illegal nach Deutschland einzuwandern, hat die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz gesagt.

Dem hat der neugewählte hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) widersprochen.

https://www.hessenschau.de/politik/ministerpraesident-widerspricht-bundes-cdu-rhein-unterstuetzt-bleiberechtsinitiative-von-faeser,rhein-faeser-bleiberecht-unterstuetzung-100.html

Er unterstützt die Bleiberechtsinitiative der Bundersregierung. „Es ist totaler Unsinn, solche Leute abzuschieben und es nachher zu bereuen.“ Wenn die Menschen sich integrieren, die Sprache sprechen, sich an die Regeln des Landes halten und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, könne man sagen: „Ja, ihr seid uns hier willkommen, wir brauchen Euch, wir wollen gern mit euch zusammenleben.“

Wenn jetzt auch die neugewählten CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrick Wüst und Daniel Günther sich in gleicher Weise äußern, dürfte auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Meinung überprüfen und das Gesetz bekäme die breite Mehrheit, die es verdient.


Diese Kolumne erschien zuerst in Rums - neuer Lokaljournalismus für Münster

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