Die zehn Gebote dürften ja den meisten bekannt sein, und auch wenn man nicht religiös ist, so kann man denen doch zum Großteil zustimmen. Schließlich sind dort recht universelle Werte verfasst, die eigentlich in jeder Gesellschaft gelten.
Wenn man mal die ersten drei davon außen vor lässt, dann sind das ja eben auch Dinge, die nichts mit Götterverehrung oder Religion zu tun haben: Dass man nicht töten, stehlen und lügen soll, kann man wohl als zivilisatorischen Konsens betrachten, und auch die Partnerschaftstreue findet sich als Wert in den meisten Gesellschaften. Na ja, und gierig auf Sachen zu sein, die jemand anderem gehören, ist auch nur selten gut angesehen.
Soweit, so gut. Nun habe ich allerdings den Eindruck, dass in heutiger Zeit es vor allem noch ein weiteres, elftes Gebot bräuchte, um die Realität besser abzubilden, da dies offenbar für viele Menschen das alle anderen zehn Gebote in den Schatten stellende Prinzip ist:
Du sollst dich nicht erwischen lassen.
Anders kann ich es mir zumindest nicht erklären, dass Menschen immer wieder Dinge machen, von denen sie genau wissen, dass sie falsch sind. Und bei denen es eigentlich auch kaum zwei Meinungen gibt, wenn man die mal anspricht.
Zunächst mal ein etwas triviales Beispiel: Müll in die Gegend schmeißen. Ich glaube kaum, dass es jemanden gibt, der meint, dass es eine gute Sache ist, wenn man seinen Müll einfach irgendwo hinwirft, anstatt ihn in dafür vorgesehenen Behältnissen zu entsorgen. Soweit also der Konsens. Komischerweise liegt allerdings überall irgendwelcher Müll rum, von Verpackungen über Taschentücher oder was weiß ich was. Wie kann das sein, wenn sich doch alle im Grunde einig sind, dass das nichts Erstrebenswertes ist?
Genau da sind wir beim elften Gebot: Es scheint also o. k. zu sein, die eigene Faulheit über den allgemein gültigen gesellschaftlichen Konsens zu stellen, solange man nur nicht dabei ertappt wird.
Egoismus schlägt Gemeinsinn. Leider nicht sonderlich verwunderlich, da wir ja in einem Wirtschaftssystem leben, in dem genau das stets gepredigt und gelebt wird – und das natürlich solche Werte dann auch in die Gesellschaft hineinträgt.
So kommt es dann auch zu noch absurderen Sachen, als einfach nur seinen Müll in die Gegend zu pfeffern: Ich sehe immer wieder, dass Leute Gassibeutel aus den dafür vorgesehenen Spendern, die hier in Rendsburg an verschiedenen Stellen aufgestellt sind, ziehen und dann einfach so in der Landschaft verteilen. Echt jetzt mal, das kann doch nicht ernsthaft irgendjemand gutheißen oder auch nur o. k. finden, oder? Na ja, wird aber trotzdem immer wieder gemacht – solange sich diejenigen nicht erwischen lassen.
Auch beim Thema Gewaltanwendung gibt es ja einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass das nicht in Ordnung ist. Natürlich gibt es auch ein paar wenige Leute, die ganz offen sagen, dass sie es richtig finden, ihre Frau oder ihre Kinder zu verprügeln, aber selbst bei denen findet so was dann eher im Heimlichen statt und nicht in aller Öffentlichkeit. Und das geht ja sogar so weit, dass immer wieder Frauen ihre prügelnden Männer (es sind nun mal in den allermeisten Fällen Männer …) in Schutz nehmen und sich für ihre sichtbaren Verletzungen eine Ausrede einfallen lassen. Eben weil auch sie verinnerlicht haben, dass das eben nicht richtig ist, aber man sich halt nicht erwischen lassen sollte.
Ein anderes Beispiel: Fahrerflucht. Ich schätze mal, dass es auch hier niemanden gibt, der es auch nur ansatzweise richtig findet, wenn man einen Fahrfehler macht und die Konsequenzen davon dann jemand anderen ausbaden lässt. So ein Verhalten ist extrem schäbig und verantwortungslos, sodass sich niemand damit brüsten dürfte. Und dennoch wird das ziemlich oft genau so gemacht, ich selbst wurde davon nicht nur schon einige Male geschädigt, sondern hab das auch mehrfach beobachtet. Auch hier gilt: Die Fahrerflüchtigen machen das nur deshalb, weil sie meinen, damit irgendwie davonzukommen, weil sie wohl niemand gesehen hat.
Nun kann man natürlich sagen, dass dies ja für Kriminelle immer schon galt: sich nicht erwischen zu lassen, wenn man etwas macht, von dem man weiß, dass es nicht nur falsch, sondern eben auch verboten ist. Mittlerweile ist es aber so, dass sich auch Menschen, die sich selbst gar nicht als kriminell ansehen, ganz bewusst andere schädigendes Verhalten an den Tag legen, von dem sie genau wissen, dass das so nicht korrekt ist. Die ganze Cum-Ex-Geschichte ist da so ein Beispiel, was die öffentlichen Kassen (und damit uns alle) etliche Milliarden gekostet hat. Mal ehrlich: Sich Steuern zurückerstatten zu lassen, die man nie gezahlt hat – da kann doch niemand ernsthaft meinen, dass das irgendwie schon o. k. sein wird. Aber wenn man nun die Aussagen der Cum-Ex-Asis so hört, dann stellt man fest, dass da eigentlich kein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist.
Als Krönung wurde dann mit Hanno Berger einer der Drahtzieher dieses Milliardenbetrugs auch noch vom Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (natürlich FDP – was auch sonst?) persönlich anwaltlich betreut im Strafverfahren. Na Mahlzeit …
Und das bewusste Lügen ist ja mittlerweile sowieso immer weiter verbreitet, und das sowohl bei Politikern (z. B. „Ich kann mich nicht erinnern“-Scholz) oder medialen Agitatoren – je weiter rechts, desto schlimmer. Dabei wird auch kaum jemand zustimmen, dass es richtig ist, für einen eigenen Vorteil zu lügen. Wird aber dennoch immer öfter in aller Öffentlichkeit so gemacht – stets unter der Maxime des elften Gebots. Und wenn das dann mal nicht hinhaut und die Lüge entlarvt wurde, dann wird halt weitergelogen – man ist dann eben nur „mausgerutscht“ oder so was …
Ich möchte ja fast behaupte, dass diejenigen, die immer schön von „Leitkultur“ und „unseren Werten“ schwafeln, dieses elfte Gebot damit nicht meinen – obwohl es doch offensichtlich für sehr viele Menschen wie selbstverständlich zum Wertekanon dazugehört.
Was sagt das über eine Gesellschaft aus? Nun, vor allem, dass sie in hohem Maße und weit verbreitet unsozial, egoistisch, rücksichtslos und verlogen ist. Und eben auch reichlich unzivilisiert und rückschrittlich, denn schließlich formulierte Immanuel Kant ja schon vor etwa 240 Jahren: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Tja, dahinter fällt das elfte Gebot wohl reichlich weit zurück. Schon ein ziemliches Armutszeugnis, oder?
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