Angesichts des Endes der kurzen Kanzlerschaft Olaf Scholz' sind Diskussionen über die Bedeutung seiner Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte absehbar. Um aber einschätzen zu können, wo Scholz' Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings Kanzler*innen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich Kanzler*innen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist ein*e Kanzler*in nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer 2020 erschienenen Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersucht. In Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. In Teil 4 war Schröder an der Reihe. In Teil 5 ging es mit Angela Merkel weiter. In Teil 6 schauten wir auf Helmut Schmidt. In Teil 7 war Kurt Georg Kiesinger an der Reihe. Teil 8 befasste sich mit Ludwig Erhard. Den Abschluss der Reihe bilden wir jetzt mit Olaf Scholz. Das gesamte Ranking in einer auf 2025 überarbeiteten Version wird zeitnah veröffentlicht.

Platz 8: Olaf Scholz (2021-2025)

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Von Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=161876816[/caption]

Der Nachfolger Angela Merkels und Kanzler der ersten Ampel-Koalition der Bundesrepublik hatte keine glückliche Amtszeit. Nicht nur übernahm er auf dem Höhepunkt der polarisierenden Coronakrise das Land; kaum im Amt musste seine Regierung, die nach einem überraschenden Wahlsieg auch die eher wenig euphorische FDP umfasste, sich mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine befassen, der sämtliche Pläne und Vorhaben der Koalition zur Makulatur machte. Das Scheitern der Regierung an der Haushaltsfrage sorgte dann für die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner und die Ausrufung von Neuwahlen, die zu gewinnen von Anfang an ein aussichtsloses Projekt war, nicht zuletzt, weil es ohnehin an Koalitionspartnern gefehlt hätte.

Innenpolitik

Die Regierung Scholz setzte den Präzedenzfall, den noch unter Merkel eingeführten Mindestlohn durch eine außerplanmäßige Erhöhung auf 12 Euro den vorgesehenen Kommissionswegen zu entziehen. Praktisch hatte dies recht wenig Konsequenzen, da das ohnehin passiert wäre, aber die Aushebelung der Kommission zeigt deutlich die Illusion auf, dass sich genuin politische Frage entpolitisieren lassen könnten.

Auf Betreiben vor allem der FDP verabschiedete die Regierung das Wachstumschancengesetz, das einige steuerliche Investitionsanreize und Steuererleichterungen beinhaltete, die aber alle recht kleinteilig waren und deswegen keine große Wirkung in irgendeine Richtung entfalten konnten. Ansonsten fällt in das Feld der Wirtschaftspolitik vor allem Scholz' großsprecherische und substanzlose Ankündigung einer "grünen Transformation", die keinerlei Basis besaß. Ähnlich sah es mit dem Bekenntnis Deutschlands, bis 2045 klimaneutral werden zu wollen. Nicht nur gab es hier in der Koalition nie Einigkeit; zudem folgten auch keine Schritte, die dieses Ziel realistisch gemacht hätten.

Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, ein zentrales Anliegen der Koalition, dem die CDU immer im Wege gestanden hatte, wurde als eine der letzten Maßnahmen der Koalition verabschiedet. Sie erleichterte die Einbürgerung und schaffte einige Hürden ab, konnte aber das erklärte Desiderat deutscher Migrationspolitik, die Förderung von Fachkräfteeinwanderung und Begrenzung von Armutsmigration, nicht erreichen. Gleichzeitig verschärfte die Regierung Scholz die Flüchtlingspolitik vor dem Hintergrund zunehmender Messergewalt und forcierte Abschiebungen, auch hier ohne dass dem eine substanzielle Änderung der Politik entgegengestanden hätte.

Eines der größten Reformvorhaben der Regierung war die Vereinheitlichung der Sozialleistungen zum so genannten "Bürgergeld", das die bisherigen Hartz-Gesetze ablöste. Vor allem die umstrittene Sanktionspraxis wurde beseitigt. Gleichzeitig sollte eine "Kindergrundsicherung" geschaffen werden, eines der grünen Kernvorhaben. Letzteres scheiterte vor allem an mangelhaften politischen Fähigkeiten der Familienministerin Paus, während das Bürgergeld durch die sich eindüsternde politische Lage im Gefolge des russischen Angriffskriegs sofort in die Kritik geriet, als Hetze gegen Erwerbslose wieder Ausmaße wie in den 2000er Jahren anzunehmen begann. Als einen Erfolg kann man die Reform auch deswegen kaum werten, weil sie ihr erklärtes Ziel, eine Kosten- und Bürokratiereduktion, nicht erreichte.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine löste durch den Energiepreisschock und die Nachwehen der Lieferkettenstörungen durch die Coronapandemie eine Inflation aus, wie sie Deutschland seit den 1970er Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Regierung reagierte mit einer Reihe von Subventionen darauf (etwa der von der FDP betriebene "Tankrabatt"), stellt jedoch (vor allem unter Federführung von Wirtschaftsminister Habeck) auch die deutschen Gasimporte auf eine Unabhängigkeit von Russland um, um befürchteten Lieferstopps wegen der Unterstützung der Ukraine entgegenzuwirken. Das Resultat war ansehnlich, aber litt unter den üblichen deutschen Krisenstrategien: die Zeitverzögerung zwischen den Energierabatten einerseits (hier war der Tankrabatt wesentlich wirksamer) und der Höhe der Inflation andererseits hinterließ verheerende Unsicherheit, die die Popularität der Ampel im Speziellen und die der Demokratie im Allgemeinen deutlich beschädigte.

Außenpolitik

Noch im Dezember 2021 bekräftigte Scholz Deutschlands Entschluss, die Nordstream-2-Pipeline mit Russland zu bauen. Erst der Angriffskrieg auf die Ukraine änderte diese Haltung, die durch die Sabotageaktion 2023 dann akademisch wurde. Vor allem durch die flexible Arbeit Habecks (siehe oben) konnte eine schnelle Entkopplung von russischen Importen erreicht werden, die gleichwohl höhere Kosten, eine neue Abhängigkeit von den USA und verdeckte Importe aus Russland über Drittstaaten bedeutete.

Die Unterstützungslieferungen an die Ukraine sind ein heiß umstrittenes Feld. Von der anfänglichen Albernheit, 5000 Helme schicken zu wollen, wurde Deutschland zum größten Netto-Sender Europas. In relativen Begriffen blieb die deutsche Unterstützung aber bestenfalls im Mittelfeld, und die desolate Lage der Rüstungsindustrie und Bundeswehr erlaubte es dem Land nicht, in dem Ausmaß Kriegsgerät zu schicken, das erforderlich wäre. Innenpolitische Streitigkeiten, etwa über die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper, bei denen die SPD-Basis in falsch verstandenem Pazifismus blockierte, verhinderten zudem Vieles.

Auch die "Zeitenwende", die Erhöhung des Verteidigungsetats auf 2% durch die Schaffung eines "Sondervermögens", konnte den Erwartungen nicht gerecht werden. Nicht nur war seine Höhe viel zu niedrig und zu begrenzt; die Beschaffung kam unter Scholz auch nicht wirklich in die Gänge. Das ist nur zu Teilen ihm und Verteidigungsminister Pistorius anzulasten, weil die desolaten Beschaffungsstrukturen bereits vorher existierten und vor allem der Merkel-Ära, aber auch zu kleineren Teilen Kohl und Schröder zugerechnet werden müssen. Gleichwohl konnte eine deutliche Trendwende erreicht werden, auch wenn der Trend sich arg langfristig abzeichnet.

Die Umsetzung der "feministischen Außenpolitik", die Außenministerin Baerbock (Grüne) der Koalition auf die Fahnen geschrieben hatte, führte in der Praxis zu einer Kakophonie. Das Kanzleramt, in dem spätestens seit Merkel die Grundsatzentscheidungen der Außenpolitik getroffen werden, kommunizierte oft anders als das Auswärtige Amt (und umgekehrt). Baerbocks offene Kritik an Menschenrechtsverstößen führte außerdem zu Verstimmungen mit Handelspartnern Deutschlands, kann aber auch umgekehrt als ehrlichere Haltung gesehen werden.

Nicht gegangene Wege

Auf dem Feld der Sozial- und Familienpolitik plante die Koalition eine Reform des Rentensystems und der Abtreibungsregeln, die wegen des Bruchs der Koalition beide nicht mehr zustande kamen. Man kann nicht behaupten, dass beides große Würfe gewesen wären: das Rentenpaket II hätte das Niveau auf 48% festgeschrieben und damit den Transfer zu den Rentner*innen zementiert, ohne das grundsätzliche Problem des niedrigen Sicherungsniveaus oder der Finanzierung anzugehen, während der Abtreibungskompromiss immer noch merkwürdige Fristen und das verpflichtende Beratungsgespräch beinhaltet hätte, aber die Abtreibung immerhin KV-tauglich gemacht hätte.

Da keine Einigkeit mit den Grünen erzielt werden konnte, gingen unter der Regierung Scholz die letzten drei Atomkraftwerke planmäßig vom Netz. Es bleibt umstritten, inwieweit eine erneute Aussetzung des Atomausstiegs überhaupt praktikabel gewesen wäre oder ob gar der Wiedereinstieg in die Nuklearenergie möglich gewesen wäre; dies wird eine Regierung Merz nun ausloten können.

Bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine hatte die Scholz-Regierung wenig Zeit, eine grundlegende Wende einzuleiten. Die folgende Zeitenwende war ohne die Mitarbeit der CDU - die außerhalb einer Koalition in dem Umfang nicht zu erwarten war - und eine grundlegende Umorientierung der FDP nicht vorstellbar. Letztere war dazu allerdings nicht bereit.

Wie vorstellbar eine bessere Version des Bürgergelds und der Kindergrundsicherung wäre, ist schwer zu sagen. Hierfür hätten die beteiligten Parteien einander wesentlich mehr Raum geben und ihre Wünsche besser koordinieren müssen. Stattdessen blieb die Arbeit den einzelnen Ministerien überlassen, wo Hubertus Heil wesentlich erfolgreicher agieren konnte als Lisa Paus, deren Kindergrundsicherung am Ende das ungeliebte und unverteidigte Koalitionskind war.

Der angestrebten Modernisierung, Entbürokratisierung und Digitalisierung, die sich vor allem die FDP auf die Fahnen geschrieben hatte, fehlte ein politisches Grundsatzprogramm, das diese Forderungen unterfüttert hätte. Weder für Bürgergeld noch Kindergrundsicherung gab es bei den Liberalen je viel Liebe, die diese mehr aus koalitionstaktischer Loyalität mittrugen als mitgestalteten (hauptsächlich im Austausch gegen das Wachstumschancengesetz), noch gab es große Initiativen aus eigenem Antrieb. Ein verstärktes Investitionsprogramm in den Glasfaserausbau etwa oder ein konzentrierter Schub bei der Bildungspolitik hätten Aushängeschilder der Liberalen werden können. Auch diese können wohl als Opfer der Prioritätenverschiebung durch Putins Angriffskrieg gewertet werden.

Insgesamt ist das größte "was wäre, wenn" der Koalition die Frage, ob die Koalition sich hätte so zerstreiten müssen, wie sie es schlussendlich tat, oder ob das Potenzial für Kompromisse gegeben gewesen wäre. Ohne Putins Angriffskrieg hätten die Spielräume wohl sehr anders ausgesehen. Der Streit um den Nachtragshaushalt allerdings hätte es, ebenso wie das BVerfG-Urteil, trotzdem gegeben. Diese waren Altlasten aus der Corona-Zeit, und die mangelnde Kompromissfähigkeit auf diesem Gebiet war wohl von Anfang der Pferdefuß von Scholz' Regierung, auch wenn dies 2021 noch nicht absehbar war.

Insgesamt muss Scholz damit bescheinigt werden, ein erfolgloser Kanzler gewesen zu sein. Dass er nicht den letzten Platz dieses Ranking einnimmt, liegt vor allem daran, dass sein Scheitern konsequenzenreicher war als das Ludwig Erhards, der den letzten Platz einnimmt (und wohl auf absehbare Zeit einnehmen wird). Insgesamt aber war Scholz' Kanzlerschaft zu kurz, als dass sie so große Schäden hätte hinterlassen können wie Merkels, und trotz allem zu ambitioniert, um gänzlich ergebnisfrei zu bleiben.

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