Die Anzeige in der hiesigen Zeitung hatte eine Riesenresonanz. Auf was hatte sich Rita Gümmelmann-Bartholdy bloß eingelassen.
Als Pfarrgemeinderatsmitglied hatte man ihr das diesjährige Krippenspiel anvertraut.
Die Grundschullehrerin ließ sich breitschlagen dieses Spektakel auf die Beine zu stellen. Sie kenne sich ja am besten mit Kindern aus, so die allgemeine Meinung.
Die alte Frau Rübsam hatte bislang das Krippenspiel über zwanzig Jahre geleitet, doch mit jetzt Neunundachtzig Jahren meinte sie, sei es Zeit diese ehrenvolle und künstlerisch wertvolle Arbeit in jüngere Hände zu legen. Also kam man auf Rita Gümmelmann-Bartholdy. Und Rita Gümmelmann-Bartholdy willigte ein, unter der Voraussetzung, dass sie uneingeschränkte Kompetenz erhielt und man ihr nicht reinredete.
Und eine unumstößliche Bedingung stellte sie. "Keine Kinder!" Der Pfarrgemeinderat war entsetzt. "Aber liebe Frau Gümmelmann-Bartholdy", versuchte der Pfarrer, sie zu überreden, "Seit Jahren spielen es doch unsere Kleinsten und sind mit Spaß bei der Sache!" Andere Gemeinderatsmitglieder, sprangen dem Pfarrer zur Seite. Die Argumente, Bitten und flehenden Appelle prasselten auf Rita Gümmelmann-Bartholdy ein. Man hörte: "Die Kinder haben das immer so süß gemacht. -- das ist doch Tradition-- Krippenspiel ohne Kinder ist undenkbar – Meine Tochter muss Maria spielen!"
Selbst der Organist brachte sich gewichtig in die Diskussion ein. "Beim Auftreten des Erzengel Gabriel musste ich immer weinen", brach es aus ihm raus. Alle konnten sich noch an letztes Jahr erinnern, wo er fast die Orgel überflutet hätte, beim Auftritt des Erzengels, seinem siebenjährigen Sohn. „Nie habe ich ein Inbrünstigeres: - - Euch ist ein Kind geboren-gehört!", meinte er mit zitternder Stimme und die Erinnerung an diese Sternstunde darstellender Schauspielkunst übermannte ihn so sehr, dass er seiner Tränenflüssigkeit freien Lauf ließ.
Die zweite Ersatzschriftführerin reichte ihm ein Taschentuch und empörte sich:"Da sehen sie, Frau Gümmelmann-Bartholdy, was sie angerichtet haben. In unserer Ratssitzung hat noch nie jemand geweint." Ihre Stimme bebte vor Erregung. Rita Gümmelmann-Bartholdy fühlte sich zunehmend in eine Ecke gedrückt.
Gegen Tränen war schwer anzukämpfen. Sie sah nur noch eine einzige Chance einen bevorstehenden Aufstand oder einer drohenden Exkommunizierung zu entgehen. Denn sie sah in die hasserfüllten Augen ihrer Pfarrgemeinderatskollegen. "Dann solls halt jemand anderes machen!", sagte sie entschlossen. Das saß! Die Bombe die sie gezündet, schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Der Hass war schlagartig verschwunden. Jetzt spürte man Panik, Entsetzen, Verzweiflung und Angst. Jeder im Raum wusste, wenn Rita Gümmelmann-Bartholdy es nicht macht, dann ist einer von ihnen dran.
Und das galt es unter allen Umständen zu verhindern. Denn mit Kindern zu arbeiten ... eine grauenvolle Vorstellung. Wochenlanges Textlernen mit den lieben Kleinen, eine Sisyphusarbeit. Die Rollenverteilung, ein wochenlanger zermürbender Kampf mit den Eltern. Drohungen mit Kirchenaustritt, wenn ihre Tochter nicht Maria spielt. Der Chor der Engel wollte kollektiv konvertieren, wenn sie nicht Pailletten an ihre Kostüme bekämen.
Die Erinnerung an den siebentägigen Hungerstreik des Organisten, der nur abgewendet wurde, mit der Zusage, dass sein Sohn diesen verdammten Erzengel spielen dürfte. Was heißt "spielen!" Das Blag stand versteinert da und stammelte kaum vernehmlich: "Euch ist Kind gekommen ...." Ein Satz .... nur ein Satz, den er sich merken musste ... und was macht das Gör ... es versaut ihn ... ausgerechnet den Schlusssatz ... sozusagen der Höhepunkt des Krippenspiels. Und sein Vater heulte Rotz und Wasser. ... vor Rührung.
Jeder hatte noch das Bild der alten Frau Rübsam vor Augen, wie sie gestützt von zwei Pflegern, ausgemergelt und am Ende ihrer Kraft, letztes Jahr zur Generalprobe erschien. Ein erschütternder Anblick. Die Premiere konnte sie nur mit letzter Kraft über sich ergehen lassen.
Anlässlich ihrer Trauerfeier wurde das Krippenspiel noch einmal am offenen Sarg dargebracht, als letzten Gruß. In der Trauerrede sagte der Pfarrer: "Sie lebte für das Krippenspiel!" Aber jeder wusste, sie starb wegen des Krippenspiels.
Allen fiel ein Stein vom Herzen, als Rita Gümmelmann-Bartholdy, per Losentscheid für die Leitung verpflichtet wurde. Sie zog die "Niete" und hatte damit das Krippenspiel gewonnen. Als faire Verlierer kondolierten ihr alle.
Aber jetzt hing das Damoklesschwert über dem gesamten Pfarrgemeinderat. Mit einem Male änderte sich die Stimmung.
Rita Gümmelmann-Bartholdy bekam plötzlich uneingeschränkte Zustimmung.
"Krippenspiel ohne Kinder ... eine tolle Idee!---Maria und Josef sind ja schließlich Erwachsene ... Ein neuer Ansatz für die Inszenierung ... ungeahnte Möglichkeiten ... Man würde ja dann auch die Texte mal verstehen ...." Selbst der Organist räumte ein, dass sein Sohn den Text nicht werkgetreu wiedergegeben hätte, und die Textmenge wohl überschätzt hätte. Man versprach an Eides statt Rita Gümmelmann-Bartholdy absolut freie Hand zu lassen, keine Einmischung in die Inszenierung und wünschte ihr "Toi, toi, toi" für ihre große bedeutende Aufgabe. Froh und glücklich, der Hölle entgangen zu sein, strömten alle eiligst in die Nacht hinaus. Nur der Organist blieb mit dem Pfarrer zurück und bat ihn, ihm noch schnell die Beichte abzunehmen. Trotz großem Verständnis für seine Sünde, seitens des Pfarrers, wurde er mit zwei "Vater unser" sowie drei "Gegrüßet seist du Maria" aus dem Beichtstuhl entlassen, für die Sünde, nach dem letzten Krippenspiel seinen Sohn gezüchtigt zu haben.
Zwei Tage später stand eine große Anzeige in der Tageszeitung!
Gesucht werden professionelle Schauspiel- und Gesangserfahrene Darsteller für das alljährliche Krippenspiel. In diesem Jahr wird die berühmte Weihnachtsgeschichte erstmals als Musical aufgeführt. Gesucht werden nur Erwachsene! Das Casting findet am kommenden Samstag um 14,00 Uhr im Gemeindehaus statt. Bereiten sie zwei Vorsprechrollen sowie einen Song vor.
Rita Gümmelmann-Bartholdy
Festspielleitung
Hätte Rita Gümmelmann-Bartholdy auch nur ansatzweise geahnt, welche Invasion vermeintlich Hochbegabter, angeblich hochprofessioneller Schauspielgrößen da auf sie zukämen, sie hätte sich sofort freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet oder wäre zumindest mit unbekanntem Ziel verzogen. Nun stand sie aber vor einhundertsechsunddreißig potenziellen Marias, Josefs Schäfern, Erzengeln, Königen und Herbergsvätern. Einige erschienen sogar in Ochs- und Eselkostümen.
Allein vierundzwanzig Mariaanwärterinnen waren dabei. Sogar zwei Männer bewarben sich um diese Rolle. Ihre aufgeklebten Wimpern klimperten hoffnungsfroh Rita Gümmelmann-Bartholdy an, in der Hoffnung, in ihren Paillettenkleidchen, einem Hauch von Nichts, zu überzeugen. Diese Kleidchen waren wie Wasser. Durchsichtig und geschmacklos. Eine ehemalige Sopranistin, in ein Bettlaken gehüllt, schmetterte eine Arie nach der anderen raus.
Andere Damen, versuchten, mit Sex zu punkten. Die Blusen bis zum Bauchnabel geöffnet.
Rita Gümmelmann-Bartholdy sah sich im Kreis ihrer "Schauspieler" um. Neben ihr, auf einen Wischmob gestützt, stand Poljuschka Polskaia, die polnische Reinigungskraft der Gemeinde und murmelte vor sich hin: "Wird Katastrophe .... Wenn das seien Mütter von Jesus .... dann Katastrophe groß!"
Rita Gümmelmann-Bartholdy blieb nichts anderes übrig als auszusieben. Zunächst flogen die beiden Herren in Damenkleidung raus. Damit sie nicht als intolerant gelten würde, bot sie den beiden Ochs und Esel an, wenn sie sich von ihren Kleidern trennen würden. Sie willigten ein, unter der Bedingung, wenigstens die Wimpern tragen zu dürfen, als Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Zudem wurde ihnen ein kleines Duett zugestanden. Rita-Gümmelmann-Bartholdy hatte es eigens für sie geschrieben.
"Wir sind der Esel und der Ochs.
Steh`n neben Jesus in der Box.
Wir waren früher Heiden,
als wir noch auf der Weiden."
Die Wiederholung des Refrain`s sollte von der ganzen Gemeinde mitgesungen werden.
Da die Konzeption für das Musical vorsah, dass die Rolle der Maria im Mittelpunkt stehen sollte und mehrere Monologe und Songs hatte, konnten alle anderen Rollen schnell besetzt werden. Das "Maria-Casting" begann mit dem Vorsingen. Allein Siebzehnmal musste Rita Gümmelmann-Bartholdy sich "Maria" aus der Westside Story anhören und achtmal "Hello Dolly".
Nach reiflicher Überlegung erhielten alle "Hello Dolly" Sängerinnen Schafrollen. Eine der Darstellerinnen meckerte, sie wolle eine Solopartie.
Kurzerhand wurde ihr eine "Ziegenrolle" zugesprochen.
Die Rolle einer meckernden Ziege war ihr wirklich auf den Leib geschriebenen. Da hätten Nichtmal die Kritiker was zu meckern. Zwei Marias waren nach einem gnadenlosen Kampf übrig geblieben. Da zu diesem Zeitpunkt Rita Gümmelmann-Bartholdy bereits in ärztlicher Betreuung befand, entschied sie auf einer Bahre liegend und an einem Tropf hängend, dass sie die "Maria" Rolle eben aufteilen wird. Eine Maria für die Monologe und eine andere für die Songs.
An deutschen Theatern gilt so was als innovativ und cleverer Schachzug der Regie. Da sieht man schon mal sieben Mephistos auf einen Faust einreden, der gerne von einer Rapperin dargestellt wird. Gretchen als an eine im Rollstuhlgefesselte Greisin und in Auerbachs Keller sind natürlich alle nackt. Das Nichtvorhandende Bühnenbild wird von einer Pantomimengruppe dargestellt und alle leuchten sich, als einzige Lichtquelle, gegenseitig mit Taschenlampen an. Wenn das hochsubventionierte deutsche Theater so ungestraft mit Goethe umgehen darf, dann kann man auch mit zwei Marias arbeiten.
Natürlich wurden die Proben auch pressemäßig begleitet. In ausführlichen Berichten wurden beide Marias so der Gemeinde vorgestellt:
Mortisha und die Reduktion der Relevanz – ein psychodelisches Schauspieltraining
Eine Analyse von Prof. Dr. dipl. Psych. Co. KG. De. pp. en. Magister Artium, Jörn van Husen, Wirtschaftsredakteur
Beate Bleichhausen, Theaterpädagogin, Theaterwissenschaftlerin und selbst ernannter Musicalstar.
Sie selbst nennt sich "Mortisha". Das Ensemble nur "Die Wahnsinnige". Mit ihrem Blick, dem nicht einmal Stevie Wonder standhalten würde, hat sie eine Rolle in dem Krippenspiel-Musical, geradezu "erblickt". Gegen sie ist Medusa ein unschuldiges Mädchen. Ganz in Schwarz gekleidet, als Ausdruck ihrer Seele, kam sie zur Kostümprobe und weigerte sich vehement etwas anderes als Schwarz zu tragen. Man einigte sich schließlich, aus Angst vor den in den Raum geworfenen pseudosatanistischen Flüchen. Nur ihre rosa Perücke behielt sie auf und weigerte sich diese abzusetzen. „Es ist der Ausdruck meiner kreativen Menschwerdung als Akt der pseudowissenschaftlichen Reduktion und Rekonvaleszenzphase einer Rückführung in die Sphären meines früheren Daseins“. Dagegen war nichts zu sagen! Sie bestand auch darauf, vor den eigentlichen Proben ein Training mit allen zu machen. Selbst die Schneiderin und die kaufmännische. Geschäftsleitung mussten mitmachen. Die Bühne hatte sie allmorgendlich erst einmal mit einem abgenagten Hühnerknochen ausgesegnet und mit einem schamanischen Nackttanz von allen bösen Geistern befreit.
Mit Räucherstäbchen wirbelte sie unentwegt durch den Raum, dass alle zehn Minuten die Rauchmelder angingen.
Sie hielt es für den Stoßseufzer Satans, den sie mit Blutstropfen des Regisseurs, als Inbegriff des Bösen, täglich mehrmals abzapfte, mit einem gezielten Biss. Es besteht nun die dringende Befürchtung, dass es eine blutleere Inszenierung wird.
Ihr Training begann damit, dass sich alle auf den Boden legen mussten.
Nach etwa zwei Stunden sprach sie: „Schaut in euer Innerstes. Lasst eure Gedanken durch den Körper strömen. Fühlt den Atem in eurem kleinen Finger ... Führt den Atem vom kleinen Finger ... OMM den Arm ... über die Schulter ... OMM die Speiseröhre runter ... durch den Zwölffingerdarm ... OMM lasst dann los ... und fühlt eurem Atem auch außerhalb des Körpers nach“.
Eines habe ich bei diesem Schauspieltraining nicht verstanden. Warum musste es nachts um Mitternacht stattfinden? Und warum unbedingt auf dem Zentralfriedhof?
Ach ja, das Geheimnis ihrer Perücke konnte dann doch noch gelüftet werden. Sie hat eine Glatze. Ein Gendefekt. Nicht ihr Einziger!
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Auch über die zweite Mariadarstellerin wurde in der örtlichen Zeitung berichtet.
In einer abgründigen Hintergrundgeschichte, beleuchtete Elisabeth Klöve-Elvekorn, Leiterin Ressort "Todesanzeigen", das Privatleben der zweiten Maria.
Von Edeka auf die Musicalbühne – eine Erfolgsstory
Sie hat 3 Kinder (eineiige Drillinge), sie heißen alle Chantalle, außer Jaqueline, die heißt Gerda; einen tibetanischen Hirtenhund mit Wachstumsstörungen und einem leichten Rechtsdrall beim Gassi gehen und einen unterstützenden Ehemann. Ihr Mann, ein erfolgreicher und erfahrener Hartz IV Empfänger, kümmert sich von der Couch aus um sämtliche Familien- und Haushaltsentscheidungen. Er unterstützt seine Frau durch klare Ansagen wie z.B.: "Hol mir Bier" – "Ist das Essen fertig". – "Sex jetzt, aber flott!"
Hier lebt noch das alte Rollenbild einer glücklichen Familie. Sie macht die täglichen Aufgaben und er erklärt ihr abends, bei Dosenbier, in gemütlicher Zweisamkeit, die politischen Zusammenhänge. Sie ist stolz auf ihren Mann, der stets alles besser weiß, als diese Politiker, die sie aus dem Fernseher kennt. Während er auf "Die da oben" schimpft, hängt sie ihm wissbegierig an den Lippen und am Ende seiner Rundumschläge gegen Merkel und Co. sagt sie stets "Ja Schatz". Diese Ehe ist wahrlich von Harmonie geprägt. Ein Beispiel für uns alle. Die deutsche Hausfrau, die fleißig und emsig sich um ihre Liebsten kümmert, die Tag ein – Tag aus, Bierdosen aus dem Supermarkt holt und am nächsten das Leergut zurückbringt. Kein öffentlicher Mülleimer ist vor ihr sicher. Sie nimmt jede Dose und Flasche aus dem tiefen dunklen Schlund öffentlicher Entsorgungsbehälter mit. So verdient sie sich ein kleines Zubrot. Dies gibt sie abends ihrer "Regierung", so nennt sie voller Respekt ihren Mann, dankbar ab, denn er hatte die Idee für das Einsammeln.
Jeden Samstagabend aber erwacht in ihr die Leidenschaft. Nachdem die Kinder gebadet wurden, ihr Mann den ihm zustehenden Beischlaf bekommen hat, kommt der große Moment. Sie darf die Karaoke-Anlage aufbauen und dann singt sie ein Lied nach dem anderen. Andrea Berg, Helene Fischer und Beatrice Egli. Sie kennt alle diese Lieder. Sie singt sie voller Inbrunst und Sinnlichkeit. Aber alles ganz leise, denn nebenan schläft ihr Mann bereits. Und so endet für jeden von ihnen der Samstagabend in einem Rausch. Sie, im Rausch der Gefühle, er im Rausch des Alkohols. Eben eine ganz normale Familie. Ihren Namen durfte ich nicht erfahren. Lediglich vermuten kann ich ihn. Meist wird sie "Hol mal" gerufen!
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Nach diesen beiden zu herzengehenden Zeitungsberichten entschied die Chefredaktion, keine weiteren Berichte zu veröffentlichen. Die beiden Journalisten wurden versetzt und arbeiten jetzt für die Bäckerblume, um weiteren Schaden zu verhindern. Lediglich RTL schickte Vera Int Veen, in der Hoffnung, eine der beiden Marias für "Schwiegertochter gesucht" zu gewinnen. Einzig das Lied vom "Ochs und Esel" hat gute Chancen bekannt zu werden. In der ARD-Stadelshow soll es von DJ Ötzi und Florian Silbereisen gesungen werden.
Die Proben zum Krippenspiel zogen sich hin. Rita Gümmelmann-Bartholdy versuchte alles, um aus diesen Pseudoschauspielern ein gutes Ensemble zu schweißen, um wenigstens halbwegs ohne Gesichtsverlust die Premiere zu überstehen.
Nach jeder Probe zündete sie eine Kerze in der Kirche an. Am liebsten hätte sie die ganze Kirche angezündet, nur ihr bröckelnder Glaube hielt sie davon ab. Dann kniete sie sich vor den Altar und rief gen Himmel aus: "Herr, du hast sie mir gegeben ... aber wenn du sie lieber hast ... Dein Wille geschehe."
Ihre Verzweiflung ging sogar so weit, dass sie sich die Kinder wieder herbeisehnte.
Dann kam der Tag der Premiere. Rita Gümmelmann-Bartholdy hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie hatte sich im Badezimmer eingeschlossen und weigerte sich rauszukommen. Ihr Mann redete mit Engelszungen auf sie ein. Der ganze Pfarrgemeinderat, den ihr Mann eiligst herbeigerufen hatte, stand im Flur und betete.
Der Pfarrer, der die ganze Zeit durchs Badezimmerschlüsselloch schaute, versicherte ihr, egal wie es auch wird, an Exkommunizierung sei überhaupt nicht zu denken.
Nach fünf Stunden öffnete sich endlich die Badezimmertür. Rita Gümmelmann-Bartholdy erschien völlig verheult. Ihr Mann nahm sie in seinen Arm und stützte sie bei ihrem schweren Gang nach Canossa. Der Pfarrer und der gesamte Pfarrgemeinderat folgten in einer andächtigen Prozession Richtung Kirche.
Vor der Kirche blieb Rita Gümmelmann-Bartholdy plötzlich stehen und scheute wie ein Pferd vorm Wassergraben. Nichts konnte sie bewegen auch nur einen Schritt in die Kirche zu setzen. Aber jetzt zeigte sich der Pfarrgemeinderat als "eine Einheit".
In einer gemeinsamen solidarischen Kraftanstrengung trugen sie Rita Gümmelmann-Bartholdy auf ihren Schultern durch das Kirchenschiff, vorbei an der ganzen Gemeinde, in die Sakristei, von wo sie dem grausamen Schauspiel zuhören musste. Wenigstens blieb ihr das Ansehen erspart, aber das Zuhören reichte ihr auch schon.
Man glaubt nicht, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann. Jeder falsche Ton, jeder Textpatzer waren ein Nadelstich in ihre Künstlerseele. "Irgendwann muss doch endlich das Finale sein", dachte sie zitternd und weinend, liegend im Schoß ihres Mannes. Aber es zog sich und zog sich.
Wie meinte eins ein berühmter Theaterkritiker: "Als ich nach zwei Stunden auf die Uhr sah, waren zehn Minuten vorüber." Der einzige schwache Trost für Rita Gümmelmann-Bartholdy war, dass die ganze Gemeinde mitlitt. Das war unschwer zu hören, denn ein murrender Klangteppich drang durch die ganze Kirche. Endlich war es soweit. Der Erzengel erschien, gespielt von Poljuschka Polskaia, der polnischen Reinigungsfachkraft, die nur den Schlusssatz zu sagen hatte.
Rita Gümmelmann-Bartholdy horchte auf. Wie würde die Gemeinde reagieren. Sie hörte keinen Applaus. Nur gespenstische Stille. In diese Stille hinein hörte sie den Pfarrer sprechen.
"Liebe Gemeinde, wir haben heute einem einmaligen Experiment beigewohnt. Und ich möchte allen Darstellern von Herzen danken." Ob es wohl jemals eine größere Lüge in einer Kirche gab? Und er fuhr fort: "Einer Frau müssen wir alle dankbar sein, denn sie hat ihre ganze Kraft für dieses Krippenspiel aufgebraucht. Ein großer Applaus bitte für die Regisseurin, Autorin und Komponistin Rita Gümmelmann-Bartholdy." Mit zaghaften Schritten und einem aufgesetzten Lächeln stellte sich Rita Gümmelmann-Bartholdy der Inquisition. Es setzte ein großer Jubel ein. Sei es nun aus Mitgefühl oder aus christlicher Nächstenliebe, jedenfalls tobte und trampelte die Gemeinde.
Rita Gümmelmann-Bartholdy stand nun in der Mitte ihrer Darsteller, verbeugte sich lächelnd und dachte nur: "Lächle, denn du kannst sie nicht alle töten."
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