Es sollte ein ganz großer Abend werden. Die Honoratioren der Stadt hat sich in Schale geworfen. Die Damen der feinen Gesellschaft trugen die Diamanten, Perlen und Goldgeschmeide auf, die ihre Ehemänner ihnen zu verschiedenen Ereignissen geschenkt hatten. Weihnachten, Geburtstage und Seitensprünge. Besonders Letzteres schlug ins Kontor, um die Frauen zu besänftigen. So manch kleines Eigenheim hing nun an ihnen und lenkten vom Gesicht ab. Dazu natürlich die passende elegante Abendgarderobe, die zum Teil tief dekolletiert, vom Stoff ausgespart war. Die gebeutelten Ehemänner in Smoking oder Frack.
Eine Theaterpremiere ist eben ein gesellschaftliches Ereignis, selbst in der tiefsten Provinz. Klein-Krötzingen ist sicher nicht der Nabel der überregionalen Feuilletons, was auch die Abwesenheit eines bedeutenden Kritikers erklärte.
Dafür schickte die Redaktion des Klein-Krötzinger Bergboten ihren besten Mann. In diesem Fall war der beste Mann eine Frau. Eigentlich war sie nur die Ehefrau des Chefredakteurs, aber ihr Mann besaß keinen Smoking, weshalb er die Frau entsandte, die ein festliches Abendkleid besaß. Das große Event fand im Gasthaus zur gefällten Linde statt, wo im Festsaal die örtlichen Landfrauen heute Spektakuläres aufführen wollten. Marga Riemenschneider, Metzgersgattin und Regisseurin der Truppe, hatte einen Klassiker auf den Spielplan gesetzt. Sie selbst übernahm zudem die Hauptrolle, da in der Gruppe der Darstellerinnen sich niemand befand, der vom Alter her der Rolle gerecht werden konnte, wie Frau Riemenschneider ihre Wahl erklärte. Mit Minna von Barnhelm hatte sie ein Stück ausgesucht, was ihr Lessing, so ihre Meinung, direkt auf den Leib geschrieben habe. Mit ihren knapp sechzig Jahren war sie zudem die Jüngste unter den Mitspielerinnen.
Männer gab es in der Laienspielschar laut Vereinsstatut zwar nicht, dafür umso mehr männliche Rollen bei Lessing. Eine Herausforderung für die Maskenbildnerin, die sich gezwungen sah, mit Perücken und falschen Bärten zu arbeiten.
Sämtliche Brüste der Damen, die Männer spielen mussten, wurden abgebunden, damit der optische Eindruck von Männlichkeit entstehen würde. Monatelang hatten sie für diesen einen Tag hingefiebert und hin geprobt. Manche Träne, diverse Nervenzusammenbrüche und Wutanfällen von Frau Riemenschneider zum Trotz, fand heute nun endlich das große Ereignis statt.
Hinter dem Vorhang lauschten die nervösen und aufgeschreckten Darstellerinnen dem Gemurmel im Saal. Major von Tellheim kam gerade aus der Damentoilette, wo er sich übergeben hatte.
Frau Friese, die pensionierte Dorfschullehrerin war so aufgeregt, weil sie als Höhepunkt der Inszenierung, heute am Ende der Aufführung, Frau Riemenschneider küssen musste. „Leidenschaftlich und mit Zunge“, so stand es im Regiebuch. Es war eine sehr freie Interpretation Frau Riemenschneiders, die so bei Lessing nicht zu finden ist.
Bei Lessing wurde nicht geknutscht, was der Zeit geschuldet war. Damals wurden noch alle Rollen von Männern gespielt. Zwei sich küssende Männer wäre ein Skandal gewesen. Und genau darauf legte es das Regiekonzept von Frau Riemenschneider an. Sie wollte einen ungeheuren Skandal provozieren. Und der Plan war nicht ganz uneigennützig, hatte sie doch seit Langem ein Auge auf Frau Friese geworfen. Im Grunde schon seit ihrer Schulzeit. Jetzt nutzte sie die Kunst schamlos aus, um sich an ihr zu vergehen. Unter den Darstellerinnen war nicht unbemerkt geblieben, dass vermehrt das Ende des fünften Aktes auf dem Probenplan angesetzt war. Ausgiebig wurde die Kussszene immer und immer wieder probiert. Doch Frau Riemenschneider war mit der Ausführung lange nicht zufrieden. Selbst eine aufgesprungene Lippe von Frau Friese konnte sie nicht daran hindern, die Szene immer wieder proben zu lassen.
„Kunst muss auch wehtun.“, sagte sie dann immer.
Wenn das stimmte, dann war Frau Friese eine große Künstlerin.
Eine, die unter einer enormen Doppelbelastung litt, war Saomalai, die thailändisch eingeheiratete Wirtin. Einerseits kümmerte sie sich um den Sektausschank, andererseits spielte sie eine entscheidende Rolle in dem Stück. Ihr Part als Graf von Bruchsall, der Oheim Minnas, trat erst im fünften Akt auf und war wegen der schlechten Aussprache von Saomalai, nur auf einen Satz zusammengestrichen worden.
Eigentlich wollte Frau Riemenschneider sie umbesetzen, aber dann hätten sie den Saal nicht bekommen. Sehr zum Ärger von Frau Riemenschneider bediente Saomalai bereits die Gäste in ihrem Kostüm und verriet bei jedem Glas Sekt bereits ihren Satz.
„Komm, Minna! Kommen Sie, Herr Major!“, sagen ich, erwähnte sie bei jeder Bestellung.
Endlich kam auch der Ehrengast. Bürgermeister Fritz Schuster, der noch kurz zuvor bei der Kartoffelernte war, erschien, nachdem er seine Gummistiefel, gegen den Sonntagsanzug getauscht hatte.
Saomalai begrüßte ihn mit den Worten: „Komm, Minna! Kommen Sie, Herr Major!“ Und goss ihm das Glas Sekt über den Anzug. So sehr war sie schon in ihrer Rolle drin.
Dann war es so weit. Eine Glocke ertönte.
Das erste von drei Klingelzeichen.
Plaudernd gingen die Kunst beflissenen auf ihre Plätze. Marianne von Pliesgau-Hollerbach hatte an diesem Abend die schwerste Aufgabe. Sie durfte nicht mitspielen.
Und dafür gab es gute Gründe, wenn man Frau Riemenschneider in ihrer Argumentation folgen wollte.
„Frau von Pliesgau-Hollerbach ist eine frisch Zugezogene und hat in der Bevölkerung noch nicht den Rückhalt und die Akzeptanz, die es für eine tragende Figur benötigt.“
In Wirklichkeit hatte Frau von Pliesgau-Hollerbach zwei ganz andere Makel. Sie war Jung und sah blendend aus. Damit war sie natürlich ei den Dorfschönen unten durch.
Zum Trost gestattete man ihr, am Eingang zum Theater stehend, die Programmhefte zu verkaufen. Doch diese Aufgabe erwies sich als sehr schwer. Die Zuschauer wollten gucken und nicht lesen, geschweige extra für das Faltblatt bezahlen.
Kurz vor der Vorstellung, der großen Premiere, trommelte Frau Riemenschneider ihre Kolleginnen zusammen und hielt eine Schlussrede, die als Motivation zu verstehen sein sollte.
„Meine Damen und Kolleginnen in männlichem Habitus. Die große Stunde ist gekommen. Gleich hebt sich der Vorhang und ich will Einsatz von allen sehen. Nur von Dir, Elke, möchte ich heute nichts hören.“
Elke war ihre Tochter und die Souffleuse.
„Mädels, spielt, wie ihr noch nie gespielt habt, spielt gut. Als ginge es um Euer Leben und tut mir bitte einen Gefallen. Steht mir nicht im Weg. Und Jasmin, richte den Verfolger immer auf mich. Denn wo ich bin, ist die Spannung zu finden. Und wenn ich von links nach rechts gehe, dann verfolgst Du mich und nicht wie gestern, wo Du von rechts nach links geleuchtet hast und ich im Dunkeln gehen musste. Und jetzt auf Eure Plätze und toi - toi - toi.“
Im Saal wurde das Licht gelöscht.
Frau von Pliesgau-Hollerbach machte Kassensturz und konnte zwei Euro für die Vereinskasse verbuchen. Saomalai stürzte hinter die Bühne, um ja pünktlich zu ihrem Auftritt im fünften Akt da zu sein. Das Gemurmel verstummte und eine ungeheure Spannung lag in der Luft.
Eine Fanfare wurde eingespielt. Dann war es so weit, das große Schauspiel konnte beginnen.
All jene, die bei dem großen Abend nicht dabei waren, konnten am nächsten Tag im Klein-Krötzinger Bergboten die Kritik lesen.
Lustspiel wurde zur Tragödie!
Die große Premiere musste abgesagt werden, weil der Vorhang klemmte.

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