Das richtige Mass finden
Die Politik lebt schon länger nach dem Grundsatz „koste es was es wolle“, gleich welche Partei an der Macht ist. Das rechte Mass ging abhanden. Alles soll optimiert werden und das bedeutet in der Denkweise vieler auch immer gleich mehr Geld. Dass sich das Denken über diverse Begrifflichkeiten ändern sollte wäre zu mühsam. Und wieso sollte bei der Privatperson etwas anderes gelten als in der Politik? Auch dort wird immer mehr optimiert, in einer Art und Weise, die immer mit hinzugekaufter Freude zu tun hat, oder einfach nur Ablenkung mit Konsum durch Förderungen aller.
Nicht erst seit Corona, oder seitdem wir den Launen von Putin ausgesetzt sind, wissen wir, dass das lineare Denken, das die Nachkriegsgeneration geprägt hatte, vorbei ist. Man sollte sich auf ein Vakuum vorbereiten. Es ist derzeit nicht klar, wohin der Weg geht. Vor Jahren wurden Elektromobile als die Zukunft angepriesen, ehe sie die Ergasfahrzeuge ins bedeutungslose stürzten. Es scheint, als ob auch der Wirtschaft nichts nachhaltiges mehr einfällt als mit dem Erzeugen von viel Emotion irgendeine neue Sau durchs Dorf zu jagen, hinter dem dann wieder die Masse nachrennt. Es funktioniert derzeit auch noch, solange eigentlich noch niemand verzichten muss. Denn im Verzicht sieht die Mehrheit eher etwas Negatives, denn eine Chance. Mehr ist immer besser und „2 plus eins gratis“ ist auch automatisch besser. Umso mehr man haben kann, desto besser. Dabei ist das nicht näher definiert was mehr ist, was für einen selbst Zufriedenheit bedeutet, oder was der Sinn des Daseins hier auf Erden eigentlich wäre. Lauter interessante Fragen, die ausschließlich individuell beantwortet werden können und sollten und auch Zeit in Anspruch nehmen sich mit sich selbst auseinander zu setzen. In der Realität werden aber die Normen - also die Möglichkeiten die es gibt um sich an Dinge gedanklich annähern zu können – sehr oft normativ verstanden – es muss also so sein. Und wenn man jemanden um einen Ratschlag bittet wird oftmals darunter verstanden, man möchte gleich die fix fertige Lösung haben. Stattdessen sollte ein Ratschlag eigentlich die Möglichkeit bieten, dass man jemanden beim Denken hilft, in dem er soeben nicht mehr selbst weiterkommt. Wenn man nicht selber Denken lernt, lernt man nur das Mass und die Gedankenwelt der anderen kennen, nie die eigenen Grenzen und Bedürfnisse, die für ein zufriedenes Leben und in weiterer Folge ein gutes Gesellschaftsmitglied, wesentlich sind.
Freizeit sollte Freude machen
Der eigentliche Sinn der Freizeit ist die Pause. Sie dient der Erholung und der freien Gestaltung der Zeit, nach Lust und Laune. In ihnen kann man etwas im eigenen Tempo nacharbeiten oder etwas Neues entwickeln.
Dazu ist die Kenntnis der eigenen Grenze wichtig. Spürt man diese nicht, geratet man in Stress. Sollten auch noch Kinder im Spiel sein ist es doppelt fatal. Sie werden heute oft durch die Welt geleitet und treffen auf das, was die Eltern vorbereitet haben. Ihre Wege sind sehr strukturiert. Leider herrscht oftmals die Meinung vor, viele Freizeitaktivitäten kämen einer Optimierung in verschiedener Hinsicht gleich. Den Mut zur Lücke bringen viele nicht auf. Im Gegenteil: Die Anforderungen an die Leistung der Kinder in der Freizeit nehmen eher zu.
Selbstverantwortung vs. der andere Schuld
Die Rede ist hier natürlich vom Mittelstand. Menschen die am Rande der Armut leben und keine Chance haben, sich den Luxus der Philosophie leisten zu können, werden hier nicht angesprochen. Es geht um die noch sehr große Masse an Menschen denen es zum Glück monetär sehr gut geht, auch wenn viel geraunzt wird weil der andere mehr zu haben scheint. Die Schuld am für den eigenen und selbst verursachten Frust sieht man immer woanders. Dabei hat die Kassiererin beim Billa kein Messer in der Hand und droht uns, dass wir Obst und Gemüse wieder zurück legen und stattdessen bei der Feinkost-Theke die Leberkässemmel kaufen sollen. Da gehen wir schon selbst hin. Dass nach mehreren Leberkäs-Jahren dann der Bluthochdruck zuschlägt ist kein Wunder. Zugegeben, das Beispiel ist etwas primitiv, aber es ist uns noch nie so gut gegangen wie heute. Wir haben Möglichkeiten selbst zu entscheiden, die man in anderen Ländern nicht hat. Dass nach längerer Zeit der Trägheit und der Unwilligkeit der Selbstentscheidung sich dann Probleme gleich welcher Art einschleichen können, ist klar. Aber dann sollte man nicht immer die Schuld beim anderen sehen. Und ob man Kinder hat oder nicht und deshalb dann weniger Geld zur Verfügung hat als jemand der Single ist sollte bitte auch als eigene Entscheidung wahrgenommen werden. Das ist schon eine große Verantwortung, die man übernimmt, aber bitte nicht leichtfertig.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer spricht von einer kritischen Masse von rund fünf Prozent der Menschen in allen Bereichen, die den Unterschied ausmachen, also neue Richtungen für die Masse vorgeben könnten. Meine These ist die, dass wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin auf die Ersatzmutter Staat verlässt und darauf hofft, dass es immer irgendwie in derselben Tonart weitergeht – also mit Förderungen gleich welcher Art werden Bedürfnisse befriedigt -, dass es dann gewaltig scheppern wird. Denn wenn Menschen, die es nicht gewohnt waren auf etwas zu verzichten, plötzlich massive Einbußen haben, dann werden sie grantig. Und wenn das für die Mehrheit gilt, dann kann das sehr schnell sehr unbequem werden.
Umso eher man sich mit dem eigenen Leben auseinandersetzt und Wege, die man bisher immer einschlug, hinterfragt, umso eher wird man mit geänderten Situationen gut umgehen können. Zufriedenheit kann mir nicht die Partnerin bringen – die muss ich mir selbst erarbeiten indem ich mich und meine Bedürfnisse selbst kennenlerne. Und die sind meistens ganz einfach und monetär gesehen gratis zu haben.
Von der Politik brauchen wir uns dabei nichts erwarten. Die Ahnungslosigkeit ist dramatisch. Ob die Rechten von „Leistung muss sich auszahlen“ schwafeln oder die Linke vom „Limit“ der Frauen sprechen, die für sie offensichtlich das Ersatzproletariat geworden sind. Wenn man Gewerkschaften und Politikern gleich welcher Couleur (da gibt es ja wirklich kaum mehr Unterschiede) zuhört ist die Arbeit eine biblische Plage, die die ständig erschöpften Menschen mit Schweiß und Tränen erträgt. Arbeit ist, so scheint´s, noch immer die Qual, sie zehrt die Menschen aus, bringt sie – wie während der Pandemie mantramässig wiederholt – an den Rand der Erschöpfung. Die Lösung um die Qualen der Arbeit zu lindern: Richtig. Mehr Geld für weniger Arbeit, Förderung von Teilzeit und bezahlte Sabbaticals für alle. Vaterschaftsurlaub, eine ausladende Elternzeit, an die sich dann unmittelbar die „umfassende Politik der frühen Kindheit“ anschließt, damit sich die jungen Eltern nicht zu sehr mit der unbezahlten Erziehungsarbeit für ihre eigenen Kinder abmühen müssen.
Die honigsüßen Versprechen des umfassenden Fürsorgestaat, unser aller Ersatzmutter, locken im Land der modernen Wohlstandsverwöhnten so, wie es einst die verbotene Frucht im Paradies tat. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Nachkommen angesichts der chronischen Finanzprobleme der Sozialsysteme nicht wie einst beim Sündenfall für lange Zeit werden büßen müssen.
Mag. Dr. Wolfgang Glass ist Politologe und Sanitäter in Wien.
Glassiker.wordpress.com