Es gibt Themen, die sind sehr schwer für Wähler*innen begreiflich zu machen sind. Die EU gehört dazu, oder die Klimakrise. Ob Brexit oder die weitgehende Untätigkeit im Angesichts der dräuenden Katastrophe, informierte und  engagierte Zeitgenoss*innen bleiben oft genug verwundert zurück. Der Grund dafür liegt darin, dass es Sandwich-Probleme sind. Bei einem Sandwich ist praktisch jedermann einig, dass er unten und oben aus einer Scheibe Brot besteht. Was beim Konzept eines Sandwich aber völlig unklar ist, ist die Füllung in der Mitte. Aber die und nicht das Brot sind entscheidend bei der Frage, ob jemand einen Sandwich mag oder nicht. Genauso ist es bei politischen Problemen wie der EU und der Klimakrise. Wir sind uns alle einig, was oben und unten ist, aber nicht, was in der Mitte ist.

In dieser Analogie ist "unten" das kleine Level. Es handelt sich um Mikroprozesse, einzelne Politiken, kleine  Elemente, an denen wir das Phänomen in unserem jeweiligen Alltag spüren können. Sie sind unsere emotionale Erfahrung mit dem Phänomen, ohne dass man sich allzuviele Gedanken darüber macht, was die jeweiligen Hintergründe sind. "Oben" dagegen ist das große Ganze, die überspannende, transnationale, vielleicht sogar globale Dimension eines Problems, die sich zwar intellektuell, aber nicht emotional erfassen lässt.

Betrachten wir zuerst den Sandwich "Europäische Union". Die untere Brotschreibe sind Phänomene wie die Gurkenkrümmungsverordnung, das Glühbirnenverbot, Erasmusprogramme oder der Bau eines neuen Kreisverkehrs. Ein Großteil dieser Maßnahmen wird gerne als Belastung empfunden (selbst wenn er objektiv zu einer Verbesserung der eigenen Situation führt, wie beim Glühbirnenverbot). Es sind Dinge, über die man hervorragend am Stammtisch oder beim Familientreffen schimpfen kann. Dinge, die die Titelseite der BILD zieren: emotionalisierend, aber ohne dass man darüber nachdenkt, warum es sie eigentlich gibt.

Noch viel wichtiger aber ist, dass sie nicht legitimierend wirken, selbst wenn sie positiv sind. Beispielsweise ist mir nicht bekannt, dass irgendjemand je das Erasmusprogramm kritisiert hätte, aber umgekehrt ist es auch nicht eben ein starkes Argument für die EU ("Wir brauchen die EU, damit Student*innen leichter Auslandssemester machen können!" ist eine ziemlich alberne Werbung für die Förderation). Es ist alles das sprichwörtliche Mist machende Kleinvieh.

Die obere Brotscheibe im europäischen Sandwich ist das große Ganze. Die EU verhindert Krieg! Dafür hat sie sogar 2012 den Friedensnobelpreis erhalten, ist also quasi von höchster Stelle bestätigt. Und wer will schon Krieg? Nur, der letzte Krieg in West-, Nord- oder Mitteleuropa ging 1945 zu Ende. Seiter sind drei Generationen ins Land gegangen, eine vierte wächst gerade heran. Konzeptuell sind wir uns alle einig, dass "kein Krieg" schon eine gute Sache ist, aber es spielt für unsere Lebenswirklichkeit keine Rolle, fühlt sich ohnehin völlig unwirklich an, ist emotional nicht erfassbar. Die EU ist hier ein bisschen Opfer des eigenen Erfolgs.

Politiker*innen können daher gerne darauf verweisen, dass die EU den Frieden in Europa sichert. Oder dass sie den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen gewährleistet. Aber all das sind trockene Konzepte, die - erneut - zwar intellektuell problemlos erfassbar sind, aber den schnellen Aufreger am Stammtisch über das Glühbirnenverbot schwer kontern können. Es wirkt nie sonderlich stark, auf "taking our country back" mit den verschränkten europäischen Lieferketten zu antworten.

Ähnlich sieht es beim Sandwich "Klimakrise" aus. Auf der unteren Scheibe sind Dinge wie der Verzicht auf Rindfleisch, mal Fahrrad statt Auto fahren, das Verbot von innerdeutschen Flügen und Ähnliches. Es sind kleine, sofort fühlbare Maßnahmen, bei denen wir selbst aktiv werden können, entweder weil der Staat uns durch eine Regulierung zwingt oder freiwillig. Sie fühlen sich zwar individuell meist gut an (oder ärgern weniger tugendhafte Menschen wahnsinnig, weil sie ihnen das eigene Versagen vor Augen führen), aber jeder Person ist klar, dass sie das Problem nicht lösen. Jede dieser Maßnahmen ist so winzig, dass sie effektiv keine Rolle spielt.

Gleichzeitig ist die obere Brotscheibe so groß, dass man sich eigentlich nur unter der Bettdecke zusammenrollen will. Wie die Blockierer aus CDU und FDP nie müde werden zu betonen ist das Problem global und kann nur gelöst werden, wenn alle mitmachen (was im Übrigen kein Grund ist, nichts zu tun...). Alle Maßnahmen, die irgendwie Erfolg haben könnten, erfordern eine so massive Umgestaltung unserer Energiegewinnung und Ressourcennutzung, dass einem nur von der Idee der Kopf schwimmt. Selbst intellektuell ist das kaum zu fassen, emotional sowieso nicht.

Bei beiden Sandwiches fehlt die Mitte. Wir haben zwei Brotscheiben, aber wir haben keine Füllung. Es gibt keine fassbare Größenordnung, die über den Mist des Kleinviehs hinausgeht, die aber für Menschen (und gegebenenfalls einzelne Nationen) greifbar ist. Ich habe selbst auch keine Ahnung, wie diese Mitte aussehen kann, aber damit bin ich offensichtlich nicht alleine. Die Remain-Kampagne hat sich damit genauso schwer getan wie die Gemeinschaft derjenigen, die die Klimakrise angehen wollen.

Umgekehrt gelingt es den jeweiligen Gegnern sehr gut, diese Mitte zu füllen. Boris Johnson ist ein elender Lügner, aber die "350 Millionen Pfund pro Woche für den NHS" war ein Meisterstück politischer Kommunikation. Auch das Konzept von "taking back control", das direkte Verbinden des (emotional und intellektuell greifbaren) Themenkomplexes "Migration und Flüchtende" mit dem (emotional und intellektuell nicht greifbaren) Thema EU, funktionierte hervorragend.

Ähnlich sieht es beim Klimawandel aus. Die Verteidigung des Verbrenner-Motors betrifft direkt den Lebensstil von Millionen Menschen, ist sofort verständlich. Die Bedrohung des Individualverkehrs durch die Logik der Klimakrise sorgt für eine instinktive Abwehrhaltung, sie sich sofort kapitalisieren lässt. Gleiches gilt für den Erhalt von Arbeitsplätzen in einem Land, das sich der Herstellung genau der Produkte verschrieben hat, die die Klimakrise befeuern. Das entsprechende Gegennarrativ - erneuerbare Energien schaffen neue Jobs - funktioniert, wie ich in Folge 3 der Bohrleute auch dargestellt habe, schon alleine deswegen nicht, weil (völlig zu Recht) niemand glaubt, dass die eigene, gut bezahlte Facharbeitskraftstelle in der Industrie nach Fortbildungsmaßnahmen durch eine ebenso gut bezahlte Stelle in der Energiebranche ersetzt werden könnte.

Solange die Befürworter von ernsthaften Maßnahmen gegen die Klimakrise, von einer weiteren europäischen Integration, nicht in der Lage sind, die Mitte des Sandwiches zu füllen, werden sie den politischen Meinungskampf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlieren. Die Kosten dafür tragen dann nicht die Menschen, die das widerliche Alternativ-Sandwich zubereitet haben - ein Boris Johnson ist von den Verwerfungen des Brexit und leeren Regalen im Tasco sicher nicht betroffen - sondern diejenigen, die es fressen müssen.

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