Schon viel wurde in diesem Land über Behinderte und sozial Abgehängte geschrieben, egal wie man es nun bezeichnen möchte. Eins bleibt oft gleich, man spricht lieber über die Menschen, statt man sie einfach mal selbst fragt. Viele aus den sogenannten unteren Schichten kennen es, dieses Leben mit den Vorurteilen der anderen. Oft werten die Menschen nicht absichtlich ab, aber die Sprache ist und bleibt ein mächtiges Werkzeug.

Ein perpönlicher Text von OBIausHV

Ich war schon immer eines dieser Schmuddelkinder. Das Kind eines Alkoholikers, das Kinder einer Hartz IV Empfängerin und damit "sozial schwach", so zumindest war es auch damals schon in den Nachrichten, Berichten und selbst in der Schule üblich. Früh fragte ich mich schon: Warum soll ich sozial schwach sein, nur weil meine Familie kaum Geld hatte? Ja, mein Leben war schon damals nicht besonders einfach. Aber schwach und das im sozialen? Hmm. Ich glaube, dies war ich nie so richtig. Wie es für viele Hartzer Kinder üblich war und wahrscheinlich immer noch ist, trug ich nie die teuersten Klamotten, doch dies brauchte ich eigentlich auch nie. In der Schule machte man sich darüber natürlich trotzdem lustig. Groß, nicht gerade schlank und irgendwie schon ein wenig andersartig. Mich störte vieles damals nicht und in der Grundschule machte ich mir auch kaum Gedanken darüber. Nach der vierten Klasse ging es für mich nicht auf ein Gymnasium, warum auch? So als Schmuddelkind hätte ich doch nur Unruhe in das System gebracht, so zumindest damalige Lehrer und Eltern. Es ist schon toll, was man als Kind so mitbekommt. Vieles blieb lange hinter einer verschlossenen Tür.

Warum sollte ich auch über mein Leben klagen? Das gehört sich schließlich mal so überhaupt nicht. Die Welt dreht sich weiter, auch ohne mich und es ist ihr egal, ob ich im Straßengraben liege oder einem schlecht bezahlten Job nachgehe. Als ich noch klein war, da wollte ich nur eines werden, ein Koch. Die Schulzeit war lange Zeit nur eine Abwärtsspirale, zumindest was meine Gedanken angingen. Ich sah meine Zukunft lange düster. Schule, irgendwie klappte es meistens. Physik, Sozialkunde und Technik waren meine Favoriten. Das frühe Aufstehen nicht so sehr. Ok, ok. Ich merke es selbst: Abschweifen und Ablenken.

Von meiner Größe her, da war ich bereits früh größer als alle anderen, doch wehren wollte ich mich nie, denn Gewalt, die lehnte ich sehr lange ab. Nur verhinderte es nicht, dass die anderen Schüler mich schlugen, anspuckten, einsperrten, traten und so vieles mehr. Mal aufgrund meines Aussehens, oder meiner Andersartigkeit, manchmal wegen meines "sozialen Status" und oft wegen meinem großen Halbbruder. Was Anton* so alles trieb, das war mir eigentlich fremd und doch ließ man mich für sein Handeln bluten, dies ist leider keine Metapher. Von der Fünften an ging es so richtig los. Die Jungs und manchmal auch die Mädels aus der Achten, Neunten und Zehnten zeigten dem Schmuddelkind mal wo es im Leben so lang geht. Irgendwie kann ich heute auch etwas dankbar sein. Ich weiß, es klingt verrückt. Was erzählt der Mann dar, oder besser: Was schreibt er vor sich hin?!

Sie zeigten mir eines, wer besser gestellt ist, will seine Macht nutzten, denn dies taten sie schließlich. Man zeigte mir Kind von faulen Arbeitslosen, wie es im Leben läuft. Schule kann grausam sein, nicht wahr? Es änderte sich jedoch lange nichts. Mal spuckte man mich an oder verprügelte mich auf dem Schulhof und wo waren die Lehrer*innen? Diese Frage beschäftigte meine Familie schon gelegentlich, aber da ich mich nicht wehrte, da bin ich doch irgendwie selbst schuld. Meine Mutter wollte, dass die anderen Schüler von mir geschlagen werden... Nur ich wollte es nicht, ich wollte es nie. Warum sollte ich Gewalt anwenden? Was eine eigenartige Zeit. Irgendwann kam dann die Pubertät und eigentlich wurde das gesamte Leben doch nur noch seltsamer. Meine Schuhgröße eher Marke Kindersarg, so sagte ich es damals. Heute würde ich wohl Clownschuhe sagen, aber ich war auch mal jung und dumm.

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Was sich änderte, war meine Größe, die ging immer noch eine Nummer rauf - doch der Junge, wie ein Baum gewachsen, wollte sich weiter nicht wehren. In der Zeit gaben mir drei Sachen halt: Meine Liebe zur Musik, das Jugendzentrum und meine Großeltern. Mein Geschmack was Musik anging, ja das war damals schon eher nicht so Mainstream. Hip-Hop und Rap verabscheute ich, damals kannte ich auch nur diese Möchtegern-Gangsterrapper. An meiner Schule hörte irgendwie fast alle diese Art von Musik. Witzige Anekdote: Ich hatte früher eigentlich nie eine Jeans, weil einerseits keine passt und auf deren anderen Seite waren Jogging-Hosen günstiger. Bevor das Tragen davon in Mode war, machte man mich deswegen regelmäßig runter, bis dieselben Leute sie dann trugen, so wie die Rapper in den Videos. Schon komisch, wie das Leben einen so spielt. Irgendwann trug ich fast ausschließlich schwarz. Schwarze Jacke, Hose, Schuhe, Socken ... Selbst die verdammte Unterhose war in Schwarz gehalten und dies sicherlich nicht rein zufällig.

Während Anton* also schon von Zuhause weg war und eine Zeit freiwillig in einem Jugendheim verbrachte, so machte man mich immer noch für seine Taten verantwortlich. Das einzige, was ich aus dieser Zeit vermisse, ist wohl meine Unbeschwertheit, denn irgendwann kam sie abhanden. Ob es beim Vermöbeln war oder als man mich mit Klowasser auffrischte, dies kann ich heute nicht mehr sagen. In dieser kleinen Stadt, welche für mich Heimat ist und ein Ort den ich liebe... doch soviel Wut, Angst und Scham überkommt mich, wenn ich an diese Zeit denke. Ich ging fast jeden Tag ins Jugendzentrum, denn dort entkam ich nicht nur meinen Schulalltag, sondern auch meiner Mutter.

Ich war gerne dort und meine Peiniger manchmal auch, aber meistens war es ein Ort des Lernens und der sinnvollen Zeitbeschäftigung. Neben zocken, auch töpfern und andere kreative Beschäftigungen. Irgendwann wurde ich größer und half regelmäßig mit, egal wo - egal wann. Ob es bei Veranstaltungen war oder den kleineren Kids mal eben schnell helfen. Sinnvolle Zeitbeschäftigung eben und nicht nur den Blick in die Weite schweifen lassen oder gar nur die Wand im eignen Zimmer anstarren. Und es war eine sehr lange Zeit, der einzige Ort für mich, um mal ins Internet zu gelangen. Auch die sozialen Netzwerke waren für mich nur so erreichbar. Die fremde und aufregende Welt des World Wide Web. Meine Mutter sperrte sich sehr lange gegen das Internet, es war zu teuer, so hieß es jedenfalls immer und in ihrer Spielsucht brauchte sie das Geld lieber für die Automaten. Nur irgendwann habe ich wohl genug gejammert und gebettelt. Ich hatte dann zwar immer noch keine vernünftigen Schuhe oder ein Vorhang an meinen Fenstern, aber eine so andere Welt öffnete sich endlich komplett für mich. 2009 kurz bevor ich vierzehn Jahre alt wurde, ach was ein wundervoller Tag. YouTube war damals für mich eine wirklich spannende Welt. Anders als heute und so voller Magie, so voller Kreativität und Musik. Ich konnte mir kaum Musik oder Spiele leisten und wurde so zu einem Piraten des Internets. Erwischt wurde ich dabei nie und mittlerweile sind die Sachen auch verjährt. Meine Liebe für Punk, Rock, Mittelalter Rock, Hard Rock und Metal in all seinen Formen kam zum Erblühen, aber das ist vielleicht eine Geschichte für ein anderes Mal.

Jedenfalls versuchte ich immer soziale Kontakte aufzubauen und sinnvolle Dinge zu tun, klar auch manchmal baute ich Mist. Und wie endete nun die jahrelange Tortur? Auch, wenn es eigenartig klingt durch ein Spießrutenlauf. Es war schon wieder etwas wärmer und ich trug schon Sanderletten, auch wenn manchmal noch Schnee lag. Wie es bei uns üblich war, mussten wir von einem Gebäude zum anderen laufen. Das eigentliche Hauptgebäude reichte für uns Schüler einfach nicht aus und so ging es in den Anbau, welcher auf dem Gelände des Gymnasiums stand. Verbunden waren diese beiden Einrichtungen nur über einen öffentlichen Weg. Wenn es also geklingelt hat, so musste man von einem Gebäude ins andere und dies passierte, auch wenn die größeren Klassen gerade dort waren - eine Aufsicht gab es dabei so gut wie nie. So kam es, wie es irgendwie kommen musste. Von hinten versuchte man mir meine Beine wegzuziehen und leider klappte es beim dritten oder vierten Versuch. Ich stürzte auf mein Knie und bekam noch ein-zwei tolle Worte und gewisse Flüssigkeiten ins Gesicht, niemand half mir. Kein Mensch sagte etwas, aber immerhin sagten einige später als Zeugen aus. Was sich an diesem Tag änderte, war nicht mein Verhalten. Ich habe immer noch keinen geschlagen, aber ging ins Krankenhaus, weil mein Vater diesmal nicht besoffen bei sich in der Wohnung lag. Gemeinsam gingen wir zur Polizei, beziehungsweise ich humpelte dort mit den Krücken hin.

Der Junge musste sich wegen Körperverletzung vor Gericht verantworten und wurde "verurteilt", obwohl die Jugendgerichtshilfe vorher noch versuchte mich davon zu überzeugen, die Anzeige zurückzuziehen, naja... Die Staatsanwältin fand diese Verhalten nun nicht ganz so lustig. Die Aussage vor Gerichte wurde mir erspart, weil nach den ganzen Zeugenaussagen, er die Schuld eingestand. Sozialstunden und 50 € für mich waren dabei herausgekommen, diese musste er an mich zahlen. Drei Monatstaschengelder sollen es gewesen sein.

Doch für mich viel wichtiger: Es hörte auf, auch weil der Druck auf die Schule erhöht wurde und das Schmuddelkind inzwischen eben nicht mehr das einfache Ziel war. Beleidigungen oder Abwertungen, weil "Hartzer Kind" waren trotzdem noch fast an der Tagesordnung, doch gegen die Körperverletzungen war es ein Klacks. Die Zeit hat mich dennoch beeinflusst und mich definitiv härter und vorsichtiger gemacht. Menschen waren sehr lange noch eine dauernde Bedrohung und dies, obwohl ich viele wohl hätte selbst eher verletzten können als sie mich.

Mein Leben war immer noch von der Stigmatisierung begleitet. Meine Eltern nur schlicht zu faul und ich würde mal genau so. Das mein Vater, Erzeuger, wie auch immer wohl einige Probleme mehr hatte und meine Mutter ein Fall für sich ist... würde wohl eher ein gesamtes Buch füllen.


Ich jedenfalls wollte schon immer etwas tun und mit dreizehn Jahren fing ich mit dem Zeitungsaustragen an, doch dank Hartz IV ging davon das meiste Geld an den deutschen Staat, wie übrigens auch das Kindergeld. Bei Hartz IV wurde und wird es heute noch angerechnet, dabei reicht der verringerte Kindersatz von Hartz IV so schon kaum aus. Wenn man als Schüler sagt "Ich habe mein Sportzeug vergessen", so gab es dafür erst eine 6 mit Bleistift und beim zweiten Mal wurde sie eingetragen. Der eine Sportlehrer war ein Arsch, denn neue Schuhe konnte ich mir nicht leisten. Schuhe nur für den Sport? Das ging nicht. Und wegen der Straßenschuhe gab es halt dann öfter mal eine 6. Willkommen im Land der Bildungsgerechtigkeit. Du konntest und kannst dir kaum die benötigten Sachen für die Schule leisten, besonders umso älter man wurde. Man der Taschenrechner, da kann ich immer noch nur “AUA” sagen. Gut darum bekam ich den erst auch nicht und kassiert auch deswegen "bessere" Noten. Von Nachhilfe war damals nicht zu träumen, denn das Jobcenter zahlte natürlich nicht. Die Anträge wurden so selbstverständlich abgelehnt, wie eine Zukunft auf ein Gymnasium. Egal was man tat, aber wenn ich Geld verdiente, dann hielt man sofort die Hand auf. Einhundert Euro durfte ich behalten und vom Rest, je nachdem waren es glaube ich zwanzig Prozent. Ferienarbeit hat sich dadurch nie wirklich gelohnt und für das Jugendzentrum war ich ehrenamtlich unterwegs, aber am Ende hatte die eine Lehrerin recht: Ich war und bin das Schmuddelkind.

Ein Text, ganz privat und doch für alle zugänglich. Die Narben der Kinderseele mögen verblasst sein, doch irgendwo sind diese noch vorhanden. Ein Mensch wird eben auch von seinem eigenen Leben geprägt. Wir alle hinterlassen Spuren, manche sind Trauer und einige Freude, manche sind Hass und andere Liebe, doch egal was der Mensch tut - niemals wird er es schaffen, keine Spur in dem Herzen von anderen zu hinterlassen.
Ich wünschte mir nur etwas Verständnis, ein wenig Geduld und mehr Liebe und Freude.
Hassen will ich nicht, denn es belastet nur mich selbst, doch allen kann ich noch nicht vergeben, aber den Jugendlichen von damals schon. Irgendwann, so hoffe ich es ganz tief im Herzen, werden die Spuren noch mehr verblassen und ich frei von den damaligen Gefühlen sein. Wenn ich mir von euch etwas wünschen dürfte, seid zivilisiert und dies bitte vor allem im Streit, denn Spucken; Schlagen; Hauen und Stechen sind barbarische Taten.

Euer OBIausHV

Das Beitragsbild ist ein Symbolbild. *Name geändert

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