Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2020 und dann den Nachwahlen in Georgia im Januar 2021 schwebten die Democrats auf Wolke 7: Trump war gebannt, man hatte eine trifecta gewonnen, und angesichts ambitionierter Programme und der schnellen Verabschiedung eines Covid-Hilfspakets war schon die Rede von einem New New Deal. Biden schien die Quadratur des Kreises gelungen und der politische Stillstand seit 2009 aufgebrochen. Nichts davon ist mehr zu spüren; stattdessen herrscht eine Stimmung, die mit "Katerstimmung" kaum mehr richtig umschrieben werden kann. Hier ist schon ein ganzes Rudel Wildkatzen am Werk. Bidens Popularitätswerte sind auf einem Rekordtief, die Partei steuert auf eine Katastrophe bei den Midterms 2022 zu, die sich an der Obamas 2010 und Trumps 2018 messen lassen dürfte, und Trump führt alle Umfragen für einen hypothetischen Wahlgang 2024. Was ist geschehen? Ist bereits wieder alles verloren?

Widmen wir uns zuerst dem Präsidenten selbst. Biden ist immer noch ein alter weißer Mann. Er hat keine kontroversen Statements gemacht, ist nicht vom Podest gefallen, hat sich ideologisch nicht bewegt. Er ist derselbe moderate Mitte-Politiker, der er in den letzten 30 Jahren auch war und als der er zum Präsident gewählt wurde. Seine Agenda ist so populär wie nichts seit "Morning in America", mindestens. Die Covid Relief Bill, die Infrastructure Bill und das "Build Back Better"-Programm haben Beliebtsheitswerte, von denen sein Vorgänger Obama nur träumen konnte (der notorisch unbeliebte Trump sowieso). Der Graben zwischen der Popularität seiner Agenda und seiner eigenen Person verwundert auch Meinungsforscher Nate Cohn, der zum selben Schluss kommt wie alle anderen auch: in der Person Joe Biden lässt sich die Ursache nicht suchen.

Sind es also Ereignisse von außen? Gerne wird auf das sommerliche Afghanistan-Desaster verwiesen. Zwar gibt es eine Korrelation zwischen den sinkenden Werten und der Machtübernahme der Taliban, aber der Sinkflug seiner Werte begann bereits vor dem Fall von Kabul und setzt sich quasi linear fort, weswegen die Annahme realistisch ist, dass auch ohne das Afghanistan-Debakel die Werte so aussehen würden wie jetzt. Sie sind auch keine Überraschung: bei den Democrats ist Bidens Beliebtheit unverändert hoch, die Republicans hassen ihn unverändert; alles, was sich verschoben hat, ist die Gruppe der "Independents", in der die Wahlen entschieden werden und wo er fast 20% eingebüßt hat. Man muss sich hüten, diese Leute als Mitte der Gesellschaft zu framen; zahlreiche Mythen sind über sie in Umlauf, und "mittig" sind sie schon gleich dreimal nicht. Sie identifizieren sich nur nicht mit einer der Parteien.

Wenn es also nicht die Person des Präsidenten ist (wie bei Trump) und nicht das Programm, das er durch den Kongress zu bringen versucht (wie bei Obama), warum sacken die Beliebtheitswerte von Präsident und Partei stärker ab als ein Eis in der Sommersonne? Der Schlüssel liegt in der Partei. Es sind die Aktivist*innen und Abgeordneten der Democrats, die von zwei unterschiedlichen Richtungen her eine gigantische Selbstsabotage betreiben.

Die eine Richtung ist die aktivistische Basis der Partei. Ihr ist hauptsächlich zu verdanken, dass der in den Umfragen sicher geglaubte Sieg über Donald Trump doch noch zu einem nail biter wurde, knapper noch als Trumps Sieg über Hillary Clinton 2016 (wobei natürlich in beiden Fällen eine deutliche Mehrheit für die demokratischen Kandidat*innen stimmte, was aber wegen des antidemokratischen Wahlsystems bedeutungslos ist). Exemplarisch deutlich wird das in der Forderung #DefundThePolice, die vor allem nach dem Mord an George Floyd rapide an Bedeutung gewann. Dieser Slogan war selbst auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Polizei und der Welle der Empörung nie über 30% Zustimmung in der Bevölkerung hinausgekommen und lag für gewöhnlich deutlich darunter. Besonders auffällig ist, dass er unter Schwarzen noch stärker abgelehnt wurde als unter Weißen. Dasselbe gilt für die Migrationspolitik. Hier liegt offensichtlich ein Disconnect vor, der nicht wegdiskutiert werden kann.

Diese Fehleinschätzung lässt sich laut Jonathan Chait auf eine fehlerhafte Datenanalyse des Wahlkampfs 2012 zurückführen. Frühe Auswertungen zeigten, dass Obamas Wiederwahl mehrheitlich von Minderheiten getragen wurde - Schwarzen und Latinos. Später stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall war und der entscheidende Faktor für seinen Sieg der Gewinn der weißen Arbeitendenklasse war, die er mit traditionellem linken Populismus (dazu später mehr) für sich gewann. Aber das Narrativ von der überragenden Bedeutung der Minderheiten hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits durchgesetzt und wurde für die Democrats zu einer Art Glaubensartikel.

Das Problem an dieser Strategie ist dabei weniger, dass sich bei den Minderheiten nicht auch Mehrheiten holen ließen - schließlich gewannen sowohl Obama als auch Hillary Clinton historisch rekordverdächtige Anteile in diesen Gruppen - sondern dass diese weit weniger links sind als der aktivistische Teil der Basis, der die Schlagzeilen so sehr dominiert, oder wie der Kreis der Großspender der Partei. Tatsächlich sind die Minderheiten in ihren politischen Einstellungen eher am rechten Rand der Partei und damit genau den Gruppen näher, die wegen ihres latenten Rassismus' mehr und mehr ins Lager der Republicans abdriften und dort aggressiv umworben werden.

Warum also vertreten so viele Politiker*innen der Democrats diese Positionen und verwenden so viel politisches Kapital auf diese Gruppen? Zum Teil, weil eine ähnliche Dynamik wie bei den Republicans Einzug gehalten hat, in der in den primaries eine ideologisch radikale Basis die Kandidierendenauswahl bestimmt. Aber als Erklärung taugt das nur eingeschränkt. Joe Biden hat die Vorwahlen überraschend deutlich gewonnen, ohne sich großartig diesem Druck zu beugen - anders etwa als Mitt Romney, der 2012 mit diversen Teufeln ins Bett stieg und charakterlos und wenig authentisch auf diese Linie umschwang -, ebenso Hillary Clinton 2016, die als Vertreterin des Establishments antrat. Dieses entscheidet, anders als bei den Republicans, immer noch wesentlich die Strategie der Partei.

Nur nicht ihre Außendarstellung. Genauso wie die GOP sind die Democrats von Großspender*innen abhängig, deren Millionen die hyperteuren Wahlkämpfe überhaupt erst möglich machen. Was diese Großspender*innen nicht abdecken, wird von den engagierten Kleinspenden aufgefangen - die, wenig überraschend, von den motiviertesten Basismitgliedern geleistet werden. Dieses Dilemma war ein wichtiger Faktor im Untergang von Elizabeth Warrens Kandidatur, die andernfalls eigentlich eine gute Kandidatin für 2020 gewesen wäre. Biden war dank seiner 30 Jahre lang gepflegten Unterstützernetzwerke bemerkenswert unabhängig von dieser Dynamik.

Warum aber nenn ich die Großspender*innen in diesem Zusammenhang? Im oben verlinkten Artikel zitiert Chait einen namenlos bleibenden Wahlkämpfer der Democrats mit den Worten: “The Koch brothers are strategic; their voters are bananas,” one leading Democrat confided. “Our voters are moderate, but our funders are crazy.” Dieser spiegelbildliche Irrsinn der beiden amerikanischen Parteien ist ein deutlich unteranalysierter Faktor in der Dauerkrise des dortigen politischen Systems, und die Abhängigkeit von dieser Art der Wahlkampffinanzierung - anders als etwa hierzulande - spielt eine große Rolle.

Für unsere Zwecke aber ist die Feststellung wichtig, dass, anders als bei den Republicans, die Wählendenschaft der Democrats überwiegend moderat ist. Deswegen ist es für die Partei auch wesentlich weniger erfolgversprechend, diese radikale Basis zu bedienen. Sie macht nicht mehr als 20-30% aus, während die Republicans mittlerweile auf stabile 40% radikalisierter Zustimmung bauen können. Beides reicht nicht für eine Mehrheit, aber im Gegensatz zur GOP brauchen die Democrats eine demokratische Mehrheit. Sie müssen daher um moderate Wählende und "Swing-Voters" konkurrieren, wo die Republicans damit weitgehend aufgehört haben und stattdessen auf undemokratische Regelungen setzen.

Mit was aber bekommt man diese Swing-Voter? Die New York Times hat eine Antwort: Grundsätzlich ist Populismus populär (duh). Auffallend ist, dass linker Populismus (höhere Steuern für Reiche, Mindestlohn, was sich so alles unter dem Schlagwort "soziale Gerechtigkeit" fassen lässt) noch vor rechtem Populismus (law&order, harsche Migrationspolitik, etc.) liegt. Unpopulär dagegen sind moderate Botschaften, noch unpopulärer "woke"-Botschaften, und am unbeliebtesten "moderat woke"-Botschaften (nach "moderate Republican" wurde bezeichnenderweise nicht gefragt, wohl, weil das nicht mehr existiert). Da gerade "moderate woke" der Kompromiss ist, bei dem die Kandidat*innen der Democrats oft landeten, ist wenig überraschend, warum sie so unattraktiv sind. Wenn schon woke, dann das Original - ein Lektion, die die Republicans wesentlich besser verstanden haben, wo alles unter 120% ideologischer Vernarrtheit inzwischen als unzureichend gilt.

Chait sieht Elizabeth Warrens Wahlkampf deswegen auch als große cautionary tale für diese Konflikte. Ihre programmatische Ausrichtung ist eigentlich super populär. Aber im Wahlkampf richtete sie sich an der aktivistischen Basis aus: Over the course of her campaign, though, Warren found herself both racing to outflank Sanders to her left and unable to expand her base beyond college-educated liberals. Persist,Warren’s campaign memoir, chronicles her dogged and largely successful efforts to win the approval of political activists. She proudly notes that a 2015 address at the Edward M. Kennedy Institute in Boston was called “the speech that Black Lives Matter activists had been waiting for” by the Washington Post. At another speech in 2018, she declared, “The hard truth about our criminal-justice system: It’s racist … front to back.” The book quotes an activist’s tweet approving of her criminal-justice plan, her well-received appearance at the “She the People” forum, her endorsement by Black Womxn For. Da aber wie vorher etabliert die Minderheiten selbst gar nicht so wählen, schoss sich Warren so selbst ins Abseits. Ob sie eine Wahl hatte, sie mal dahingestellt - auch ihr Wahlkampf ist ja nicht umsonst.

Diese Dynamiken führten dazu, dass die Partei trotz ihrer unzweifelhaft attraktiven Plattform für Biden ein Mühlstein um den Hals war. Zugegeben, Biden gewann zu guten Teilen, weil er nicht Trump war und für zahlreiche Wählende eine Folie darstellte, auf die diese alles projizieren konnten. Aber der Kandidat selbst behielt die ganze Zeit eine wohlgewählte Distanz vom linken Flügel, vermied (anders als etwa Warren) die entsprechende Rhetorik und legte auch im Amt angekommen nicht gerade einen Linksrutsch hin. Die Beinahe-Katastrophe der Wahl 2020 lässt sich daher mit den obigen Faktoren gut erklären. Weniger gut funktioniert das für die aktuellen Probleme der Partei, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Katastrophe bei den Midterms 2022 führen werden. Was also ist da los?

Unter moderaten Progressiven ist derzeit der Politikwissenschaftler David Shor der letzte Schrei. Chait charakterisiert dessen Thesen folgendermaßen: The principles of David Shor Thought boil down to a few key precepts. Shor believes the central dynamic in western politics is educational polarization: the tendency of college-educated voters to move left while those without college education move right. It follows that, as educated people have diverged from the working class, the Democratic Party’s political class (which consists entirely of college-educated voters) has moved much further from the political midpoint that it once inhabited. Shor’s solution is to be vigilant about this bias and to correct for it by paying close attention to polling and speaking in plain, accessible language. Biden hat diese Vorschläge geradezu religiös befolgt. Warum also stellt sich der erwartete Erfolg nicht ein? Grundsätzlich nämlich entspricht die Politik dem, was die Bevölkerung in überwältigender Mehrheit wünscht. Ob Covid-Relief-Bill, ob Build Back Better, ob Infrastructure Bill, diese Gesetze enthalten wenig woke-Esoterik und viel handfeste Maßnahmen, die regelmäßig in Umfragen jenseits der 70% landen. Man könnte nun vermuten, dass das Problem sei, dass die aktivistische Basis das zerrede und wie im Wahlkampf die Botschaft mit Zwischenrufen à la #DefundThePolice verwässere, aber das ist nicht der Fall. Die linken Democrats sind (wie übrigens auch in Deutschland die SPD und Grünen dieser Tage) ein Musterbeispiel an Geschlossenheit. Mustergültig war das sichtbar an der Verabschiedung der Covid-Relief-Bill. Das Programm war umfassend, effektiv und populär.

Doch ab da ging es bergab.

Es ist auffällig, wie sehr die unproblematische Verabschiedung der Relief-Bill funktionierte und wie furchtbar es der Partei seither ergeht. Ich habe darüber bereits vor zwei Monaten als "erste Krise der Biden-Präsidentschaft" geschrieben. Diese Krise hängt nicht an den progressiven Caucus-Mitgliedern. Sie hängt an exakt zwei Personen: Senator Joe Manchin aus West Virginia und Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona. Diese beiden werden gerne als "moderat" oder "zentristisch" beschrieben, aber sie sind das nur insofern, als dass ihr Abstimmungsverhalten die höchste Abweichungsquote hat. Das Problem ist, dass sie sich nicht etwa prinzipiell gegen eine bestimmte Politik stellen, sondern skrupelklos die Interessen der Kohleindustrie durchdrücken (Manchin) oder dagegen sind, um ihr persönliches Brand aufzubauen (Sinema). Besonders Sinema ist auffällig. Sie weigert sich seit Monaten beharrlich, überhaupt irgendwelche Forderungen aufzustellen oder Kritikpunkte zu nennen, mit denen man arbeiten könnte.

Es ist der parteiinterne Kampf, der die Democrats aktuell in den Abgrund zieht, weil einige wenige radikale Abgeordnete die Agenda mit unglaublich unpopulären Positionen bestimmen. Aber anders als beim #DefundThePolice-Beinahedesaster 2020 sind es dieses Mal die sogenannten "Moderaten", die den ganzen Laden in den Abgrund ziehen. Die "Zentristen" oder "Moderaten" sind genau gegen die populären Maßnahmen und stopfen die unpopulären in das System, tun aber so, als wären sie die Stimme des Volkes. Dabei sind sie komplett im Griff radikaler Aktivisten und darin bemerkenswert offen: “Mr. Manchin is also listening closely to his constituents,” reported the Times in September. “Earlier this month, the senator spent two days at the annual meeting of the West Virginia Chamber of Commerce, convened at the lavish Greenbrier resort, where ‘people were lining up to talk to him about this,’ said Steve Roberts, president of the West Virginia Chamber of Commerce and another old friend of Mr. Manchin’s.”

Diese selbsternannten "Moderaten" verwenden Worte wie "woke" als Schimpfworte, um sich vom linken Flügel zu distanzieren, aber in Wahrheit distanzieren sie sich von der Arbeiterklasse, die die Democrats dringend gewinnen müssen (ein Ziel, für das, dies sei noch einmal explizit gesagt, der woke Kram kaum hilfreich ist!). Es war Manchin, der massive Steuererleichterungen für Milliardäre ins BBB-Programm gezwungen hat. Ich bin natürlich nicht der beste Kenner von Stahlarbeitern in Pittsburgh, aber ich bin ziemlich sicher, dass das auf der Beliebtheitsskala unter denen auf derselben Stufe rangiert wie Critical Race Theory im Bildungsplan.

Manchin bedient dabei wenigstens noch die alten Narrative, die der Presse immer noch wie Öl runtergehen. Sinema dagegen weiß genau, dass Schamlosigkeit kein Makel ist und hat sich geradezu in eine Karikatur ihrer selbst verwandelt, nachgerade betrunken von ihrem Image als Blockiererin. Ihr auf laut gestellter Handyton ist eine Liedzeile aus dem Musical Hamilton "You don't have the votes". Das Einzige, was fehlt, ist dass sie den Imperial March spielen lässt, wenn sie den Raum betritt.

Deswegen habe ich auch keine Geduld mehr mit Auslandskorrespondenten wie René Pfister vom Spiegel, der schreibt:

Woke und munter in den Untergang: Wenn den Demokraten etwas an ihrem Überleben liegt, müssen sie auf Distanz zu einer dogmatischen Linken gehen, die allenfalls auf dem Campus einer Elite-Universität eine Mehrheit hat. https://t.co/rqeLZMeGhC via @derspiegel

— René Pfister (@rene_pfister) November 5, 2021


Denn die Democrats gehen auf Distanz dazu (nicht, dass es helfen würde)! Aber wo ist der Artikel "Moderat und unter munter in den Untergang: Wenn den Demokraten etwas an ihrem Überleben liegt, müssen sie auf Distanz zu einer dogmatischen Rechten gehen, die allenfalls in den Redaktionsräumen des Wall Street Journal eine Mehrheit hat"? Das wäre genauso korrekt, kommt aber in den Analysen einfach nicht vor. Der Kuschelkurs praktisch aller hochrangigen Democrats mit der Chamber of Commerce (pars pro toto) ist ein Bleigewicht von der Größe der Critical Race Theory. Wenig schadete Hillary Clinton so sehr wie der Eindruck ihrer Nähe und Bestechlichkeit zu diesen Leuten (erinnern wir uns an Reden vor Goldman Sachs?).

Auch anderweitig vertreten diese Leute super unpopuläre Positionen. Die "Moderaten" haben gemeinsam Bidens Kandidatin für die Bankenregulierung versenkt, weil sie eventuell die Banken zu hart anfassen könnte. Auch so eine Position, die bei den Arbeiter*innen in Ohio sicher super ankommt. Überrascht irgendjemand in diesem Kontext noch, dass Manchin auch gegen Masken ist? Sie sind Abtreibungsgegner und Waffenbefürworter, beides in den USA generell unpopuläre Positionen, in der eigenen Partei sowieso.

Und bevor mir jetzt jemand erklärt, dass die USA ein Mehrheitswahlrecht haben und dass die nur mit solchen Positionen ihre Posten erringen können: ach was. Aber dasselbe gilt auch für eine Alexandria Ocasio-Cortez. Natürlich haben die Democrats gerade nur eine Mehrheit im Senat, weil Manchin den Senatssitz von West Virginia hält, der roteste Staat auf der ganzen Landkarte. Aber das ändert nichts daran, dass Manchin und seine Positionen super unpopulär sind und von der Wählendenschaft auf die ganze Partei übertragen werden, genauso wie die woken Positionen, mit denen manche in den Hochburgen der Ostküstenstädte gewählt wurden, dasselbe tun. Nur, distanzieren muss sich die Partei angeblich immer nur von dem woken Kram, während eine schamlose Blockadepolitik zugunsten der 1% aus irgendeinem Grund als Naturgesetz hingenommen wird, trotz aller Belege des Gegenteils.

Machen wir uns nichts vor: Die Midterms 2022 werden zu riesigen Verlusten führen. Die New York Times sieht den Untergang in der Formulierung "Democrats shouldn't go into panic. They should go into shock." nahen. Es müsste ein Wunder geschehen, dass die Democrats nicht Kongress und Repräsentantenhaus verlieren, und ein mindestens genauso großes Wunder, damit sie sie 2024 zurückerobern - was kaum ein Thema sein wird, weil ausgehend von der aktuellen Stimmungslage die Verteidigung des Weißen Hauses gegen den once and future Protofaschisten bereits eine echte Leistung darstellen wird.

All dem wird natürlich nicht durch eine Medienlandschaft geholfen, die zwar noch den größten Blödsinn über Cancel Culture in großen Lettern bringen wird, aber kaum über den Inhalt der Infrastructure Bill spricht. Natürlich ist die Beschwerde nutzlos: Die Medien sind wie sie sind und haben die Anreizstrukturen, die sie haben. Nate Cohn hat da einen guten Twitterthread dazu. Die Democrats müssen lernen, damit zu leben und zu arbeiten. Die Republicans haben das ja auch geschafft, und deren Politikangebot ist wesentlich unattraktiver als das ihrer Gegner.

Wie also kommen die Democrats aus dem Loch heraus, in dem sie gerade sind? Die Antwort ist eigentlich ziemlich eindeutig: Mehr Populismus wagen. Die Partei wird kaum umhin kommen, wieder aggressiver um die Stimmen der "Arbeiterklasse" zu werben. Allerdings bedeutet das etwas anderes, als es in den Redaktionsräumen gerne verstanden wird, wo unter "Arbeiterklasse" weiße Männer in Hardhat-Schutzhelmen verstanden werden. Dazu gehören auch Frauen und Minderheiten. Diese wählen oftmals gar nicht; einerseits wegen des furchtbaren Wahlsystems und seiner zahlreichen Hürden, andererseits, weil keine der beiden Parteien sich um ihre Belange zu kümmern scheint.

In dem Artikel "Building and maintaining a working class coalition" werden die Ergebnisse einer Studie zu exakt diesem Thema zusammengefasst, die das linke Magazin Jacobin mit dem Umfrageinstitut YouGov ausgearbeitet hat. Die Resultate der Studie über die Vorlieben der Arbeitendenklasse sind eigentlich wenig überraschend:

  1. Politiker*innen müssen über alltägliche Themen (Jobs, Wirtschaft, Gesundheitsversorgung, etc.) reden, in einer Sprache, die leicht verständlich ist
  2. Politiker*innen müssen populistische Angriffe gegen "die Eliten" fahren
  3. Identitätspolitik ist kein grundsätzliches Problem, aber bestimmte Begriffe (Stichwort #DefundThePolice) sind es.
  4. Kandidat*innen sollten am besten ebenfalls der Arbeitendenklasse entstammen
  5. Wählende der Arbeitendenschicht sind nicht automatisch progressiv
  6. Wählende der Arbeitendenklasse haben einen sensibleren Sensor für den Unterschied zwischen populistischen und progressiven Botschaften und bevorzugen erstere

Wir können diese Rezepte auch im Erfolg der Republicans oder in den Wahlkämpfen Obamas in diesen Wählendenschichten sehen.

  1. Sie haben mit sehr einfacher und greifbarer Sprache deutlich gemacht, dass sie für niedrige Steuern, großzügige Waffengesetze, gegen Migration und Abtreibung sind. Jede*r versteht das.
  2. Seit 2016 fahren sie routinemäßig Angriffe gegen dieselben Eliten, der sie selbst angehören und mit denen sie sofort danach auf teure Parties gehen. Diese kognitive Dissonanz hat keinerlei Schaden angerichtet. Obama übrigens auch nicht, der das Spiel gut beherrschte.
  3. Bei der Fähigkeit der Republicans, ihren Kulturkrieg in griffige, nicht polarisierende Schlagworte zu packen, können sich die Democrats eh eine Scheibe abschneiden.
  4. Mit Kandidat*innen aus der Arbeitendenklasse tun sich beide Parteien schwer.
  5. Die Republicans haben das hervorragend verstanden und fahren eine harte Identitätspolitik für diese Schichten. Trumps ostentativ schlechter Geschmack, das Schaulaufen bei NASCAR oder Waffenmessen, das rituelle Besuchen von Gottesdiensten dienen alle diesem Ziel, und sie tun es gut.
  6. Obama war stets hervorragend darin, in den Wahlkämpfen hier eine klare Unterscheidung zu treffen. So oft die Republicans es auch versuchten, es gelang ihnen bis Treyvon Martin 2013 nicht, Obama jeweils direkt in Verbindung mit den Aktivist*innen der Basis zu bringen - heute schaffen sie das, mit Ausnahme Bidens, routinemäßig.

Es ist daher ziemlich offensichtlich, welche Maßnahmen ergriffen werden müssten. Die Partei hat die Aufgabe vor sich, BEIDE Ränder zu bändigen - sowohl eine über das Ziel hinausschießende Linke als auch eine Rechte, die sich offen als Anwalt der 1% geriert und die Partei wie ein Mühlstein nach unten zieht. Wie sie das erreichen soll, ist dagegen schleierhaft. Entsprechend steht zu erwarten, dass 2022 ein Massaker wird, und die Gefahr ist groß, dass die Republicans 2024 erneut die Trifecta erobern und der Demokratie einen dieses Mal irreversiblen Schaden zufügen. Die Aussichten sind düster.

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