Der alte Mann am Fenster
Er ist der, den jeder kennt! In jedem Dorf, jeder Gemeinde, jeder Stadt ist er zu finden. Seine neugierigen Augen wachen über uns allen, die in seinem Sichtfeld zuhause sind oder dort Besuche machen. Von seinem Arbeitsplatz aus, hoch oben im dritten Stock, übersieht er alle Geschehnisse und Vorkommen, die in dem kleinen Straßenabschnitt zu bestaunen sind. Jede noch so winzige Kleinigkeit und Nichtigkeit wird von ihm sorgsam registriert und wenn nötig, auch sofort zur Anzeige gebracht. Von früh bis spät steht er an seinem Fenster, seinem Tor zur Welt, aufgestützt auf seinem Kissen, welches zum Schutz seiner verschränkten Arme unerlässlich erscheint. Der alte Mann hat seine Lebensaufgabe gefunden und geht darin vollumfänglich auf. Er ist der König seiner Straße. Er ist Sicherheitspersonal, Richter, Mahner und Verbreiter von Neuigkeiten in einer Person. Niemand kommt an ihm ungesehen vorbei. Falschparker sind ihm besonders ein Dorn im Auge. Doch auch unachtsame Zigarettenstummelwegwerfer bekommen seinen Zorn ab.
Lautstark und mit der Bestimmtheit einer Ordnungsbehörde, klagt er sie vor der ganzen Straße an.
„Wir sind hier in Deutschland! Hier herrscht Ruhe und Ordnung!“, sind nur zwei seiner Lieblingssätze, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und er sagt sie nicht einfach so daher, nein er zelebriert sie geradezu.
Früher, als seine Frau noch lebte, war das noch anders. Da hatte sie das Sagen und er hatte seinen angestammten Platz auf der Couch. Nur wenn sie staubsaugte, durfte er seine Füße hochlegen. Ohne Widerworte tat er es dann, stumm und willig, ohne ein böses Wort darüber zu verlieren. Da war sie noch die ungekrönte Königin des Viertels. Schon von Weitem war sie zu hören und die Leute versuchten fluchtartig in Hauseingängen einen Unterschlupf zu suchen.
„Sie kommt!“, konnte man dann ängstlich flüsternd überall vernehmen. „Sie kommt!“, war das geheime Codewort, was jeder bereits beim Einzug in die Straße, bereits von der Maklerin, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, anvertraut wurde. Noch bevor man den Wohnungsschlüssel ausgehändigt bekam. Alleine wegen ihr waren leerstehende Wohnungen nur schwer zu vermieten. Der Mann von „Sie kommt!“, hingegen war durchaus beliebt. Er war eher so der Typ: Leben und Leben lassen! Doch sein wahres Gesicht sollte noch zum Vorschein kommen. Jahrelang versteckte er es unter der Angst vor seiner Frau. Am Volkstrauertag, kaum ein paar Jahre her, da kam Unruhe in die kleine unscheinbare Straße. Nur selten hat ein fremder Wagen, der langsam und in Würde, in die Straße einbog, so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Schwarz und mit undurchsichtigen Fensterscheiben, fuhr er gemessenen Schrittes vor.
Sofort bildeten sich kleine Grüppchen von Anwohnern, von Neugierde gepeinigt. Alle wussten: Der Sensenmann hatte zugeschlagen.
Doch wer hatte das große Los gezogen? Wessen Batterie, seiner großen Lebensuhr, war der Saft ausgegangen? Alle waren von einer seltsamen Stimmung ergriffen.
Selbst der freilaufende Hund, das unfreiwillige Ergebnis eines rassenübergreifenden Rudelbumses, den alle nur liebevoll: „Hau ab, Köter“, riefen, schien betroffen. Nachdenklich und ganz melancholisch roch er verstohlen an seinem Hinterteil. Jeder hat eben seine eigene Art mit dem Tod umzugehen.
Vor dem Haus Nr. 13 hielt der Wagen an. Dem traurigen Anlass angemessen, stiegen zwei schwarzgekleidete Männer lachend aus.
Kaum ausgestiegen, zogen sie ihre dienstlichen Kopfbedeckungen auf und sofort verschwand ihr Lachen. Stattdessen erschien ein würdevolles Betroffenheitsgesicht, als ein wesentlicher Bestandteil ihrer beruflichen Darstellung nach außen. Eine gespenstische Ruhe kehrte in die Straße ein. Alle schwiegen. Selbst der „Hau ab, Köter“ stellte das Hinternlecken ein und auch die Flöhe, die bei ihm zur Untermiete sich eingenistet hatten, schienen erstarrt zu sein.
„Sie haben vor Nr. 13 angehalten“, flüsterte eine Frau ihrem Mann zu.
„Die 13 hat noch nie Glück gebracht“, gab er zurück, im Tonfall der Situation angemessen.
Dienstbeflissen öffnete einer der Subunternehmer des Sensenmannes die Heckklappe. Ein bedrohlich erscheinender und ockergelber Sarg aus massivem Pressspan, wurde aus dem Leichensarg herausgehoben. Die Unruhe, unter der sich weiter angesammelten Meute Schaulustiger, übertrug sich von einem zum Anderen. Doch dann wich die Unruhe einer heiteren Erleichterung, diesmal noch weiter im Roulette des Lebens weitermitspielen zu dürfen.
Unter mehrmaligem heftigen Anstoßens an dem Türrahmen, betraten zwei Männer und ein Sarg das Haus.
„Ihm wäre es ja zu wünschen“, stellte eine ältere Frau fest, die erleichtert darüber war, noch einmal davongekommen zu sein.
„Was wäre ihm zu wünschen? Das es ihn getroffen hat?“, erkundigte sich interessiert eine andere Frau, die genüsslich an einem Eis schleckte.
„Für ihn wäre es eine Erlösung, bei der Frau“, seufzte die alte Frau und es kullerte ihr eine Träne die Wange hinab.
„Und wenn es sie getroffen hat?“, meldete sich ein Herr und zündete sich eine Zigarette an.
„Da kann man ihm ja nur die Daumen drücken“, befand ein junger Mann, der bekannt für seine analytischen Äußerungen ist.
„Gott ist das spannend!“, rief eine Mutter mit Kinderwagen und setzte das Neugeborene an ihrer Brust an.
Dafür erntete sie einige unverständige und einen verstohlen lüsternen Blick. In diesem Moment hörte man das Zwölfuhrläuten der Kirchturmuhr, was dem Ganzen einen feierlichen Anstrich verlieh.
„Ach, wenn ich einmal von dieser Welt gehe, dann möchte ich auch das die Glocken läuten“, meinte die alte Frau sehnsüchtig.
„Ja ja, gutes Timing ist wichtig! Wer zum Zwölfuhrläuten geht, der spart sich das Kochen“, analysierte der analytische junge Mann messerscharf.
„Sie Zyniker!“, maßregelte ihn der Mann mit der brennenden Zigarette.
„Werter Herr, die Glocken unserer Kirche läuten nur um Zwölf und um Sechs zur Andacht. Außer sonntags! Da noch einmal viertel vor zehn zum Hochamt und gegen halb elf zur Wandlung. Wenn die ältere Dame also unter dem Läuten sterben möchte, so muss sie sich an die Zeitangaben der römisch-katholischen Kirche halten. Außer sie ist evangelisch, dann läutet niemand, weil die evangelische Kirche hier jetzt ein Viersternerestaurant ist.“
„Ach“, seufzte die alte Frau enttäuscht und senkte den Kopf. Nach einer kurzen Pause meinte sie nur kleinlaut: „Ich bin freigläubig und ohne Beitragszahlung.“
„Dann haben sie rechtlich keinen Anspruch auf ein Glockenläuten. Nur wer zahlt, dem gebührt diese Annehmlichkeit“, stellte der junge Mann empört fest. „Aber ich höre doch die Glocken, auch wenn ich nichts dafür bezahle!“, wandte die alte Frau ein.
„Aber illegal! Sie sind dann eine Schwarzhörerin. Zahlen sie wenigstens GEZ-Gebühren?“
„Ja“, meinte die alte, inzwischen eingeschüchterte alte Frau, die es mittlerweile bedauerte, überhaupt mit dem Thema begonnen zu haben.
„Na wenigstens etwas“, knurrte der junge Mann.
„Dann dürfen sie, soweit ich mich da auskenne, Fernsehglockenläuten während des Sterbens anhören. Da sind sie dann auch rechtlich auf der sicheren Seite und gelten nicht posthum als Betrügerin und Schmarotzerin am Gemeinwohl.“
Die alte Frau begann leicht zu zittern und hielt sich, leicht schwankend, an einer Hauswand fest.
Dann sank sie, in Zeitlupentempo, zu Boden, wo es weitaus bequemer für sie war, als die ganze Zeit zu stehen. Nachdem sie mehrere Minuten regungslos dort saß und ihre Augen aufgerissen waren, sah man, nach eingehender Besprechung, den Moment für geeignet, einen Notarzt zu bestellen. Zuvor wurde sie jedoch durchsucht nach einer Mitgliedskarte der Krankenversicherung. Zunächst fand sich nur eine ADAC Clubkarte und ein Bibliotheksausweis. Erst eine neuerlich angesetzte Leibesvisitation brachte eine AOK-Karte zum Vorschein und der Abschleppwagen konnte wieder abbestellt werden. Noch während alle geduldig auf den Krankenwagen warteten, erklang ein Leierkasten, der gerade in die Straße einbog. Geschoben wurde er von einem alten, ja man darf sagen, einem sehr alten Mann, der gleichzeitig die Kurbel des Leierkastens bediente, was einer kognitiven Meisterleistung gleichkam.
Begleitet wurde er von einem kleinen Rhesusäffchen, der so aussah, als wäre er frisch aus einem Forschungslabor für Kosmetika entkommen. Einige Stellen seines Körpers deuteten noch etwas Fell an und mit viel Fantasie konnte man sich vorstellen, wie er einmal ursprünglich ausgesehen haben mag, bevor er sich der Forschung hingegeben hatte. Aber für neue farbenfrohe Lippen muss man eben bereit sein, Opfer zu bringen. Der Drehorgelspieler freute sich über das rege Interesse der Leute, die eigentlich auf die Leiche warteten und erfreute sie mit alten Berliner Stimmungsliedern, die zum Tanzen einluden. Einige Wenige nahmen das gerne zum Anlass, ihre Beine auf Tanztauglichkeit auszutesten.
Erst das ungebührliche Verhalten irgendeines unsensiblen Signalhorns, was um die Ecke schnellte und mit übertriebenem Bremsgeräusch vor der Tanztruppe anhielt. Eine solche Störung erstickte natürlich sofort jegliches Vergnügen. Mit einem entsprechend Mürrischen: „Da!“, wurde auf die alte Frau verwiesen, die trotz zweifachen Aufforderns, nicht zum Tanzen hatte animieren lassen. Der alte Mann, der sich Hoffnung auf mehr gemacht hatte, handelte sich zwei wortlose Körbe ein.
Der Notarzt untersuchte die alte Frau ausgiebig.
Nach Überprüfung von Blutdruck, Puls und Festigkeit des Zahnersatzes konstatierte er seinen vorläufigen Befund und kam zu der Diagnose, dass die alte Dame verschieden war.
Er schloss ihr die Augen und seine Arzttasche.
Der Drehorgelspieler wechselte die Walze und entschuldigte sich wortreich dafür, dass er keine passende Abgangsmusik im Repertoire habe und spielte dafür:
„Adieu, mein kleiner Gardeoffizier, adieu,“
Inmitten der zweiten Strophe, wo bereits alle kräftig mitsangen, hörte man laut und vernehmlich Krach, der aus dem Haus Nr. 13 drang. Holzsplittern und zu Bruch gehendes Glas war deutlich zu vernehmen. Offensichtlich ging es los. Der gutgefüllte Sarg wurde durch das Treppenhaus gewuchtet. Schweißüberströmt traten die beiden Sargträger fluchend vor die Haustür und beschimpften sich gegenseitig wüst.
„Den Spiegel zieh ich dir vom Gehalt ab!“, rief der Vorantragende.
„Dann geh ich zur Gewerkschaft!“, drohte der Hintentragende.
Sicher hätte noch eine Weile ein Wort das Andere ergeben, vermutlich hin bis zur Kündigung, wäre nicht der junge Mann dazwischengegangen mit dem Zuruf: „Kundschaft!“
Die Aussicht auf einen dicken fetten Auftrag, ließ beide sofort verstummen.
Der Vorausgehende, der offenbar der Chef war, wies seinen Angestellten an, den Sarg abzustellen.
„Da haben sie aber Glück, dass wir schon da sind. Da sparen sie die Anfahrtskosten!“, rief der geschäftstüchtige Unternehmer, der dem Abschluss des Geschäfts mit sichtbarer Freude entgegensah. Er sah sich um und entdeckte, was für ein geschultes Auge nicht schwierig war, die alte Frau, die man zuvor, aus Pietätsgründen, von ihrer Sitzposition, in eine für sie angenehmere Liegestellung gebracht hatte.
Das Rhesusäffchen saß auf ihrem Bauch und hielt die Totenwache, während es an einer Banane knabberte.
Das war ein sehr rührendes Bild, was die Beiden da abgaben und dank modernster Technik, war es auch schon wenige Minuten später auf den Social Media Kanälen zu finden und bekam eine Menge Likes, worüber sich die alte Frau sicher sehr gefreut hätte. Auch die weiteren Videos, wie die Tote geschminkt wurde, die Aufbahrung mit offenem Sarg, die Beisetzung, dazu Interviews mit Augenzeugen, dem Notarzt, dem Beerdigungsunternehmer und, was besonders die Likes in die Höhe trieb, war, wie der Rhesusaffe auf ihrem Bauch saß und aß. Alle Videos wurden unterlegt mit der Drehorgelmusik. Sie wurde posthum der größte Internetstar, den die kleine Straße je hervorgebracht hat. Noch heute pilgern einige Hardcorefollower an ihr Grab und machen Selfies, die wiederum im Netz auftauchen.
Und so wird sie für alle Ewigkeit unvergessen bleiben, sie, die vorher niemand kannte.
Ihre Erben, die eigentlich davon ausgingen, außer ein paar abgetragenen Kittelschürzen und einem Schwarzweißfernseher ohne Fernbedienung, nichts unter sich aufteilen zu können, leben heute ganz gut von den Werbeeinnahmen. Heute gilt sie weltweit als ein Idol in der Influencerszene, denn sie hat es zu einer Berühmtheit gebracht, ohne sich dafür die Brüste machen zu lassen, geschweige sich für den Playboy auszuziehen. Man mag, angesichts ihres großen Erfolges, allen anderen Influencern zurufen: Nehmt euch ein Beispiel an ihr.
Doch nun müssen wir das Rad der Zeit wieder etwas zurückdrehen, denn noch ist die alte Frau nicht berühmt, sondern nur tot und liegt noch immer auf dem ungemütlichen Bürgersteig, umringt von der ausgelassenen Menschenmenge, die sich eben noch so sanft im Wind tänzerisch bewegt hat.
Der Beerdigungsunternehmer rieb sich die Hände.
„Eine Anfahrt, zwei Leichen, doppelter Umsatz! Heute läuft es wie geschnitten Brot“, dachte er so für sich und zeigte dabei sein spezielles Betroffenheitsgesicht, für das er von der ganzen Branche beneidet wird.
Im vergangenen Jahr erhielt er sogar von der Handwerksinnung, den goldenen Sarg am Band, für das ausdrucksstärkste Berufsgesicht.
„Nur mal so eine Zwischenfrage! Hier laufen bereits Wetten, wer in dem Sarg liegt. Vielleicht können sie uns das mitteilen, wenn es nicht gegen ein etwaiges Schweigegelübde verstößt“, meldete sich der junge Mann zu Wort, dem ja schlussendlich der Anschlussauftrag zu verdanken war.
„Es tut mir leid, aber in diesem Falle liegen widrige Umstände vor, die mich zwingen, die Identität geheim zu halten“, erklärte der Beerdigungsunternehmer.
„Wenn sie uns nur sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist, dann wäre uns schon geholfen“, versuchte der junge Mann es erneut.
Der Unternehmer fühlte sich mehr und mehr in die Enge getrieben. Aber die Hartnäckigkeit, die der junge Mann an den Tag legte, der imponierte ihm schon.
„Bitte bedrängen sie mich nicht. Ich würde es ihnen sehr gerne sagen, aber der Leichnam soll anonym beerdigt werden, meinte ihr Mann.“
„Na jetzt haben sie sich aber ins eigene Knie geschossen!“, jubelte die Frau mit dem Kinderwagen.
Laut und vernehmlich ließ der Beerdigungsunternehmer einen Fluch nach dem anderen los, die, hier zu wiederholen, nur das sittlich- moralische Empfinden der Leserschaft, nachdrücklich verletzen würde. Deshalb wird hier davon Abstand genommen und in die Obhut ihrer Fantasie überwiesen.
Durch seine unbedachte Indiskretion stand es nun felsenfest fest: „Sie kommt“ war tot.
„Oh mein Gott! Wie geht es ihm denn? Der arme Mann ist sicher am Boden zerstört“, entfuhr es dem Mann, der sich eine weitere Zigarette anzündete, besorgt.
„Ich bin zwar kein Psychologe und verstehe auch nicht viel davon, doch der alte Mann tanzt in der Wohnung. Es ist Wahrscheinleich seine Form von Trauerbewältigung“, erklärte der Beerdigungsunternehmer und versuchte damit seinen Schnitzer auszuwetzen.
„Hipp, hipp - Hurra!“, schallte es plötzlich aus dem Fenster und der alte Mann erschien. Er hing ein weißes Bettlaken, was an einem Besenstiel befestigt war, aus dem Fenster. Es sollte wohl ein symbolisches Zeichen der öffentlichen Bekanntmachung sein, dass „Sie kommt“ kapituliert hatte. Es war seine Form der Trauerbewältigung und gleichzeitig ein letztes Lebewohl.
Unterdessen waren die beiden emsigen Leichenentsorger damit beschäftigt den Sarg zu öffnen und die alte Frau zu „Sie kommt“ dazuzulegen.
Getreu dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid!
Unter freundlichem Abschiedsapplaus aller Umstehenden, fuhr der Leichenwagen von dannen. Die Aufregung legte sich und die Leute gingen nachhause.
Die Tage vergingen und es kehrte Ruhe und Eintracht in die Straße ein.
Doch die Ruhe war trügerisch! Bereits wenige Tage, nachdem die beiden Leichen beigesetzt waren, unter reger Anteilnahme der ganzen Straße, die sich das nicht entgehen lassen wollte, geschah Seltsames im Haus Nr. 13. Erste Vorboten, die auf eine seltsame Persönlichkeitsveränderung hindeuteten, wurde bereits während der Beerdigung sichtbar. Das Verhalten des alten Mannes, der seine Frau zu Grabe trug, wobei er dies, stellvertretend, vier ausgesuchten Männern überließ, die sich bei der Beerdigungsfirma als Tagelöhner verdingten. Er selbst sah dem bunten Treiben teilnahmslos zu. Die Zuschauer, die extra seinetwegen gekommen waren, um ihm zuzusehen, wie er sich auf einen wirksamen Nervenzusammenbruch hinarbeitete, wurden enttäuscht.
Er stand nur da, aufrecht, jedenfalls so aufrecht wie es ihm die Jahre seines Alters es noch ermöglichten. Keine Träne! Kein peinliches Jammern über den Verlust! Kein sich auf den Sarg werfen! Nichts von den üblichen Ritualen. Einige Zeugen dieser morbiden Festveranstaltungen behaupteten sogar, er hätte ein leichtes Lächeln auf den Lippen gehabt. Schon begann das übliche Tuscheln.
„Er lächelt verstohlen“, flüsterte eine Frau, die in auffälliges Schwarz gehüllt war, ihrem Nachbarn zu, der ebenso schwarz gewandet war, als hätten sie sich kleidertechnisch abgesprochen. Überhaupt war schwarz die dominierende Farbe bei jener Veranstaltung.
Von Ohr zu Ohr wurde das Gerücht weitergetragen. Das Getuschel wurde immer lauter und machte es dem Pfarrer nicht gerade eben leicht, seine Botschaft unter das Volk zu streuen. Missmutig sah er sich um und ihm blieb nur noch als letzte Waffe, um seine Autorität nicht zu gefährden, alle anzuhalten, in stillem Gebet der Toten zu gedenken. Langsam kehrte eine gewisse Totenruhe ein. Doch ob tatsächlich dabei der Toten gedacht wurde, ist mehr als fraglich. Wenn man jetzt in die Köpfe der Trauergemeinde hineinhören könnte! Na dann, tun wir es doch einfach!
„Das zieht sich ja wieder ... Die Mayersche hat Netzstrümpfe an ... Was war denn die Todesursache? ... Wer lächelt, der hat etwas zu verbergen ... Na, sie meinen doch nicht etwa ... Ich hab nichts gesagt ... Er soll ja nicht ganz unschuldig sein ... Gift! Sie glauben, er hat ... Weiß man es ... verstehen könnte ich es ja ... Ist ja auch schon verdächtig, dass keine Autopsie gemacht wurde ...“
Und am Ende des stillen Angedenkens an die Tote war man sich einig. Die Verblichene wurde ermordet. Und ab da sah man den Alten nicht mehr als den trauernden Witwer an, sondern als einen eiskalten Killer. Beim anschließenden Leichenschmaus, stets ein Höhepunkt, lag etwas in der Luft. Argwohn und Misstrauen!
Die zum Leichenschmaus Geladenen, beäugten ihn ganz genau. Er saß da, gebeugt über seinen Zwetschgenkuchen und ahnte nichts von dem, was da über ihn gedacht wurde. Denken ist das eine, es offen auszusprechen etwas anderes. Aber niemand war bereit, durch so eine Beschuldigung, die schöne Stimmung zu stören.
Und so behielten sie ihre bereits feststehende Meinung für sich. Doch als abends, zu vorgerückter Stunde, zum Tanz gebeten wurde, stand der alte Mann, der Witwer, der eiskalte Mörder auf und ging auf eine alleinstehende ältere Dame zu und sie zum Tanz aufforderte, gingen dieser die Nerven durch und sie schrie ihm ins Gesicht.
„Mörder!“, schleuderte sie ihm zu, rang nach Luft und fiel in Ohnmacht.
Sofort eilten alle zu ihr und bildeten einen Kreis um sie.
„Er hat es schon wieder getan! Er tötet mit seinen Augen!“, rief eine aufgeregte Stimme.
Alle Blicke richteten sich auf den alten Mann, der nicht verstand, was da vorging.
Doch der offensichtliche Augenmord erwies sich als ein Fehlalarm, denn die alte Dame erwachte aus ihrer Ohnmacht und es machte sich Enttäuschung breit.
Gerade, als alle glaubten, den alten Mann auf frischer Tat überführt zu haben, da machte die Dame ihnen einen Strich durch die Rechnung. Damit war das Fest auf dem Nullpunkt angekommen und niemand glaubte daran, dass sich daran noch etwas ändern würde und man verließ, übereilt die Veranstaltung, als hätte es Feueralarm gegeben. Zurück auf dem Schauplatz blieb nur der alte Mann und die von ihm zu zahlende Rechnung.
Die Tage vergingen, ohne dass die Straße den alten Mann zu Gesicht bekam.
Die Straßengemeinschaft patrouillierte abwechselnd vor Haus Nr. 13, in der Hoffnung, ihn doch noch des Mordes an seiner Frau und dem Mordversuch an der alten Dame überführen zu können. Selbst der erste Herbststurm konnte sie nicht an der Überwachung hindern. Auch der Kälte, die der erste Schnee mit sich brachte, trotzten sie trotzig. Doch dann, eines Tages, als schon niemand mehr daran glaubte, da geschah es. Oben, im dritten Stock von Haus Nr. 13 wurde das Fenster geöffnet. Der alte Mann erschien und unter größtmöglicher Anstrengung gelang es ihm, sich auf das Fensterbrett zu setzen und ließ seine alten Beine, die ihn kaum noch tragen konnten, aus dem Fenster baumeln.
Mit einem Lauten: „Yippi jeh!“, stürzte er sich, zur Verwunderung der herbeigeeilten Bewohner, aus dem Fenster.
In einem sehr unschönen, ja man darf sagen, desolaten Zustand, kam er auf dem Bürgersteig ungebremst an. Über die genauen Gründe dieses ungewöhnlichen Schrittes, sich zurück in die Gemeinschaft der Straße zu begeben, lässt sich im Nachhinein nur spekulieren, da eine Befragung durch ihn nicht mehr möglich war. Aus dem letzten Röcheln, was er noch kurz vor seinem Tode von sich gab, konnten keine aufschlussreichen Rückschlüsse mehr gezogen werden.
Wenig später, der alte Mann war längst vergessen, zog in das Haus Nr. 13 eine junge reizende Frau ein, die viel Freude in die kleine Straße brachte. Besonders bei den Männern war die Edelprostituierte sehr willkommen und sie bei ihr auch.
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