Der Auftragsmörder

Die Nacht war wolkenverhangen. Unmöglich für den Mond sich sichtbar zu präsentieren. Die Straße war noch nass von dem Regen des Tages. Nur das laute Klacken seiner Schuhe war zu hören. Keine Menschenseele war sonst unterwegs. Bei jedem Klacken seiner Schuhe zuckte er zusammen und sah sich ängstlich um. Erst nach und nach begriff er, woher dieses Klacken herrührte. Er hatte noch seine Steppschuhe an. Das war keine Absicht gewesen, sondern purer Zufall.
Denn er kam direkt vom Steppunterricht und hatte sich dort, inmitten einer Gruppenchoreografie, einen Nerv eingeklemmt, der seine körperliche Unversehrtheit massiv behinderte. An das Wechseln von Stepp- auf Straßenschuhe war nicht zu denken.
Als er an eine Ecke kam, blieb er abrupt stehen. Sofort hörte das an den Nerven zehrende Klacken auf.
„Was für eine Wohltat!“, dachte er. Es laut auszusprechen erschien ihm zu gewagt. Dann drückte er sich dicht an die Hauswand und spähte um die Ecke. Sein Atem stockte, als er, kaum hundert Meter entfernt, die Litfaßsäule entdeckte. Dort sollte das konspirative Treffen stattfinden. Die Litfaßsäule wäre fast nicht zu sehen gewesen, wenn sie nicht von der Glut einer Zigarette angeleuchtet werden würde.
„Das muss er sein!“, flüsterte er sich zu, wobei er eine Hand vor dem Mund hielt, die als Schallschutz gute Dienste leistete. Er sondierte die Lage und musste feststellen dass, nach allen Abwägungen, er wohl kaum unbemerkt die Säule erreichen können, dank der verräterischen Schuhe. Das laute Klacken könnte die ganze Straße aus den Betten reißen und wenn an allen Fenster plötzlich Menschen in hellen Zimmern stünden, wären seine Bemühungen, unerkannt zu dem Treffen zu gelangen, vollends gescheitert. Die Person, die ihn extra hierher bestellt hatte, würde vermutlich in der Dunkelheit unerkannt verschwinden. Ob er dann zu einem neuerlichen Treffen bereit wäre, man weiß es nicht. Denn er war vorsichtig. So jemanden findet man nicht einfach in den Gelben Seiten. Solche Leute leben im Untergrund, wie Ratten. Und genau so jemanden brauchte er, eine eiskalte Ratte, die skrupellos ist. Nur sind Ratten gemeinhin sehr vorsichtige und scheue Tiere. Wenn diese Ratte nun sein klacken hört, dann wird sie in der Kanalisation verschwinden. Das galt es unbedingt zu verhindern. Er sah noch einmal um die Ecke, vorsichtig, wie eine Katze, die vor dem Mauseloch lauert. Gerade noch konnte er sehen, wie die Glut der Zigarette verglühte.
„Wow!“, dachte er, „er hat bis zum Filter durchgeraucht. Das muss ein harter Hund sein, diese Ratte.“
Jetzt durfte er nicht mehr zögern, denn wer weiß, ob die Ratte noch auf eine Zigarette warten würde. Womöglich war es auch seine Letzte und nun muss er dringend eine neue Packung kaufen. Das wäre natürlich ein veritables Desaster. Doch wie sollte es ihm gelingen, lautlos zu der Litfaßsäule zu gelangen? Doch gerade, als er alle Hoffnung aufgeben wollte, erinnerte er sich an seine Jugendzeit, wo er seinen Sportlehrer mit stolz erfüllte, indem er den perfekten Handstand machte. Jahrelang hatte er diese Fähigkeit vollkommen vergessen, wohl auch, weil es wenig Verwendung dafür gab. Sofort probierte er aus, ob ihm ein Handstand noch gelingen würde. Und tatsächlich, es gelang ihm. Elfengleich machte er einen Aufschlag. Die Hände saugten sich am Asphalt fest. Mit dem dadurch erzeugten Schwung schwang er die Beine in die Lüfte und stand kerzengerade, doch mit schmerzverzehrtem Gesicht da. Leider hatte er in seinen Überlegungen den eingeklemmten Nerv gänzlich außer acht gelassen. Ein fataler Fehler! Ausgerechnet in einem Moment, wo man seinen Schmerzensschrei nicht frei artikulieren und in die Welt hinausschreien möchte, ist man zum Schweigen verdammt. Er biss sich auf die Lippen, in der Hoffnung, dass dieser Schmerz den anderen überlagern würde. Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Ein, nur von seinen Ohren vernehmliches Knacken und der Nerv hatte sich wieder dort eingeordnet, wo die Natur ihn vorgesehen hatte. Er öffnete befreit seinen Mund und das Blut der aufgerissenen Unterlippe lief in den Mund. Ohne seine akrobatischen Fähigkeiten wäre der Unterlippe dies sonst nie gelungen. So konnte das herauslaufende Blut wieder seinem Kreislauf zugeführt werden und eine Ausblutung, ähnlich dem von Schweinen, konnte er so entgehen. Dies kam auch seiner Standhaftigkeit zugute. Denn es stand ja noch eine weit größere Aufgabe vor ihm. Das lautlose Vorankommen, bis hin zur Litfaßsäule, die nun nicht mehr zu sehen war, dank der erloschenen Glut. Doch wie sollte er nun, handstandmäßig die Straße überschreiten, ohne das Signallicht, was ihm Orientierung geben konnte. Langsam sich vortastend, setzte er eine Hand vor die andere und hielt den anhängenden Körper im Gleichgewicht. Lautlos, so wie er es sich vorstellte, kam er Stück für Stück voran. Ob er sich der Litfaßsäule tatsächlich näherte, konnte er nur hoffen. Denn das Problematische am Handstand ist es, man sieht in die entgegengesetzte Richtung, in die man geht. Die fehlende Straßenbeleuchtung machte es auch nicht besser. Nachdem er einige Meter vorangekommen war, stieß er mit dem Hinterkopf an etwas Hartem an. Ein stummer Schrei war die Folge, der wegen seiner lautlosen Ausführung, folgenlos blieb. Kein Fenster erleuchtete sich, kein neugieriger Nachbar hielt seine Nase aus dem Fenster. Zwar spürte er, wie sich eine Beule am Hinterkopf herausbildete, doch sonst war er mit seiner sportlichen Leistung sehr zufrieden und insgeheim wünschte er sich dafür etwas Anerkennung. Doch Nichteinmal er selbst konnte seine akrobatische Höchstleistung begutachten, da es erstens stockdunkel war und zweitens, er ja in eine andere Richtung sah.
„Haben sie mich hier herbestellt?“, flüsterte plötzlich eine weibliche Stimme.
Er war so überrascht, dass er kurzfristig sein Gleichgewicht verlor und vornüber fiel. Elegant, was leider wieder niemand sah, landete er auf seinen Füßen.
„Ja, ich habe sie herbestellt. Mein Name ist ...!“
„Keine Namen!“, fuhr die Frau ihn an.
„Ganz wie sie wollen. Aber wie soll ich sie denn ansprechen?“
Dann war es einen Augenblick still. Offenbar suchte die Frau nach einem Decknamen, wie es bei Geheimagenten üblich ist.
„Sagen sie Castrop zu mir und ich nenne sie Rauxel!“, gab sie nach reiflicher Überlegung bekannt.
„Ja gerne. Hallo Frau Castrop!“
„Nur Castrop! Je weniger sie wissen, umso besser. Falls wir auffliegen, können sie mich nicht identifizieren. Verstanden Rauxel?“
„Jawohl Castrop, ich verstehe. Wir sind geschlechtslos!“
„Genau!“, zischte Castrop.
Rauxel zeigte sich beeindruckt von der Professionalität Castros. In diesem Augenblick hörte man ein Auto, was näher kam.
„Schnell, Augen schließen!“, rief Castrop aufgeregt. Rauxel folgte sofort der Aufforderung.
Der Wagen kam näher und leuchtete die Litfaßsäule an.
„Schnell, küssen sie mich.“, rief Castrop.
Rauxel tat es sofort, obwohl es nicht seine Art war, fremde Frauen zu küssen.
Der Streifenwagen kam näher und die beiden Polizisten lächelten.
„Ach schau, Zwei Schwule!“, meinte der Fahrer.
„Ja Schatz!“, sagte der Beifahrer und gab ihm einen Wangenkuss.
Dann bog der Streifenwagen in die nächste Straße ein, immer im Einsatz zur Verbrechensbekämpfung.
„Sie küssen gut, Rauxel!“, meinte eine hörbar atemlose Castrop.
„Danke, aber sie hätten mir vorher sagen können, das sie die Zunge zum Einsatz bringen. Mein Rotationszüngeln ist vielfach bereits mit großem lob bedacht worden.“, lobte sich Rauxel.
„Na ja, vielleicht kommt ja noch ein Auto!“, erwiderte Castrop hoffnungsvoll.
Ach, ich fürchte nicht. In dieser Gegend sind Autos Mangelware. Vielleicht hätten wir uns dann eher an einem Autobahnkreuz getroffen.“, lachte Rauxel verhalten.
Langsam dämmerte es Castrop, dass es langsam zu dämmern begann und dann drohte ihre Identität aufzufliegen. Deshalb beeilte sie sich, auf den eigentlichen Anlass ihres Aufeinandertreffens hinzuweisen.
„Ihrer Zeitungsannonce entnahm ich, sie suchen einen Auftragsmörder! Oder haben sie die Stelle bereits anderweitig vergeben?“
„Nein, bislang sind sie der einzige Bewerber. Haben sie irgendwelche Referenzen? Oder Zeugnisse? Das soll kein Misstrauen sein gegen ihre Fähigkeiten, aber ich suche zuverlässige Leute, mit denen man vertrauensvoll zusammenarbeiten kann.“, erklärte Rauxel.
„Angemeldet?“
„Was?“
„Handelt es sich um ein angemeldetes Arbeitsverhältnis? Weil, dann muss ich leider Abstand von meiner Bewerbung nehmen. Ich arbeite nur schwarz!“
„Gut das sie das Ansprechen, Castrop! Wir können das gerne auf Rechnungsbasis machen, wenn wir uns finanziell einigen können.“
„Ich habe einen festen Tagessatz, der nicht verhandelbar ist. Es sei denn, es gibt einen Folgeauftrag. Dann kann ich drei Prozent Skonto bei Barzahlung einräumen.“
„Ah, sie gewähren also eine Art Mengenrabatt!“
„Ja, zur Kundenanbindung. Das können sie alles in meinen Geschäftsbedingungen auf meiner Homepage nachlesen.“
Langsam konnten sie die Silhouetten des jeweils anderen erkennen.
„Sie, sie sind ja gar keine Frau! Aber ihre Stimme ist doch die einer Frau!“, erklärte Rauxel überrascht.
„Das war ein Special Effect! Ich habe eine Zusatzausbildung als Damenimitator!“, erklärte Castrop, nicht ohne Stolz.
„Wirklich beeindruckend! Sie küssen sogar wie eine Frau. Und ich kann das wirklich beurteilen.“
„Das hört man gerne! Dennoch sollten wir hier diese Location verlassen, wegen der Lichtverhältnisse. Um die Ecke steht mein Firmenwagen. Der hat Jalousien, die komplette Dunkelheit garantieren, laut Hersteller.“, drang nun Castrop zum Gehen und Rauxel folgte der Aufforderung. Und bevor noch der Tagesanbruch zur vollen Blüte erwachte, standen sie bereits vor Castrop`s Auto, der sich als ein ausrangierter Leichenwagen entpuppte.
„Schließen sie die Augen, bevor sie die Tür aufmachen, denn es geht automatisch ein Licht an und ich wäre gezwungen sie zu töten, weil sie mich dann sehen können.“
„Keine Sorge, Gesichter kann ich mir ganz schlecht merken.“, beruhigte Rauxel und schloss dennoch, aus purer Höflichkeit seinem Gastgeber gegenüber, seine Augen.
Castrop selbst stieg hinten ein, wo eine bequeme und gepolsterte Leichenwanne auf ihn wartete. Nun konnten sie, abhörsicher und in einem geschützten Raum sich befindend, den Auftrag besprechen, der zum Ziel hat, eine Wunschperson aus dem Leben scheiden zu lassen. Wenig später stieg Rauxel aus dem Wagen, froh darüber, einen so kompetenten Geschäftspartner gefunden zu haben, den er auch noch etwas im Preis drücken konnte. Auch Castro, zwar müde von den knallharten Vertragsverhandlungen, freute sich auf den Auftragsmord und blieb noch zwei Stunden in der Leichenwanne liegen und schlief sich erst einmal richtig aus.
Zwei Stunden später saß ein zufriedener Ehemann am Frühstückstisch, den seine Frau liebevoll ausdekoriert hatte.
„Kaffee, Schatz?“
„Gerne Liebling!“
Sie saßen sich gegenüber, lächelten sich zu und die Frau schenkte ihrem Mann Kaffee ein. Sie bemerkte dabei nicht, dass heute das Lächeln ihres Ehemanns hintergründiger war als sonst. Alles schien wie immer zu sein und doch war alles ganz anders, denn hinter der Fassade ehelichen Zusammenseins, loderte die Flamme der Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergehen würde. Er hatte den ersten Schritt gewagt in eine neue bessere Zeit.
„Der Kaffee ist zu stark!“, sagte plötzlich eine Stimme und durchbrach damit die sonntägliche Ruhe.
Das Grundübel, wie er sie nannte, wenn niemand in der Nähe war, hatte gesprochen, mit schneidender schriller Stimme, die jedes weichgekochte Ei, aus Angst, augenblicklich erhärten ließ.
Da half es auch nichts, dass die Eier von glücklichen Hühnern waren.
Er sah sie an und sie ihn und beide dachten dasselbe. Doch was sie dachten, sagten sie nicht.
„Das Ei ist zu hart und die Butter zu weich!“, dröhnte die keifende Stimme, die zwischen ihr und ihm saß.
Er ergriff das Messer und stieß es in sein Brötchen.
Er schnitt es nicht auf, er meuchelte es regelrecht. Seine Frau, die gedanklich voll hinter ihm stand, nahm nun ihrerseits ihr Messer und köpfte, in nie da gewesener Weise ihr Ei.
„Dotterweich, so wie es sein muss!“, provozierte sie und streute Salz, nicht nur in die Wunde, sondern auch auf das Ei.
Damit brachte sie sein Zwerchfell zum Erschüttern. Innerlich jubelte es, doch nach Außen drang nichts davon. Nur ein verschämtes Zuzwinkern, mehr wagte er nicht. So ging es nun schon seit zwei Monaten, Sonntag für Sonntag. Es blieb ihnen nur sechs Tage der Erholung, denn dann war es wieder soweit. Punkt acht Uhr wurde Sturm geläutet und trieb ein liebendes Ehepaar aus dem Bett und in den Wahnsinn hinein. Mutter und Schwiegermutter in einer Person! Freunde kommen und gehen. Von Ehepartnern kann man sich scheiden lassen. Kinder verlassen einmal das Haus. Nur Mütter bleiben einem, ein Leben lang erhalten. Und sie sind anhänglich. Ja, sie können geradezu lästig werden. Besonders wenn ihr Ehemann und wer könnte es ihm verübeln, vor ihr stirbt. Dann treibt sie die Langeweile, die Neugierde und ihr Kontrollzwang, hinaus in die Welt und ihr Weg führt unweigerlich zu ihrem geliebten Kind. Dass dies mittlerweile verheiratet ist, stört eine Mutter nicht weiter. Ohnehin war ihr der Schwiegersohn schon seit langem ein Dorn im Auge, weil er beruflich nicht den Erfolg hat, den sie sich vorstellte. Schwiegertöchter haben es sogar noch schwerer. Egal was sie tut, sie muss dem direkten Vergleich mit ihrer Schwiegermutter mithalten. Natürlich kann sie da nur verlieren. Keine Schwiegertochter der Welt vermag es, mit ihrer Schwiegermutter mitzuhalten. Selbst wenn sie diplomierte Physikerin und den Bachelor in Wirtschaftsinformatik besitzt! Auch ein Lehrstuhl in Harvard, eine Gastprofessur an der Columbia Universität, die Nominierung für den Friedensnobelpreis, all das bedeutet einer Schwiegermutter nichts, wenn die Schwiegertochter nicht vernünftig bügeln kann. Schwiegermütter haben da eine sehr eigenwillige Prioritätenliste. Für sie muss die Schwiegertochter ihrem Sohn, den Himmel auf Erden bieten. Eine Schwiegermutter wird nicht eher ruhen, bis alles nach ihrer Zufriedenheit läuft. Selbst auf dem Sterbebett wird sie noch Anweisungen geben, dass die Gardinen wieder einmal gewaschen werden müssten. Doch auch Schwiegermütter sind für etwas Gut. Ganze Wirtschaftszweige leben von ihr. Gerade das freie Unternehmertum profitiert davon und durch die Abgabe der Unternehmersteuer, auch der Staat und dadurch nicht zuletzt der Bürger. Sie sind im Wirtschaftskreislauf eine konstante Größe.
Davon kann auch Castrop ein Lied singen. Finanziell war er bereits auf dem sinkenden Schiff, als ihn die Offerte von Rauxel erreichte. Von seinem letzten Geld inserierte er in diversen Fachzeitschriften.
Schwiegermuttermörder hat noch Termine frei ;-)
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Er hatte sich erhofft, sein Angebot würde auf reges Interesse stoßen, doch außer Rauxel meldete sich niemand. Der jedoch schien fest entschlossen, die Dienste Castrops in Anspruch nehmen zu wollen. Nun saß Castrop an seinem Küchentisch und ersann den genauen Plan, wie er vorgehen sollte. Was er versäumt hatte mitzuteilen, war, dass dies sein erster Auftrag war. Theoretisch hatte er zwar, durch einschlägige Lektüre, einiges an Wissen sich angeeignet, doch an der praktischen Umsetzung, mangelte es ihm noch an Erfahrung.
Er war jedoch festentschlossen, diesen Job nicht zu versemmeln und es als große Chance zu sehen, sich in der Branche einen Namen zu machen.
„Erfolg macht sexy!“, war sein Geschäftsmotto und bei dem Blick in den Spiegel wurde ihm nur allzu deutlich vor Augen geführt, wie dringend er einen Erfolg verbuchen musste. Denn sobald er beruflich den Durchbruch geschafft hat, wollte er auch privat seine Situation ändern. Bislang scheute er vor festen Beziehungen ja noch zurück, weil da ja noch das Damoklesschwert „Schwiegermutter“ über ihm schwebte, doch dies war nun ja kein Hinderungsgrund mehr. Jetzt hatte er ja die Möglichkeit berufliches und privates in Einklang zu bringen, wenn die Situation es verlangte. Und mit Judith, einer freiberufliche Plakatkleberin, die er zufällig einmal tagsüber an der Litfaßsäule traf, hatte er eine Gemeinsamkeit, die Liebe zu Litfaßsäulen, die ja leider vor dem Aussterben bedroht sind. Ausgerechnet sie war es, die sein Inserat gerade dort anbrachte und ihn unverhohlen und bar jeder Scham, anlächelte. Und da Castrop noch unerfahren in Verführungskünsten war, ging er ihr auf den Leim.
Und wenn man etwas über Judith sagen kann, dann, das sie eine absolute Fachfrau in Liebesdingen war. Jedenfalls führte sie ihn sofort hinter die Litfaßsäule, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren.
Anfangs sträubte Castrop sich noch, doch als sie versicherte, Vollwaise zu sein, waren seine Bedenken wie weggeblasen.
Noch am selben Tag zog Judith bei ihm ein. In Bettenbelangen wies sie sich als Kennerin aus, während ihre hauswirtschaftlichen Leistungen zu Wünschen übrig ließen. Doch dies störte Castrop nicht sonderlich. Ihm war Schmutziges im Bett lieber als Schmutziges in der Küche. Nach einer Nacht des wilden und hemmungslosen Herumspielens an und mit seinem Gegenüber, stört auch eine hygienisch fragwürdige Kaffeetasse am Morgen nicht sehr.
„Schatz was machst du da?“
Im Türrahmen angelehnt, lässig und verführerisch, eingehüllt in einem Hauch durchsichtiger schwarzer Seide, welches ihre Knospen unverhüllt darboten. Ein Bild zum Anbeißen.
Doch Castrop riss sich zusammen. So schwer es ihm auch fiel. Da war das üppige Buffet angerichtet, wohlriechend und schmackhaft und er konnte nicht. Das heißt, er konnte schon, doch er zwang sich dazu, den Verlockungen nicht nachzukommen.
„Ach Liebling, verblöße dich bitte, denn die Ablenkung ist zu groß, die mir dein erfreulicher Anblick bereitet. Ich muss einen Plan ersinnen, dessen Durchführung sich mir noch nicht so ganz erschließt. Erst wenn der Auftrag erfüllt, können wir uns, uns wieder hingeben.“
Daraufhin schloss sie die Pforten der Sünde, unter einem laut vernehmbaren Seufzen.
„Das du mir aber das eben Erlernte nicht wieder vergisst!“
Mit dieser Mahnung zog sie sich zurück, in den Raum, wo ihre Fähigkeiten am besten zur Geltung kamen und wartete voller Ungeduld auf die Auffrischung dessen, was sie ihm mühsam vermittelte.
Castrop wartete, bis seine gedankliche Abkühlung vorbei war und er sich wieder auf das Zweitwesentlichste konzentrieren konnte, was das Leben einem gesunden Mann aufgetragen hat.
Die Vorfreude auf das Erwartbare und noch mehr auf das Unerwartbare, trieb ihn nun verstärkt an.
Rasch hatte er skizziert, wann, wo und wie er seinem Auftrag gerecht werden würde und ermattet von seiner enormen geistigen Leistung, schleppte er sich zurück in das Zimmer der sechsten Glückseligkeit. Dort harrte bereits, die inzwischen von Seide Befreite.
Nachdem Castrop einen Blick auf die Daliegende geworfen hatte, stellte er nüchtern fest, dass nicht nur sein Plan stand! Und da noch etwas Zeit war, nutzte er die Gelegenheit, dieses so attraktive und lecker angerichtete Buffet, in Gänze zu plündern. Vor- Haupt- und Nachtisch, er ließ nichts aus!

Weniger aufregend ging es hingegen im Hause Rauxel zu.
Der Hausherr war viel zu nervös und angespannt, um seine Frau an die ehelichen Pflichten zu erinnern. Danach stand ihm nicht der Sinn. Außerdem saß seine Schwiegermutter noch im Wohnzimmer und hätte es nicht zugelassen. Sie war da und wollte unterhalten und umsorgt werden. Misstrauisch beäugte sie gerade das Bücherregal auf Staubpartikel. Natürlich erwies sich ihre Spürnase als erfolgreich.
„Auf dem Goethe liegt ja der Staub von Jahrhunderten!“, informierte sie pflichtbewusst.
Castrop lächelte leicht vor sich hin, denn er wusste, bald hat es ein Ende mit ihr und die Vorfreude darauf konnte er nicht verbergen.
„Wir werden einen gründlichen Hausputz einlegen, sobald du gegangen bist.“, erwiderte Castrop in eindeutiger Zweideutigkeit.
„Noch bin ich aber da!“, stellte die Schwiegermutter fest und kontrollierte unbeirrt weiter.
Ihre Tochter begleitete sie bei dem Rundgang durch die Wohnung und notierte jeden hausfraulichen Makel, den ihre Mutter aufspürte. Nach Beendigung der Inspektion legte sie ihrem Mann die detaillierten Verstöße vor.
Die Schwiegermutter ließ sich schriftlich von ihm bestätigen, dass bis zu ihrem nächsten Besuch sämtliche Mängel beseitigt werden. Nur zu gerne ließ er sich zu einer Unterschrift hinreißen, denn er wusste, einen weiteren Staubappell wird es nicht mehr geben.
„Hast du nicht noch irgendetwas dazu zu sagen?“, mahnte ihn die Schwiegermutter, die sich wohl etwas mehr Zerknirschung erwartet hatte.
„Mutter wir danken dir dafür, dass du uns unsere vielfältigen menschlichen Fehler aufzeigst. Ohne dich würden wir im Dreck ersticken und es nicht einmal merken.“, sagte Rauxel, dachte aber: „Bald wirst du selbst zu Staub!“
Abends sahen sie sich dann noch „Vom Winde verweht“ an, so wie an jedem Sonntag, denn es war der absolute Lieblingsfilm der geschätzten Frau Schwiegermutter. Danach machte es sich Rauxel auf der Couch so bequem, wie es ihm möglich war, während Mutter und Tochter im Ehebett es sich gemütlich machten. In großer Vorfreude schlief er ein, denn der nächste Tag sollte der Tag der Erlösung sein.
Frühmorgens, die Damen schliefen noch, ging er frohgestimmt ins Büro. Voller Ungeduld wartete er auf die SMS von Castrop. Vereinbart war eine verschlüsselte Nachricht, die unverfänglich sein sollte. Sie hatten sich auf. „Herzlichen Glückwunsch“ geeinigt.
Doch die Stunden vergingen, ohne die erlösende Nachricht. Langsam wurde er nervös. Hatte Castrop zu viel versprochen? War er womöglich nur ein Hochstapler? Wenn dies der Fall sein sollte, würde er ihn mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgen.
Das Klopfen an der Tür riss ihn aus den düsteren Gedanken.
„Herein!“
Die Tür wurde geöffnet und ein kleiner dicker Mann trat ein.
„Chef, wir haben einen neuen Fall!“
Rauxel sah ihn an, öffnete die Schreibtischschublade, nahm seine Dienstwaffe raus und steckte sie ins Schulterhalfter. Unterdessen hielt ihm der kleine dicke Mann den Trenchcoat auf, in den er so geschmeidig hineingleiten konnte, umso unnötige Zeit zu verlieren.
„Was für einen Fall haben wir?“, erkundigte sich Rauxel, als sie die Polizeistation verließen und in den Dienstwagen einstiegen.
„Woher wissen sie von dem Fall?“, fragt der kleine dicke Mann überrascht.
„Meyer, sie haben doch gesagt wir hätten einen Fall!“
„Ja Herr Hauptkommissar! Aber ich habe nicht erwähnt, dass es sich dabei um einen echten Fall handelt.“
„Meyer, was reden sie denn da! Jeder Fall ist ein echter Fall.“
„Ja Chef, aber dieser Fall ist ...“
„Meyer, fallen sie mir nicht immer ins Wort. Diese Unart von ihnen ist mir schon lange unangenehm aufgefallen.“, rügte Rauxel.
Meyer wagte nicht, gegen den seiner Meinung nach, zu Unrecht erteilten Rüffel und schwieg fortan. Wenig später hielt der Wagen an.
„Meyer, wir haben einen Fall zu lösen. Weshalb fahren sie mich denn nachhause?“
„Weil hier der Tatort ist, Chef!“
„Ach so, ja dann!“, antwortete Rauxel und stieg aus.
Er nahm seinen Schlüssel und öffnete die Haustür.
„Kommen sie rein!“, lud er seinen Kollegen ein.
„Äh Chef, der Fall ist hier draußen!“, sagte Meyer und deutete auf den ersten Stock hoch.
Rauxel sah ihn an und folgte seinem Blick. Und tatsächlich, auf Höhe des ersten Stockes baumelte eine leblose Gestalt an einem Seil. Sofort erkannte er, um wen es sich bei diesem unappetitlichen Anblick handelte.
„Das ist meine Schwiegermutter!“, stellte er nüchtern und gespielter Überraschung fest.
Verstohlen sah er auf sein Handy, doch die SMS von Castrop war noch nicht da.
„Schlamperei!“, fluchte er leise, doch hörbar für Meyer, was diesem sofort merkwürdig vorkam.
„Von welcher Schlamperei sprechen sie denn Chef?“, bohrte er gleich erbarmungslos nach.
Rauxel bemerkte sofort, welch verhängnisvollen Fehler er gemacht hat und versuchte sich rauszureden.
„Es ist eine Schlamperei, das die Straße noch nicht abgesperrt worden ist. Wieso hängt die alte Frau da noch?“
„Woher wissen sie, dass es sich bei dem Opfer um eine alte Frau handelt? Von hier sieht man doch nur den Hinterkopf!“
Rauxel spürte, wie sein zweiter Fehler ihm beinahe das Genick brechen könnte, wenn ihm nicht eine schlüssige Antwort einfällt. Meyer verschränkte seine Arme und sah seinem Chef scharf in die Augen, eine untrügliche Methode, Verdächtige zu einem Geständnis zu bringen, was Rauxel ihm mühsam beigebracht hatte. Jetzt war Meyer dabei, diese Methodik gegen seinen Lehrer und Förderer anzuwenden.
„Sie hat einen Dutt. Gebildet aus einer Vielzahl einzelner grauer Haare. Ergo muss es sich um eine alte Frau handeln.“, antwortete Rauxel.
„Respekt Chef, von ihnen kann ich noch einiges lernen!“, rief Meyer und gab Rauxel, gratulierend für seinen Sachverstand, die Hand.
Rauxel ging mit seinen Augen eine Menschentraube ab, die sich vor dem Haus versammelt hatte. Alle blickten betroffen, angewidert oder schockiert, während sie mit ihren Handys Fotos oder kleine Videos aufnahmen. Nur eine Person stand da und suchte verzweifelt mit seinem Mobilgerät nach Empfang. Rauxel erkannte sofort Castrop, der scheinbar hilflos inmitten eines Funklochs stand.
„Kein Wunder, das ich noch keine SMS erhalten habe!“, dachte Rauxel.
In diesem Moment löste sich Castrop aus der Menschentraube und kam auf Rauxel zu. Jetzt musste Rauxel blitzschnell reagieren, damit Meyer nicht Eins und Eins addieren konnte und alles durchschaut.
„Meyer, welche Schuhgröße hat das Opfer?“
Sofort rannte Meyer zum Wagen hin, kramte im Kofferraum und kehrte mit einem Fernglas zurück. In dem Moment, wo Meyer angestrengt auf den Schuhsohlen nach einer Größenangabe suchte, trat Castrop an Rauxel heran und ließ diesen einen Blick auf sein Display gewähren, wo er „Herzlichen Glückwunsch“ lesen konnte und dem Hinweis „Nachricht konnte nicht versendet werden!“
Rauxel nickte ihm konspirativ zu und entnahm aus seiner Jackentasche diskret einen Umschlag und eine Flasche Wein.
Castrop nickte dankend und verschwand wieder in der anonymen Menschenmenge.
„Neununddreißig!“, rief Meyer aufgeregt.
„Und der andere Schuh?“, wollte Rauxel wissen.
Meyer riss erneut das Fernglas vor seine Augen und suchte habichtmäßig die andere Sohle ab.
„Dreiundvierzig!“, gab er zu Protokoll, nachdem er die Zahl entziffert hatte, die teilweise von einem Kaugummi verdeckt war.
„Dann kann es nur ein Einbrecher oder aber meine Schwiegermutter sein.“, kombinierte Rauxel.
„Bravo Chef, wie sie das wieder kombiniert haben!“, rief Meyer stolz, unter so einem Chef dienen zu dürfen.
„Meyer, geben sie mal das Fernglas. Wir wollen doch mal sehen, was der Tatort noch so verrät. Aha ... ah ja ... Tja Meyer, das sieht eindeutig nach einem Unfall aus.“
„Woraus schließen sie das, Chef?“
„Das liegt doch auf der Hand Meyer. Sie hängt nicht an einem Seil, sondern präzise an einem Staubsaugerkabel.“
„Aber Chef, woher wissen sie, dass es ein Staubsaugerkabel ist? Könnte es nicht auch von einem Toaster herrühren?“
„Meyer, Meyer, Meyer! Sie müssen noch viel lernen. Erstens, wir besitzen keinen Toaster und zweitens, hören sie nicht das seltsame Geräusch? So klingt nur ein Staubsauger, der noch in Betrieb ist. Eindeutig handelt es sich hier nicht um ein Verbrechen, es ist nur ein tragisch geendeter Haushaltsunfall, wie er täglich tausendfach vorkommt. Und da er zweifelsohne noch funktionstüchtig scheint, ist es nicht einmal ein Fall für die Hausratversicherung.“
„Wahnsinn Chef! Sie sind wirklich zu Recht mein Chef!“
„Ok Meyer, Danke für die Blumen. Ich werde heute einmal früher Feierabend machen und meiner Frau kondolieren. Wir sehen uns dann morgen im Büro.“
Dann wendete er sich an die anonyme Menschenmenge.
„Liebe anonyme Menschenmenge! Bitte kehren sie nun wieder in die Anonymität ihres Daseins zurück. Der Fall ist gelöst und wurde als Unfall mit einem hauswirtschaftlichen Hintergrund eingestuft. Mehr ist dazu nicht zu sagen! Ich danke ihnen für das entgegengebrachte Interesse und nun enteilen sie bitte.“
Für diese klaren Worte erhielt er freundlichen Applaus gespendet. Dann entfernte sich die amorphe Menschenmenge in Wohlgefallen auf.
Müde, aber glücklich von der Anstrengung des Tages, ging Rauxel in seine Wohnung und tat das, was ein guter und vorbildlicher Ehemann tut, wenn er nachhause kommt. Er schaltete den Staubsauger ab.
Um die zeit zu überbrücken, bis seine Frau von der Arbeit kam und aus Höflichkeit, schrieb er eine Glückwunschkarte an castrop. Er dankte für die gute Zusammenarbeit und wünschte ihm für die Zukunft alles erdenklich Gute.
Ein lautes Bremsgeräusch verriet ihm die Ankunft des Leichenwagens, dessen Alarmierung wohl auf eine Eigenmächtigkeit Meyers zurückzuführen war, was ihm einen Verweis einbringen dürfte. Er ging zum Fenster und winkte den beiden Men in Black freundlich zu, die gerade klingeln wollten.
„Sie brauchen nicht rauf zu kommen. Hier ist gerade frisch geputzt. Ich lasse sie runter!“, rief ihnen Rauxel hilfsbereit zu.
Vorsichtig zog er den Stecker des Staubsaugers aus der Steckdose, doch konnte er das Gewicht, welches am anderen Ende des Kabels unfreiwillig befestigt war, nicht halten und stürzte versehentlich aus dem Fenster und landete, neben seiner toten Schwiegermutter, auf dem harten Asphalt, wo er sein gutbürgerliches Leben aushauchte.
Wochen später erfreute sich seine Ehefrau an zwei ausgezahlten Lebensversicherungen in nicht unbeträchtlicher Höhe!
Herr Meyer erhielt eine Belobigung und wurde befördert. Er ließ es sich auch nicht nehmen, der Frau seines verstorbenen Kollegen zu kondolieren, und zog wenige Tage später, mit einem nigelnagelneuen kabellosen Staubsauger ein und übernahm auch die private Position seines Chefs.
Herr Castrop blieb sich und seiner Passion treu und steht weiterhin des Nachts, im Dunkeln an der Litfaßsäule. Für die Wintermonate hat er sich zuhause eine gemütliche Dunkelkammer eingerichtet, wo er potenzielle Geschäftskunden empfängt.

  

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