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Seit dem 18. Oktober 2017 ist Osman Kavala in Ankara inhaftiert. Der Erbe des Millionenunternehmens Kavala Companies widmete sich seit 2002 ausschließlich der politischen Oppositionsarbeit, förderte Umwelt- und Friedensprojekte und gründete Kunst- und Kulturzentren. Seine Inhaftierung ist nicht nur laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Menschenrechtsverletzung, sondern auch ein Lehrstück über die Konstruktion eines Feindbildes, das völlig ohne eine innere Logik auskommt.
Die Vorwürfe lauten auf Versuch der gewaltsamen Abschaffung der verfassungsmäßigen Ordnung und des gewaltsamen Regierungssturzes. Zunächst hieß es, er habe die Gezi-Bewegung von 2013 organisiert, die im Narrativ der AKP-Regierung und im Bewusstsein ihrer Anhänger*innen längst als traumatische Beinahe-Revolution abgespeichert ist. Wie nahezu jede fortschrittliche Entwicklung im Land werden diese Proteste von vielen Konservativen für eine Intrige der yahudi lobisi, der „jüdischen Lobby“ gehalten. Kavala unterhält tatsächlich Kontakte zu dem ungarisch-jüdischen Philathropen George Soros, seinerseits Projektionsfläche unzähliger antisemitischer Verschwörungserzählungen der internationalen extremen Rechten. In diesem Kontext wird Osman Kavala zum Handlanger einer jüdischen Verschwörung stilisiert.
Im Dezember 2019 urteilte der EGMR, Kavalas Inhaftierung verstoße wegen offensichtlicher Unbegründetheit der Vorwürfe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Zwei Monate später wurde er tatsächlich von den Gezi-Vorwürfen freigesprochen und aus der Haft entlassen – um nach wenigen Stunden wieder verhaftet zu werden. Der neue Vorwurf: Organisation des gescheiterten Putschversuch der Gülen-Bewegung im Juli 2016.
Bemerkenswert ist, dass die Staatsanwaltschaft zugleich Berufung gegen den Freispruch eingelegt und Ermittlungen gegen die freisprechenden Richter eingeleitet hat. Man gibt sich also immer noch überzeugt, dass Kavala neben dem Putschversuch auch hinter den Gezi-Protesten steckt. Das ist eine in sich unschlüssige Geschichte. Die türkischen Behörden erzählen von einem Mann, der sich jahrelang für linke Ideen einsetzt, 2013 einen linken Umsturz orchestrieren will, damit scheitert und es drei Jahre später mit einem Militärputsch durch islamisch-konservative Kräfte versucht. Wäre dieser Putsch gelungen, hätten die Gülenisten einen streng religiösen Militärstaat errichtet, während die Gezi-Proteste im Erfolgsfall eine Demokratisierung und Liberalisierung im Land bewirkt hätten. Niemand kann sowohl das eine als auch das andere wollen, und jede*r in der Türkei weiß das. Kavala müsste als Einzelperson innerhalb von drei Jahren nicht nur die gesamte Führungsriege der türkischen Armee, sondern auch die jahrzehntealte und millionenschwere Gülen-Bewegung unterwandert haben, damit das alles irgendeinen Sinn ergibt. Das ist unmöglich. Und auch das weiß jede*r.
Aber die Feindbilder einer Diktatur brauchen keine innere Kohärenz. Während die bürgerliche Demokratie ihre Feinde mit der Hufeisentheorie zwar moralisch gleichstellt, aber wenigstens noch inhaltlich auseinanderzuhalten weiß, macht die AKP-Regierung sich diesbezüglich überhaupt keine Bemühungen. Nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, nicht nur die Menschenrechte, auch die Gesetze der Logik werden in der Türkei zunehmend eine Frage des Kräfteverhältnisses.
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