Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
Die kürzlich veröffentlichten Protokolle des Corona-Krisenstabs der Bundesregierung offenbaren einige fragwürdige Entscheidungen während der Pandemie. Im Juli 2020 drängte die Türkei erfolgreich auf eine Aufhebung der Reisewarnung für ihre touristischen Gebiete, trotz Bedenken des Gesundheitsministeriums. Dies führte zu zahlreichen Corona-Einschleppungen aus der Türkei, was später zur Wiedereinführung der Reisewarnung im November 2020 führte. Des Weiteren zeigen die Protokolle einen übermäßigen Kauf von Desinfektionsmitteln durch das Gesundheitsministerium, das 7,9 Millionen Liter für 50,2 Millionen Euro erwarb, von denen 6,7 Millionen Liter später zu einem Bruchteil des Preises weiterverkauft wurden. Zudem suchte die Bundesregierung Influencer, um Misstrauen gegenüber den klassischen Medien zu bekämpfen und bezahlte rund 489.000 Euro für deren Beiträge zur "Corona-Warn-App-Kampagne". Ein bemerkenswertes Detail ist das Fehlen eines Protokolls einer wichtigen Sitzung im März 2020, in der eine "Schockwirkung"-Strategie vorgeschlagen wurde. Die genauen Gründe für das Fehlen des Protokolls wurden nicht erläutert. (Tagesschau)
Für mich laufen auf diesem Themenfeld zwei Dinge nebeneinander und durcheinander. Auf der einen Seite haben wir die Korruptionsvorwürfe gegen Jens Spahn und andere CDU-Politiker*innen in der sogenannten Maskenbeschaffungsaffäre. Soweit mein beschränktes Verständnis reicht, haben die sich persönlich bereichert, aber auf einer technisch legalen Art. Dazu kommt, dass es sich um bürgerliche Politiker*innen handelt, bei denen solche Verstöße eher akzeptiert werden, weswegen das keine großen Konsequenzen hatte. Auf der anderen Seite geraten gerade viele verschiedene Beschaffungen aus der Corona-Ära in die Kritik, weil sie entweder zu teuer oder überdimensioniert waren. Das finde ich eher wohlfeil. Zum einen ist man hinterher immer schlauer, und ich will nicht wissen was losgewesen wäre wenn entscheidende Vorräte gefehlt hätten, weil die Politik um ein paar Millionen zu sparen wenig geordert hätte. Das ist mal wieder so ein Feld, auf dem man effektiv nichts richtig machen kann und wo der Zeitdruck, die sich ständig entwickelnde Lage und die unklaren Informationen einfach bedacht werden müssen und man nicht die Covid-Erkenntnisse von 2024 auf 2020 anwenden kann. Das gilt natürlich auch für Jens Spahn.
2) "Nicht rechtsextrem und nicht linksextrem, wir sind transextrem"
Sahra Wagenknechts Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), wächst langsam, weil neue Mitglieder eingehend geprüft werden. Das BSW verfolgt eine zentralistische Struktur, bei der die Führungsebene die Mitglieder auswählt. Diese Methode erinnert an den "Demokratischen Zentralismus" Lenins. Die Partei ist besonders in Ostdeutschland erfolgreich, wo sie bei den bevorstehenden Wahlen an die Macht kommen könnte. Viele Mitglieder des BSW sind ehemalige Linke-Politiker, die sich von ihrer alten Partei entfremdet haben. Sie kritisieren, dass die Politik in Deutschland zu sehr von städtischen Eliten und parteilichen Interessen bestimmt wird und setzen auf pragmatische Lösungen. Das BSW ist ideologisch breit aufgestellt und vereint Positionen verschiedener Parteien. Ziel ist es, die AfD zu stoppen und das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. (Marcus Jauer, ZEIT)
Der BSW ist echt eine weirde Partei. Sie durchschneidet die klassische politische Gesäßgeografie (Wagenknechts Rede vom "Linkskonservatismus" ist glaube ich eine ziemlich zutreffende Selbstbeschreibung) und ihre Organisation und Aufbau entspricht überhaupt nicht klassischen Mustern. Wie bereits die LINKE und im Trend die AfD ist sie eine ostdeutsche Regionalpartei. Es gibt Anknüpfungspunkte zu SPD und CDU. Komplett fremd sind ihr FDP und Grüne. Eine der größten Auffälligkeiten ist die geringe Anziehungskraft auf die AfD-Wählendenschaft; selbst von der FDP gibt es mehr Wechselwählende zum BSW als von der AfD, was den Berufsapologet*innen der Rechtsradikalen durchaus zu denken geben sollte. Ich bleibe allerdings skeptisch, was die dauerhafte Etablierung des BSW angeht. Wagenknecht ist keine gute Führungskraft, und ob der Rest des Ladens das Auffangen kann, wird sich zeigen.
Siehe zum Thema auch diesen Kommentar in der Welt.
3) The world’s next food superpower
Die Araku Valley in Indien hat sich von einem von Armut und Gewalt geprägten Gebiet zu einer erfolgreichen landwirtschaftlichen Region entwickelt. Früher betrieben die Bewohner Brandrodungslandwirtschaft, heute bauen sie hochwertigen Kaffee an, der in Europa und in Cafés in Bangalore, Mumbai und Paris verkauft wird. Dies zeigt, wie mit den richtigen politischen Maßnahmen auch andere ländliche Gebiete Indiens ähnliche Erfolge erzielen könnten. Indien hat seit den 1950er Jahren Fortschritte in der Landwirtschaft gemacht, kämpft jedoch weiterhin mit Ineffizienzen. Obwohl die Landwirtschaft fast die Hälfte der indischen Arbeitskräfte beschäftigt, trägt sie nur 15 % zum BIP bei. Subventionen und Regulierungen verzerren die Anreize und beeinträchtigen die Produktion. Höhere Erträge könnten Indien zu einem bedeutenden Akteur auf dem globalen Agrarmarkt machen und die wirtschaftliche Lage verbessern. Das Beispiel der Araku Valley zeigt, wie kooperative Ansätze und Investitionen in hochwertige landwirtschaftliche Produktion den Wohlstand steigern können. Doch um landesweite Fortschritte zu erzielen, müssen strukturelle Probleme wie unzureichende Bewässerung, fehlende Infrastruktur und geringe Mechanisierung angegangen werden. Die Regierung sollte vermehrt in Forschung und Entwicklung investieren und überflüssige Eingriffe in den Markt beenden, um nachhaltiges Wachstum zu fördern. (The Economist)
Effizienzsteigerungen in der Landwirtschaft sind, zumindest wenn man nach Joe Strudwells "How Asia works" geht, das Erfolgsrezept für den Aufstieg der asiatischen Volkswirtschaften. Sie waren stets der erste Schritt, ob in Japan, Südkorea oder China (oder aktuell in Vietnam), wenn es um den Wachstumskurs dieser Region geht. Dass Indien eine furchtbar ineffiziente Landwirtschaft hat, erklärt auch das starke Auseinanderfallen der unterentwickelten ländlichen Regionen gegenüber den Wachstumshubs. Wenn Indien diese Steigerungen realisiert, worum es hier im Economist ja geht, würde das einen weiteren großen Agrarexporteur schaffen - mit einerseits großen Herausforderungen für Klima und Umwelt, die immer an solchen Entwicklungen einhergehen, als auch entsprechenden Chancen durch die Effizienzsteigerung. Und das wäre globalpolitisch relevant.
4) Warum das verpflichtende Mathematik-Abitur weg muss
In einigen Bundesländern Deutschlands, wie Bayern, Sachsen und Hessen, ist das Mathematik-Abitur verpflichtend. Dies führt bei vielen Schülern zu erheblichen Schwierigkeiten, da sie komplexe mathematische Konzepte und Formeln lernen müssen, die sie in ihrem späteren Berufsleben wahrscheinlich nie wieder benötigen. Viele Schüler sind in Mathematik schwach, was nicht ihre Intelligenz infrage stellt, sondern lediglich eine Fachunbegabung bedeutet. Es wird argumentiert, dass junge Menschen gegen Ende ihrer Schulzeit durchaus in der Lage sind, selbst zu entscheiden, welche Fächer für ihre beruflichen Ziele relevant sind. Ein Beispiel ist jemand, der Germanistik studieren möchte und dafür keine Vektorrechnung braucht. Es wird daher gefordert, dass Schüler die Möglichkeit haben sollten, ihre Abiturprüfung in einem Fach abzulegen, das für ihre Zukunft nützlicher ist. Bayern plant ab 2026, das Mathematik-Abitur optional zu machen. Diese Flexibilität sollte deutschlandweit eingeführt werden, da nicht jeder Beruf tiefgehende mathematische Kenntnisse erfordert. So wie ein Bäcker kein Metzger sein muss, muss ein Germanist keine komplexen mathematischen Funktionen beherrschen. (Felix Kühn, Welt)
Es ist eine Dauerdiskussion, die sich ständig zwischen zwei Polen bewegt. Auf der einen Seite ist das Abitur die "allgemeine Hochschulreife", das heißt, sie befähigt zum Studium jedes Fachs an allen deutschen Universitäten. Daher erfordert sie auch eine breite Basis an Kompetenzen. Das ist stets das Argument für die Standards; 2004 etwa führte Baden-Württemberg verbindliche
5) Vergesst den Globalen Süden!
Der Fall der Berliner Mauer 1989 offenbarte, dass die Zustände hinter dem Eisernen Vorhang vielfältiger waren als zuvor angenommen. Statt eines einheitlichen Ostblocks gab es unterschiedliche Kulturen und politische Eigenheiten. Der Historiker Timothy Garton Ash zeichnete damals ein differenziertes Bild dieser Vielfalt, was lehrt, dass grobe Vereinfachungen irreführend sind. Heute wiederholt sich dieses Phänomen mit dem "Globalen Süden". Länder wie Burundi und Südafrika werden pauschalisiert, obwohl der Süden extrem divers ist. Trotz großer Herausforderungen haben viele dieser Länder bedeutende Fortschritte gemacht, beispielsweise im Kampf gegen Kindersterblichkeit und Analphabetismus. Afrika und Südasien erleben aufregende Entwicklungen, mit Ländern wie Nigeria und Kenia, die sich als aufstrebende Wirtschaftsmächte etablieren. Der schwedische Arzt Hans Rosling zeigte in seinem Buch "Factfulness", dass sich die Welt langfristig verbessert, was oft übersehen wird. Solche positiven Entwicklungen, wie Mindestlöhne für Künstler im Senegal oder Schulen für Mädchen in Kambodscha, geben Hoffnung und Perspektiven für eine bessere Zukunft. (Ullrich Fichtner, Spiegel)
Die Vorstellung, die Hälfte der Weltbevölkerung in eine Kategorie packen zu können, ist natürlich inhärent albern, keine Frage. Auf der anderen Seite sind Vereinfachungen aber in einem gewissen Ausmaß auch notwendig. Die Welt ist viel zu komplex, als dass man ohne sie auskäme. Die Frage für mich ist daher weniger, ob hier Diversität unberechtigt eingestampft wird, sondern wie nützlich die entsprechende Kategorie ist (wir reden ja auch von "dem Westen" und packen da reichlich diverse Länder rein, und trotzdem ist es eine sinnvolle Kategorie). Hier allerdings hat Fichtner völlig Recht: die Kategorie ist nicht sonderlich zielführend. Es gibt natürlich nicht so etwas wie eine offizielle Definition, aber da wird definitiv zu wenig differenziert. Aber: ich habe das Gefühl, dass die Kategorie ohnehin fluide gebraucht wird. Spricht man über Ökonomie, ist "der globale Süden" eher die Gruppe der unterentwickelten Länder; spricht man über die Reaktionen zu Gaza, gehört plötzlich auch eine Nation wie Südafrika oder Indien dazu. Das ist jedenfalls mein Eindruck.
Resterampe
a) Kunststoffabgabe kommt 2025 für die Unternehmen. Richtig so. Abschaffung von Subventionen und Regeln über den Preis.
b) Genderverbote: Bayerns Kultusminister Anna Stolz setzt nun sogar Paarformen („Schülerinnen und Schüler“) auf den Index. Nein, nein, die CSU macht keinen Kulturkampf, nein.
c) Why are conservatives such damn gold bugs?
d) Ricarda Lang: Auch Grünen-Co-Chefin kritisiert Friedrich Merz' Eurofighter-Flug. So ein Blödsinn. Politik hat auch eine Pflicht zur Inszenierung.
Fertiggestellt am 24.07.2024
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