Die Taliban stehen nur noch Tage vor der kompletten Eroberung Afghanistans. Seit dem Abzug der letzten NATO-Truppen im Juni haben sie einen unaufhaltsamen Vormarsch hingelegt. In rascher Folge fielen die Außenposten wie Mazar-el-Sharif und Kandahar, die die letzten zwanzig Jahre, wenn Afghanistan in den Nachrichten auftauchte, im Zentrum standen. Die afghanische Armee, zwanzig Jahre lang mit unzähligen Milliarden und unter großem Beratungsaufwand aufgebaut, fiel zusammen wie ein Kartenhaus, noch schneller als die irakische Armee angesichts des Vormarsch des IS anno 2014. Der afghanische "Präsident", Aschraf Ghani, verkündete bereits am 14.08.2021, er wolle keine Schritte unternehmen, die "nutzlos Leben fordern", was einer Kapitulationserklärung gleichkommt. Das Spektakel überraschte in seiner Geschwindigkeit, aber nicht in seinem Ablauf. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass die Taliban nicht zumindest einen Großteil des Landes erobern würden. Schon unter der NATO-Militärpräsenz war es nie gelungen, das Land auch nur ansatzweise der Kontrolle der Regierung in Kabul zu unterwerfen; nun war bestenfalls darauf zu hoffen, dass einige urbane Zentren längerfristig standhalten würden, während der Großteil der ländlichen Regionen in der Düsternis der fundamentalistischen Taliban-Herrschaft versinken würde.
Entsprechende Voraussagen waren kein Geheimnis. So wurde in der amerikanischen Debatte über den Abzug viel darüber debattiert, dass die afghanische Luftwaffe - ausgestattet und trainiert von der US Air Force - keine sechs Monate flugfähig bleiben konnte, weil mit dem Abzug der Amerikaner auch die contractors das Land verließen, die für die Wartung der Maschinen zuständig und notwendig waren. Dieses spezifische Problem stellt sich nun als irrelevant heraus. Ein Zeitraum von sechs Monaten ist wesentlich zu großzügig gerechnet. Dies überrascht offensichtlich die Planer*innen in allen westlichen Ländern (und, man darf vermuten, auch die Beobachtenden in anderen Nationen und vermutlich die Taliban selbst).
Die Gründe dafür sind Legion. Letztlich aber sind sie gerade in ihrer Vielzahl die eigentliche Botschaft. Kevin Drum hat einige Analysen der führenden Zeitungen zusammengetragen und kam auf die folgende Liste an Gründen:
- Hubristic nation building.
- Starry-eyed constitution writing.
- Wildly unrealistic military training.
- Vast corruption.
- Lack of food and weapons for Afghan soldiers.
- Bad negotiating from the Trump administration.
- Afghan leadership void.
I'm glad everyone is finally able to admit this now that the war is over, but it sure sounds like it's been common knowledge for at least a decade. This is why I think it's folly to suggest that things would have been any different if we'd waited another six months before withdrawing.
Das kann man wohl unterschreiben. Tatsächlich ist mir niemand persönlich bekannt, der daran geglaubt hätte, dass der Afghanistan-Einsatz zu einer dauerhaften Stabilisierung des Landes führen würde. Dass das Land nach dem Abzug der NATO-Truppen wieder an die Taliban fallen würde, zumindest zu großen Teilen, galt als ausgemacht und gehörte ja mit zum Repertoire der ständigen Rechtfertigungen der Verlängerung des Einsatzes: wenn man ginge, entstünde eine Katastrophe, also müsse man bleiben. Das Schlimme ist, dass das ja offensichtlich stimmte. Es ist müßig darüber zu sinnieren, wann der "richtige Moment" für den Abzug kam. Die Neocons argumentieren bereits eine neue Dolchstoßlegende herbei, etwa der Erz-Neocon Robert Kagan am 13.08.2021 in der New York Times, der sich nicht entblödete, unter der Überschrift "Joe Biden could have stopped the Taliban. He chose not to" dem Präsidenten die Schuld an den Geschehnissen zu geben und zu erklären, dass sechs weitere Monate der Stationierung ganz bestimmt die Wende gebracht hätten. Einen "richtigen Moment" für den Abzug gab es nie und hat es nie geben können.
Ich würde an der Stelle gerne darauf verweisen, dass die Lektionen des Afghanistan-Einsatzes Politik und Medien sicherlich noch lange beschäftigen werden, aber das ist eher unwahrscheinlich. Stattdessen ist offensichtlich, dass die westlichen Gesellschaften ihre Hände so schnell wie möglich in Unschuld waschen und diese 20 Jahre verdrängen wollen. Letztlich ist es das, was wir die letzten zwei Dekaden auch gemacht haben. Afghanistan spielte in der Innenpolitik, abgesehen von einigen wenigen Momenten, in denen es kaum zu ignorieren war - etwa beim Karfreitagsgefecht 2010 - keine Rolle. Die Verlängerungen des Afghanistan-Mandats waren rituell, sowohl weil es keine echte Alternative gab als auch, weil das Heft des Handelns ohnehin nicht bei Deutschland lag, wie man ja auch beim Abzug gesehen hat. Sowohl die Entscheidung zum Abzug als auch der Zeitplan waren komplett von den USA diktiert, und die Bundeswehr hätte nicht länger bleiben können, selbst wenn sie es gewollt hätte (noch früher abziehen).
Und was für ein Abzugsplan das war! Noch unter Trump war die geschmacklose Entscheidung getroffen worden, den Abzug spätestens zum Datum des 11. September 2021, dem zwanzigsen Jahrestags der Anschläge auf das World Trade Center, abgeschlossen zu haben. Die Signalwirkung war deutlich; es handelte sich um eine komplette Interpretation des Einsatzes um die Eigenperspektive der USA, von Anfang bis Ende, in der Afghanistan und das afghanische Volk keinerlei Rolle spielten. Joe Biden gelang es, diese Geschmacklosigkeit noch zu überbieten, indem er den Abzug beschleunigte und auf "vor den 4. Juli 2021" legte, der als amerikanischer Unabhänigkeitstag keinerlei Bezug zu Afghanistan hat, aber einen amerikanischen Triumph insinuiert.
Die USA immerhin haben sich nicht in die Tasche gelogen, was das Schicksal Afghanistans anging, und die mit ihnen verbündeten Ortskräfte vergleichsweise großzügig evakuiert. Sicherlich hätten sie mehr tun können, aber sie retteten eine fünfstellige Zahl von Menschen zusammen mit ihren eigenen Truppen. Demgegenüber verhielten sich die europäischen Verbündeten wesentlich schlechter. Großbritannien etwa weigert sich, Ortskräfte zu evakuieren, die nicht direkt von der Regierung, sondern von contractors angeheuert wurden, weil man mit denen ja nichts zu tun habe. Die ohnehin bedenkliche Privatisierung des Krieges zeigt sich hier von ihrer zynischsten Seite.
Aber auch das Verhalten des Vereinigten Königreichs verblasst gegenüber dem massiven Verrat, den Deutschland an seinen Ortskräften begeht. Man versinkt vor Scham im Boden gegenüber dem, was unsere Regierung fabriziert. Noch vergangene Woche (!) bestand etwa Innenminister Seehofer darauf, afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland abzuschieben und fabulierte von "sicheren Zonen", die dies ermöglichten. Nun, nur Tage später, sind sowohl Mazar-el-Sharif als auch Kabul selbst gefallen, der afghanische Präsident und sein Vize geflüchtet und die zurückgelassenen Ortskräfte verstecken sich in Todesangst in den Häusern von Freunden und Verwandten und schreiben verzweifelte Nachrichten an ihre ehemaligen deutschen Kolleg*innen.
Dieses bedenkenloses Zurücklassen von Ortskräften hat System. Anders als die meisten anderen NATO-Länder weigerte sich die Bundesregierung, Vorkehrungen für die Rettung und Aufnahme von Ortskräften zu treffen. Obwohl der Bundestag bereits 2012 (!) erstmals die Regierung dazu aufforderte, wurde dies nicht getan; gleichwohl behaupteten die entsprechenden Stellen, diese Vorkehrungen getroffen zu haben - eine glatte Lüge. Noch am 23. Juni beschloss der Bundestag mit den Stimmen von CDU, SPD und AfD, keine afghanischen Ortskräfte aufzunehmen. Das Kalkül scheint gewesen zu sein, dass die Taliban langsam vorrücken und bis zum Jahreswechsel brauchen würden, um das Land zu erobern, so dass das Thema aus dem Bundestagswahlkampf herausgehalten und zum Problem der nächsten Regierung gemacht werden konnte, eine widerwärtige Verantwortungslosigkeit sondersgleichen, die aber zum Charakter gerade Horst Seehofers passt.
Die Verantwortung für das Afghanistan-Debakel ist aber eine überparteiliche. Der Krieg begann unter einer rot-grünen Regierung, die die Weichen für die Dauer-Anwesenheit stellte (wenngleich der Wandel des Mandats in Richtung nation building erst in die Regierungszeiten Angela Merkels fiel). Er wurde auf Autopilot unter Schwarz-Gelb weitergeführt, während deren Regierungszeit das größte militärische Debakel, das Karfreitagsgefecht, stattfand, und er wurde unter Schwarz-Rot ebenso auf Autopilot ständig weiterbetrieben und abgenickt. Es ist äußerst unglaubwürdig zu behaupten, dass irgendeine deutsche Regierung der vier etablierten Parteien diese Politik irgendwie anders gestaltet hätte; zu groß waren wie gesagt die Pfadabhängigkeiten einerseits und die technisch-logistischen Abhängigkeiten von den USA andererseits. Nicht mit Ruhm bekleckert hat sich aber auch die LINKE, die zwar beständig ablehnte, die Mandate zu verlängern und den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderte, aber nie eine Antwort dafür parat hatte, wie das mit den Verbündeten bewerkstelligt werden sollte (wobei fairerweise die dadurch ablaufende Sabotage der deutschen NATO-Mitgliedschaft im Interesse der Partei wäre...) oder was danach mit Afghanistan geschehen sollte. Und die AfD forderte zwar auch gerne populistisch ein Ende des Einsatzes, beschränkte sich aber ansonsten gerne darauf, so hart wie möglich mit den Flüchtlingen umzugehen.
Nein, Deutschland hat sich unglaublich schlecht verhalten, als ganze politische Einheit. Das Geschrei der letzten Tage, die Bundeswehr möge mit Shuttle-Flügen rund 20.000 Ortskräfte evakuieren, ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls zynisch. Die Bundeswehr hat dazu überhaupt nicht die Mittel. Und mit dem Fall Kabuls und der offiziellen Kapitulation der aghanischen Regierung ist ohnehin jede Basis dafür zerstört. Die Bundesregierung hat im Juni, im Juli und im August sehenden Auges beschlossen, diese Menschen einem grauenhaften Tod in den Händen der Taliban zu überlassen. Mögen Maas und Seehofer dafür in der Hölle schmoren.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: