Wenn im Herbst die Blätter geordnet über die Sollbruchstellen zu Boden fallen, bedeutet dies den Aufbruch in befreite Zeiten. Auch wir Menschen sollten diese Sollbruchstellen aktivieren und Ballast abwerfen und dadurch die Demokratie stärken. Demokratie stärken bedeutet aber mitmachen, also aktiv werden.

Bis dato ist unsere Zeit eingehaust von Ritualen - von Silvester über Ostern, Sommerurlauben, Oktoberfesten und Halloween bis hin zu den Orgien der Wertvernichtung gegen Ende des Jahres rund ums Weihnachtsshoppingfest. Von diesen “Festen” können wir uns nur schwer verabschieden, oder können es uns nicht vorstellen, auch weil der soziale Druck zu hoch scheint. Jetzt, wenn im Herbst die Blätter an der Sollbruchstelle geordnet von den Bäumen fallen, kann man bemerken, dass Abschied und Aufbruch, sowie Aufbruch und Festhalten oft nah beieinander liegen. Wenn man aber immer an allem krampfhaft festhält, und sich nicht ändern will, kann die Zukunft nicht geordnet über die Bühne gehen, sondern endet vielleicht in einem Fiasko. Das gilt für das Individuum, wie auch für das Kollektiv. Wenn man sich nackt vor den Spiegel stellt, sollte man sich zwischendurch fragen, ob der Mensch, den man sieht - mit all seinen Problemen (psychisch, physisch, optisch, gedanklich etc.pp.) -, in der Lage ist, andere Menschen auf Dauer zu missionieren, oder Planeten “retten” zu können, und das auch, wenn man sich selbst nicht ganz im Griff hat. Das soll nicht bedeuten, dass man sich nicht für das Gemeinwohl einsetzen soll - ganz im Gegenteil! Demokratie bedeutet mitmachen, sich beteiligen und sich für die Mitwelt interessieren, statt Niedermachen, Nichtzuhören und Besserwissen. Standortbestimmungen sollen aber zuerst an sich selbst gestellt werden, statt immer nur an die anderen.

Das eigene Tempo durch Standortbestimmungen zu praktizieren ist wichtig, weil die Schnittstelle, an der die Geschwindigkeit unserer geistigen Fähigkeit mit der der technologischen zusammentrifft, zum Problem wird. Auch die Natur kommt mit dem Tempo-Wahn von uns Menschen nicht mehr mit. Dabei ist das Problem nicht die Geschwindigkeit, sondern die Schnittstelle, an der sie auf die Geschwindigkeit von anderen trifft. Biber fällen seit Jahrtausenden Bäume, die dann wieder genug Zeit haben um nachwachsen zu können. Wenn wir aber mehr Bäume fällen als nachwachsen können ist das ein Problem der Schnittstellengeschwindigkeit. Die Folgewirkung der materiellen Eigengeschwindigkeit der Natur und jene der technologischen menschlichen fallen auseinander. Wenn sie also weniger Geld zur Verfügung haben als ihnen die Werbung vorgibt (Kauf auf Kredit), dann wird sich das rächen. Und wenn sich das für mehr Menschen rächt, wird das zu einem Problem für die Demokratie. Denn der Zorn, der uns umgibt, weil wir nicht alles kriegen können was wir wollen, wird mehr. Von brauchen kann man meistens nicht mehr sprechen, wenn es um den Neid geht, was der andere hat. Da geht es meistens nur um das, was wir wollen sollen. Dieser Bedürfnisindustrie muss man weitgehend widerstehen. Sie ist die größte Kampagne, um Menschen unzufrieden zu machen, auch Werbung genannt. Sie ist aber auch wertvoll, schließlich geht es uns so gut, wie kaum Generationen zuvor. Der Kapitalismus ist nicht das Problem. Es ist die Unfähigkeit uns selbst individuell Grenzen zu setzen und den Unterschied zwischen “brauchen” und “wollen” zu erkennen, sowie das Gefühl von individueller Zufriedenheit aktiv verfolgen zu wollen. Das kann nicht staatlich verordnet werden. Es muss aktiv erarbeitet werden, mit Standortbestimmungen.


Mag. Dr. Wolfgang Glass ist Politologe und hauptamtlich Sanitäter in Wien
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