Die Anthroposophische Medizin gehört meiner Ansicht nach zu den irrwitzigsten aller irrwitzigen alternativen Verfahren. Rudolf Steiner (1861-1925) hat sie in Zusammenarbeit mit seiner Geliebten, der Ärztin Ita Wegman (1876-1943), entwickelt. Sie basiert auf Steiners "Philosophie" der Anthroposophie, Steiners persönlichen Erfahrungen, okkulten Vorstellungen und mystischen Konzepten sowie homöopathischen Einflüssen. Steiner verfasste gemeinsam mit Wegman sein letztes Buch mit dem Titel "Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen”, das die theoretischen Grundlagen der anthroposophischen Medizin darstellt. Wegman war auch Mitbegründer der pharmazeutischen Firma "Weleda", dem heutigen Marktführer in anthroposophischen Heilmitteln. Die Befürworter der Anthroposophischen Medizin stellen mehrere recht bizarre Annahmen auf, z.B. behaupten sie, dass ein früheres Leben unsere gegenwärtige Gesundheit beeinflusst, oder dass der Verlauf einer Krankheit durch unser "karmisches" Schicksal bestimmt wird. Diese Postulate entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage.
Aber nicht alles, was in der Medizin zunächst einmal unplausibel erscheint, ist auch unwirksam. Aus dem anthroposophisch ausgerichteten Krankenhaus Havelhöhe in Berlin werden beispielsweise gute Erfolge mit Anthroposophischer Medizin berichtet. Sollte also vielleicht doch was dran sein an der anthroposophischen Medizin?
In einem Interview mit Prof. Dr. Harald Matthes, dem ärztlichen Leiter und Geschäftsführer des Krankenhauses, gab es dazu folgendes zu lesen: „Es gibt bisher kein spezifisches Covid-19- Medikament aus der konventionellen Medizin. Remdesivir führt in Studien zu keinem signifikant verbesserten Überleben, sondern lediglich zu einer milden Symptomreduktion. Die anfänglich große Studie vor allem an Universitätskliniken mit Hydrochloroquin und Azithromycin erbrachte sogar eine Steigerung der Todesrate. Daher haben anthroposophische Therapiekonzepte mit Steigerung der Selbstheilungskräfte eine große Bedeutung erfahren. Wichtige anthroposophische Arzneimittel waren dabei das Eisen als Meteoreisen oder als Ferrum metallicum praep., der Phosphor, das Stibium sowie das Cardiodoron® und Pneumodoron®, aber auch Bryonia (Zaunrübe) und Tartarus stibiatus (Brechweinstein). Die Erfolge waren sehr gut, da in Havelhöhe bisher kein Covid-19 Patient verstorben ist, bei einer sonstigen Sterblichkeit von ca. 30% aller Covid-19-Intensivpatienten.“
Keine der genannten anthroposophischen Mittel sind evidenzbasiert. Zudem sind sie so hoch verdünnt, dass eine Wirkung undenkbar erscheint. In einem weiteren Interview berichtete Matthes mehr Einzelheiten: „Seit Oktober 2020 hat das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe 199 Patienten mit Covid-19 behandelt und als genesen entlassen. Mit Stand vom 19. Februar werden zehn Patienten auf der Intensivstation und sechs Patienten auf der Isolierstation behandelt. Bisher sind 37 Personen mit einer nachgewiesenen Corona-Infektion in der Klinik verstorben. (…) Derzeit liegt die Sterberate im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe bei allen Covid-19-Patienten zusammen bei 18,5 Prozent. Unsere Therapieergebnisse auf der Isolierstation und den Intensivstationen sind keinesfalls schlechter als in den anderen Berliner Level-2-Krankenhäusern – und weisen eher in die andere Richtung. Die komplementären und unterstützenden Angebote werden von den Patienten gut angenommen und als sehr hilfreich empfunden. Die Patientenzufriedenheit ist daher sehr hoch.“ Die genannten 18.5% entsprechen also ziemlich genau den Durchschnittswerten für Deutschland. Was soll also das Getue um gute Erfolge?
Seit Beginn der Pandemie sind so ziemlich alle Quacksalber, die man sich nur denken kann, auf den COVID-Zug mit lauthals tönenden Fehlmeldungen über die Wirksamkeit ihrer Mittel aufgesprungen. Auf meinem Blog (edzardernst.com) tue ich seit einem Jahr kaum mehr etwas anderes, als diese als Scharlatanerie zu entlarven. Hinter den Versuchen, uns weiß zu machen, dass gerade ihre Form des Irrwitz den Durchbruch gegen Corona beinhaltet, steht entweder der unsättigbare missionarische Drang von Sektisten oder der plumpe Versuch Kohle zu machen oder beides.
Ja, aber was, wenn die anthroposophischen Mittel doch helfen? Hat Matthes dann nicht Recht oder sogar die Pflicht, an die Öffentlichkeit zu gehen und die Tatsachen auf den Tisch zu legen?
Nein!
Erstens sind seine ‚Tatsachen‘, wie oben dargestellt, etwas irreführend. Und zweitens ist das Verhalten aller Scharlatane, die behaupten, eine alternative COVID-Therapie gefunden zu haben, im höchsten Masse unethisch.
Die einzig richtige Vorgehensweise wäre es, die Ergebnisse sauber und transparent zu dokumentieren und dann schleunigst zu publizieren, um sie so zur Diskussion zu stellen. Nur so kann die Validität von bizarren Behauptungen überprüft werden, und nur so ist es denkbar, dass eines Tages eine Innovationen vielleicht doch der Allgemeinheit zu Gute kommt.
Zur Publikation seiner Daten, hatte Matthes nun ausreichend Zeit gehabt. Meine Suchen in der Datenbank ‚Medline‘ (heute am 12.3.2021) haben jedoch keine solche Veröffentlichung gefunden.
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