„Sie sind ein sehr, sehr kranker Mann!“
Doktor Meningitis schüttelte angewidert und hochprofessionell sein schütteres Haupt. Er nahm eine Trillerpfeife, die er um den Hals hängen hatte, zur Hand und pfiff hinein. Der Mann, der vor ihm auf der braunen Ledercouch lag, erschrak.
Die schwere, ebenfalls im gleichen Leder bezogene Tür öffnete sich und eine mittelälterliche Dame, mit dem Hang zu aufdringlichem Lippenstift, erschien.
„Ja Sigmund, du hast gepfiffen?!“
„Ich weiß!“, war die ungehaltene Antwort des Psychiaters.
„Und?“, gab die Frau zurück und wartete ungeduldig auf das Begehr des Arbeitgebers.
„In Anwesenheit eines Patienten möchte ich mit Herr Doktor angesprochen werden, Mutter!“, rüffelte er die Frau.
„Ja Sigmund!“, entschuldigte sich die Frau, die, was aus dem Gespräch herausgefiltert werden konnte, zweifelsfrei seine eigene Mutter war.
Leise schloss die so Gescholtene die Tür hinter sich. Diese Maßnahme, die für alle Beteiligten überraschend kam, veranlasste den Arzt dazu, erneut die Trillerpfeife zu benutzen. Der Mann auf der Couch zuckte erneut zusammen. Offenbar handelte es sich um einen sehr nervösen Patienten, der sich krampfhaft an der Couch festhielt. Abermals wurde die Tür geöffnet. Und die grauhaarige Frau, die der Psychiater freimütig als seine Mutter outete, schaute herein.
„Du hast gepfiffen, Herr Doktor Sigmund!“, sagte sie, in einem mütterlich ironischen Tonfall.
Auf der Stirn des Psychiaters bildete sich eine Sorgenfalte aus, die ihn noch strenger, noch einschüchternder, noch kompetenter erschienen, ließ.
„Ja!“, stellte er knapp fest und sah drohend zu seiner Mutter hin.
Es war ein Blick, den sie nur allzu gut kannte.
Bereits als Pubertierender versuchte er, so seinen Willen durchzusetzen. Auch schon damals ignorierte die Mutter diesen kläglichen Versuch von Aufmüpfigkeit einfach.
„Mutter, ich möchte jetzt nicht gestört werden. Der Patient hier braucht meine volle Aufmerksamkeit.“
Nun gehören Mütter bekanntermaßen nicht zu dieser Sorte von Mensch, die die Schuld bei sich suchen.
Der Vorwurf war zwar in den Raum geworfen, doch die Mutter war nicht bereit, ihn anzunehmen, und ging sofort in eine spontane Verteidigungshaltung. Sie verschränkte die Arme, ein untrügliches Zeichen für jedes Kind, jetzt gibt es Ärger!
„Mein lieber Sohn, wer pfeift denn hier die ganze Zeit! Niemand stört dich, nur du selbst tust das. Aber wir können gerne sicherstellen, dass du ab jetzt vollkommen ungestört bist. Gib mir die Pfeife!“
Sie streckte fordernd und keinen Widerspruch duldend, ihre schrumpelige und mit Altersflecken übersäte Hand aus.
Der Mann auf der Couch, der längst seine Augen fest geschlossen hatte, da ihn das Gefühl überkam, es handele sich um ein Privatgespräch, das er keinesfalls belauschen wollte, öffnete neugierig sein linkes Auge. Der Doktor stand direkt vor seiner Mutter und hielt krampfhaft die Trillerpfeife fest.
Die Mutter hatte, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, einen Blick aufgesetzt, den jeden in Angst und Schrecken versetzen könnte. Der Patient, der in einer plötzlichen Schockstarre dalag, schloss eingeschüchtert sofort wieder das Auge.
Ab da hörte er nur noch, was für seine Ohren nicht bestimmt war.
„Die Pfeife!“
„Nein Mutter!“
„Junge sei nicht bockig.“
„Mutter, du bringst mich in eine peinliche Situation. Du zwingst mich dazu, dir eine Abmahnung zuzustellen.“
„Sigmund, wenn das dein Vater noch erlebt hätte, wie du mit deiner alten Mutter umspringst!“
„Mutter! Vater ist nicht tot, er ist abgehauen!“
„Für mich ist er tot!“
Und immer dann, wenn eine Mutter nicht weiter weiß, der Lüge überführt ist oder einfach nur trotzig ist, zieht sie ihr letztes Ass aus der Bluse. Sie beginnt zu schluchzen und erinnert noch einmal an die Schmerzen der Geburt, die sie, nur wegen ihm, durchlitten hat.
„Sechsunddreißig Stunden lag ich in den Wehen. Unerträgliche Schmerzen. Und das ist nun der Dank!“
Er kapitulierte! Wortlos legte er die Trillerpfeife in ihre Hände und ging gesenkten Kopfes zurück auf seinen Stuhl. Siegreich, wie einst Cäsar, verließ die Mutter das Zimmer, um im nächsten Blumenladen sich einen Lorbeerkranz binden zu lassen.
„Sehen sie mich an, wenn ich ihnen helfen soll!“, wies der Psychiater seinen Patienten an.
Dieser kam augenblicklich der Forderung nach. Dies gab Sigmund wieder einiges an Selbstvertrauen zurück, was dringend erforderlich war.
„Wo waren wir noch gleich stehengeblieben?“, erkundigte er sich, denn offensichtlich hatte er den Faden seiner Behandlung verloren.
„Sie sagten, ich solle mich hinlegen!“, meinte der Patient leise.
„Richtig! Ja dann schildern sie mir nun, was sie zu mir führt. Erzählen sie mir alles wahrheitsgemäß und schonen sie sich und mich nicht. Nur dann kann ich ihnen helfen.“
Dabei spielte er nervös an seinem Hemd, wo zuvor die Trillerpfeife an einer kette hing. Noch war ihm nicht klar, wie er den Arbeitstag ohne seine Pfeife durchstehen sollte. Er stand rasch auf, ging zu seinem Schreibtisch und schrieb eine kurze Notiz.
„Zweittrillerpfeife besorgen!“
Dann begann er seine Pfeife zu stopfen und steckte sie an. Ein süßlicher Duft erfüllte den Raum. Zufrieden zog er daran und man sah ihm die Freude an, denn sie machte kein Pfeifgeräusch und somit bestand keine Notwendigkeit, das seine Mutter hereinplatzen würde, um ihn bloßzustellen. Er schloss die Augen und genoss die Ruhe und Entspannung, die von der Pfeife ausging. Wenigstens einmal am Tag, so war sein Credo, braucht ein Mann seine Auszeit und die Freiheit nahm er sich nun. Doch der ungetrübte Genuss währte nicht lange, denn ein intensives Hustgeräusch kam ihm zu Ohren. Doch ein Mann wie er, Psychiater und Therapeut, der zudem vollkommen in sich ruht, der kann unliebsame Nebengeräusche einfach ausblenden. Doch dieses Husten war in seiner Penetranz kaum noch auszublenden. Seine Geduld wurde auf das Ärgste strapaziert. Er entschied sich, seine Tiefenentspannung zu unterbrechen und die Lärmquelle zu lokalisieren und anschließend auszumerzen. Der Entschluss war gefasst und musste nun in die Tat umgesetzt werden. Zunächst entriegelte er den Sichtschutz, indem er seine Augen behutsam öffnete. Sofort drang Künstliches, gepaart mit Tageslicht ein. Und die Quelle der lautstarken Belästigung war sofort ausgemacht. Der Mann auf der Couch hustete sich die Seele aus dem Leib!
Augenblicklich entdeckte er wieder den Arzt in sich und begann sofort mit der Anamnese.
„Ihr Husten hört sich aber nicht gut an. Ich vermute ein Bronchialkarzinom!“, diagnostizierte er folgerichtig.
„Es ist ganz plötzlich aufgetreten!“, röchelte der Couchliegende.
„Ja, todbringende Krankheiten melden sich nicht an. Unverhofft sind sie da und dann ist es meist zu spät. Aber sie können von Glück sprechen, gerade zu mir gekommen zu sein, denn ich habe eine Zusatzqualifikation als Palliativbegleitung. Die verbleibenden stunden werde ich ihnen so angenehm wie möglich gestalten. Ich habe eine große Bibliothek mit vielen DVDs! Wie wäre es mit: Spiel mir das Lied vom Tod oder den Krimiklassiker: Du lebst noch 195 Minuten?“ Der Mann auf der Couch war immer mehr in sich zusammengesunken. „Herr Doktor, ich möchte ihre Diagnose, die sicher aus profundem Wissen herrührt, nicht anzweifeln, aber vielleicht könnte ein geöffnetes Fenster die Lage ein wenig entspannen!“   Durchdringend sah der Psychiater auf seinen Patienten. Dann stand er auf und öffnete das Fenster. Sofort drang frische lebensbejahende Luft in das Zimmer und vertrieb Rauch und Gestank. Als hätte er nur darauf gewartet, stellte der Husten seine Aktivitäten ein. „Dann wollen wir mal!“, erklärte der Arzt, zog seinen Sessel näher an die Couch und nahm Platz. Er rückte seine Hornbrille auf die Nasenspitze und betrachtete das, was da auf der Couch lag. „Zunächst möchte ich sie aufklären!“ „Nicht nötig, dass haben meine Eltern bereits getan!“ „Nein, nein. Nicht was sie denken!“, lachte der Psychiater über alle Maße, als hätte er gerade den besten Witz seit Langem gehört.  „Ich möchte sie über meine Behandlungsmethoden in Kenntnis setzen. Entgegen jeder althergebrachten wissenschaftlich fundierten Ansicht, duze ich meine Patienten und erwarte dies, als Zeichen gegenseitiger Respektbezeugung, auch von ihnen. Mein Name ist Sigmund!“ „Freut mich. Ich heiße Alfred. Aber Freunde nennen mich Fred!“ „Dann nenne ich sie Alf! Hallo Alf!“, sagte Sigmund und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Hallo Sigmund!“, erwiderte Alfred, genannt Alf und drückte die ihm ausgestreckte Hand.  „Alf, was führt dich zu mir?“ „Ach Sigmund ...“ „Doktor Sigmund bitte!“, warf dieser ein und sah in, streng tadelnd, an. „Ich möchte mich förmlich und in aller Demut für meine ungehörige Anrede entschuldigen und gelobe Besserung!“, erklärte ein zerknirschter Alf. „Gut, Entschuldigung akzeptiert. Dann sind ja alle Formalitäten geklärt und wir können in medias res gehen. Was lastet denn auf deiner Seele Alf?“ „Es sind meine Träume. Die verdammten Träume. Die machen mich fertig.“ Sigmund nickte vielsagend, ohne es zu Kommentieren oder gar der Lächerlichkeit preiszugeben.. „Sie bringen mich um den Schlaf! Sie plagen mich. Sie treiben mich in die Verzweiflung. Nacht für Nacht! Immer der gleiche Traum! Wenn ich morgens erwache, bin ich wie gerädert. Seit drei Nächten habe ich nun nicht mehr geschlafen, aus Angst vor dem Traum. Doktor Sigmund, du musst mir helfen!“ „Aha, aha, aha!“, sinnierte Sigmund vor sich hin, bereits mitten in der Psychoanalyse.  „Ich wollte schon ins Wasser gehen!“ „Mmmmh, na das sollten wir als letzte Möglichkeit ins Auge fassen.“, versuchte Sigmund, ihn zu beruhigen. Alf begann in seiner Hosentasche nach etwas zu suchen. „Ich habe mir sogar schon eine Badehose gekauft. Ich meine es wirklich ernst.“ Zum Beweis, dass es sich nur um bloßes Gerede handelt, zog er einen schwarz-rot-goldenen, wasserabweisenden Badeshort, hervor.  „Sehr patriotisch!“, lobte daraufhin Sigmund, bevor er sich erhob und aus einem Regal ein dickes Buch zog. Dann setzte er sich wieder zu Alf und begann zu lesen. Minuten vergingen. Alf sah ihm interessiert zu und wartete, bis Sigmund wieder zu ihm aufsah. Dies geschah in dem Moment, als er das Buch lautstark zuschlug. Eine kleine feine Staubwolke umhüllte ihn dabei. Alf richtete sich auf der Couch auf, so gespannt war er.  „Alf, Alf, Alf!“, stieß Sigmund sorgenvoll aus. Alf nahm die Worte auf, als ob sie keinerlei Bedeutung hätten, doch innerlich verzweifelte er daran, denn ein „Dreifaches Alf“ sagt man ja nicht einfach so dahin. „Muss ich sterben?“, flüsterte er ganz leise, in der Hoffnung, dass die Frage nicht gehört wird.  Sigmund sah ihn an und schüttelte beruhigend seinen Kopf. „Natürlich musst du sterben! Irgendwann! Aber nicht, bevor wir den Traum analysiert haben. Es sei denn, der Traum deutet auf dein kurzfristiges Ableben hin, dann hat dein Schicksal es so gewollt und du musst es demütig annehmen.“ Die Worte Sigmunds gaben ihm wieder Hoffnung und Mut. Alf legte sich wieder entspannt zurück auf die Couch. Das waren genau die Worte, die er nun gebracht hatte und sein Vertrauen in Sigmund wuchs minütlich. Er war dankbar dafür, dass der Zufall es wollte, sich diesem Psychiater zuzuwenden. Entdeckt hatte er ein Inserat von Sigmund, was ihn sofort ansprach. „Ihre Sorgen und Nöte sind die Meinen! Entspannte Couchgespräche führen zum Erfolg. Wer bei mir verweilt, der geht als geheilt!“ Begeistert hatte sich Alf sofort einen Termin geben lassen und schon ein halbes Jahr später bekam er die Aufforderung, geduscht und nüchtern zu erscheinen. Und nun lag er auf der so angepriesenen Couch, die ihm die nötige Sicherheit gab, sich mental fallen zu lassen. In die Hände einer Koryphäe sich zu begeben, war der erste Schritt zur Linderung. Jedenfalls war Alf davon fest überzeugt.  Sigmund saß da und lächelte ihn an. Mehr tat er nicht und Alf war begeistert von dieser schmerzlosen Therapie. Er brachte sogar den Mut und die nötige Kraft auf, zurückzulächeln. Bereits jetzt verspürte er, wie es ihm leichter ums Herz wurde. Keine Sekunde bereute er die Entscheidung, sich für diesen Arzt entschieden zu haben. „Leg dich jetzt bitte in die embryonale Schlafstellung, ohne jedoch dich dem Schlaf hinzugeben!“, forderte Sigmund ihn auf. Sofort winkelte Alf seine Beine an und steckte den Daumen in den Mund. Augenblicklich fühlte er sich in seine früheste Kindheit zurückversetzt. Er genoss diesen Effekt, bis Sigmund ihn anhielt, den Daumen wieder aus dem Mund zu nehmen, wegen der eingeschränkten sprachlichen Verständigung.  „Jetzt ist die Ausgangslage perfekt und nun Alf, bitte ich dich, mir deinen Traum zu erzählen, und anschließend werde ich ihn analysieren. Daraus kannst du dann einen Erkenntnisgewinn ziehen und dein Leben danach ausrichten. Dann bist du geheilt. So sieht meine Strategie aus. Ist das nicht klasse?!“ Sigmund hatte, beim Erläutern seiner Vorgehensweise, ein Strahlen in den Augen, was so überzeugend wirkte, dass Alf begeistert in die Hände klatschte. Sigmund, trotz all seiner Professionalität, ließ sich von der Begeisterung anstecken und machte eine dezente Verbeugung, als Ausdruck seiner Dankbarkeit für die Zustimmung.  „Na dann wollen wir mal!“, erklärte er im Überschwang der Gefühle und wartete gespannt darauf, was ihm Alf nun offenbaren würde und welche Leichen er aus dem Keller hervorholen würde.  „Jetzt?“, fragte Alf, der unsicher war, ob das nun der Startschuss war. „Jetzt!“, erwiderte Sigmund, der seine Neugierde kaum verbergen konnte. „Aber das bleibt doch alles unter uns, oder?“  „Von meiner Seite ist eine Auswertung, weder publikatorisch, noch in medialer Weise geplant. „Kann ich das bitte schriftlich haben. Eine Verschwiegenheitsvereinbarung halte ich für dringend geboten, um keine Rechtsunsicherheiten aufkommen zu lassen, die mich dazu zwingen, eine klage anzustreben, die dich finanziell ruinieren könnte. Das wäre mir sehr unangenehm, weil wir ja freundschaftlich miteinander verbunden sind.“ Mit großen Augen sah Sigmund Alf an. Er war schwer beeindruckt von der Weitsicht seines Patienten, was er auch sogleich verbal zum Ausdruck brachte. „Deine Besorgnis an meiner Person und meinen finanziellen Ressourcen, rührt mich sehr. Ich unterschreibe dir eine eidesstattliche Versicherung, die mich zur lebenslangen Verschwiegenheit verdammt. Zufällig habe ich ein entsprechendes Formular da, was ich rasch ausfülle.“ Zufrieden mit der Kooperationswilligkeit seines Arztes schloss Alf die Augen, bis das entsprechende Schriftstück ausgefüllt war und Sigmund vom Notar zurück war, der es ja beglaubigen musste. Um die Wartezeit nicht sinnlos zu verplempern, entschied Alf sich dafür ein Nickerchen einzulegen, damit er, sobald er wieder daraus erwachen wird, brandaktuell den Traum, der unweigerlich geträumt werden wird, Sigmund zu erzählen.  Nach einer Stunde kehrte Sigmund mit der beglaubigten Niederschrift wieder und weckte Alf auf, der noch selig schlummerte. Alf nahm das Schreiben an sich und war nun bereit, seinen Traum preiszugeben, da keine Rechtsunsicherheiten mehr bestanden.  Ohne Unterbrechung, darauf hatte Alf bestanden, aus Angst, sonst den roten Faden zu verlieren, begann er zu erzählen.  „Ich träume jede Nacht und wenn ich aufwache, dann kann ich mich bis ins kleinste Detail daran erinnern. Und da liegt auch das Problem! Wenn ich mich nicht daran erinnern würde, wär es mir ja auch egal und seelisch nicht belastend. Erschwerend kommt hinzu, es ist stets derselbe Traum und das ist auf dauer natürlich zunehmend langweilig, weil ich ja schon vorweg weiß, wie er ausgeht. Das nimmt einem die Spannung.“ Sigmund nickte eifrig mit dem Kopf. „Der Fall ist ja noch erschütternder, als ich zunächst vermuten konnte. Mein ganzes Mitgefühl ist bei dir und deiner Familie.“, erklärte Sigmund, sichtlich getroffen. „Ich bin alleinstehend!“, erklärte Alf. „Oh mein Gott, das auch noch!“  Sigmund schlug sich die Hände vor den Kopf. Erst jetzt wurde ihm das ganze Ausmaß der Tragödie voll bewusst.  Er zeigte sich denn auch erschüttert und ein innerer Drang und die dazugehörende innere Stimme, fühlten sich gemeinschaftlich schlecht. Er litt wie ein Hund! Aus rein therapeutischen Erwägungen, forderte er nun eine Gruppenumarmung von Alf. Zu diesem Zweck wurde die mütterliche Sekretärin hereingerufen, in Ermangelung einer Trillerpfeife. Ihr wurde die Aufgabe zuteil, eine Kontrollfunktion, während der Umarmungsphase zu übernehmen, damit es nicht zu sexuellen übergriffen, kommt. Bereitwillig willigte die Mutter ein, sowas wie die Sittenpolizei zu verkörpern. Dank ihres mutigen Eingreifens, kam es nicht zu folgenschweren Übergriffen, die keiner der Umarmungskombatanten, unbeschadet an Seele und Geist sonst überstanden hätte. Nach einer zeitlich angemessenen Umarmung, die von Sigmunds Mutter unsanft unterbrochen wurde, weil sie zur Pediküre musste, trennte man sich wieder räumlich und ging auf Distanz. Wieder alleine, jedoch unter dem starken Eindruck des eben Erlebten, begann Alf seinen Traum zu erzählen, der tief in die Abgründe menschlicher Untiefen führte.  „Ich habe einen Traum!“, begann Alf mit seiner Ausführung, die Sigmund irgendwie bekannt vorkam, doch konnte er keinen geschichtlichen Zusammenhang erkennen. Und Alf fuhr fort. Schonungslos und kein noch so schmutziges Detail auslassend. Mit offenem Mund, der für die Luftzirkulation des Gehirns unverzichtbar war, lauschte Sigmund gespannt den Schilderungen, die Alf in farbigbunter Bildsprache anschaulich ihm präsentierte. Doch was sich da vor ihm in seltsamster Symbolik darstellte, forderte seine ganze psychoanalytische Fachkompetenz. Denn der vorgetragene Traum erwies sich nicht nur als hochkomplex, sondern zudem auch mehr als doppeldeutig, mit einem Hauch hin zur Eindeutigkeit, wobei ihn die Deftigkeit sexuell verklausulierter Anspielungen, persönlich sehr stark erregte, weil er es so deutete, wie er es für sich deutete. Er sah sich sogar zu einer außergewöhnlichen und dringend erforderlichen Maßnahme gezwungen! Zum ersten Mal in seiner psychoanalytischen Berufslaufbahn musste er sich ein Kissen auf seinen Schoß legen. Er sah sich ernsthaft in Gefahr, Berufliches mit Privatem nicht mehr trennen zu können. Das wäre natürlich ein fatales Signal, was eben nur dieses Kissen verbergen konnte. Und Alf tat, wenn auch vermutlich unabsichtlich, alles dafür, dass das Kissen auf und ab sich hob und senkte. Zum Glück war seine Mutter noch bei der jährlichen Pediküre, die sich sonst sicher über diese anatomische Anomalie ihres Sohnes verwundert gezeigt hätte. Das wäre nur frischer Wind auf die Mühlen seines ohnehin ödipalen Mutterkomplexes gewesen. Doch an dieser Stelle soll nicht die Übermutter im Mittelpunkt der Geschehnisse stehen, denn dies wäre zu erschütternd und wenig erbaulich, weshalb das Augenmerk auf Alfs Traum liegt, der erfreulicherweise gänzlich um eine Mutter herumkommt.
Alf lag da und ließ die Erinnerung an seine tägliche, nächtlich heimsuchende Seelenqual, exklusiv für Sigmund wieder auferstehen.
Zuvor jedoch ein warnendes Wort!
Labile und in ihren Grundfesten leicht zu erschütternde Leserschaft, möge sich reiflich überlegen, ob sie sich das antun wollen, denn für etwaige Schäden an Körper und Geist, kann, will und wird der Autor keinen Regressansprüchen nachkommen, da sich ohnehin sein Barvermögen im unteren Sollbereich aufhält. Bisher konnten seine Kontoauszüge erfolgreich drei Gerichtsvollzieher zum Weinen gebracht werden.
Dies nur zur freundlichen Kenntnisnahme. Sollten sie nun, angesichts dessen, was ihnen hier verkündet wurde noch einen Moment des Nachdenkens benötigen, hat der Autor freundlicherweise eine Leerzeile eingefügt, sozusagen als Denkpause.
Leerzeile*********************
Hier nun die traumhafte Erzählung, für alle die mutigen und der Gefahr ins Auge blickenden, unerschrockenen, genderumfassenden Lesinnendivers(FN „Lesinnendivers“ ist ein, in der deutschen Rechtschreibung noch unentdecktes Wort, welches noch auf den Einzug in den Duden wartet. Diese Eigenkreation des Autors komprimiert alle möglichen Geschlechter in einem Wort und fasst sie zusammen. Gerne darf es, tantiemenfrei, in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen. Damit könnten sie dem noch unbekannten Autor zu einer Popularität verhelfen, die noch keiner vor ihm erlangt hat. Mit nur einem Wort zu Weltruhm! Für interessierte ausländische Regierungen, die diesem Aufruf gerne Folge leisten wollen, wurden bereits einige Übersetzungen angefertigt, die hier zum Ausschneiden bereitgestellt werden. Bitte machen sie reichlich Gebrauch davon!
Lecture des plongeurs – Duikers lezen – Reading divers – Buzos de lectura – legendi varias incideritis ...
Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit!

FN)!

„Der Traum, der mich jede Nacht heimsucht, beginnt damit, dass ich die Augen aufmache. Ich sehe mich, wie ich im Bett liege und schlafe. Doch wie eine zweite Hülle hebt sich mein Körper von mir und steht auf. Dann betrachte ich mich, wie ich im Bett liege und schlafe. Das alleine schon macht mich fertig. Dann gehe ich aus dem Fenster, öffne es und springe hinaus. Sieben Stockwerke stürze ich dann hinab und lächle dabei. Unten angekommen, breche ich mir beide Beine und robbe, ohne Schmerz zu empfinden, über den Rasen. An dem Kiosk, wo ich sonst mir die Zeitung hole, kaufe ich mir einer der Frauen, die in den Regalen liegen. Ich entscheide mich für eine im Preis Reduzierte, die kleine Mängel aufweist. Beispielsweise hat sie keinen Kopf, spricht aber trotzdem aus dem Hals. Der Kioskbesitzer, der meinem Hausarzt zum Verwechseln ähnelt, drängt mich dazu noch den Deckel eines Kochtopfs dazu zukaufen, für den Fall das es Regen gibt. Ich soll dann den Deckel auf den Hals der Frau legen, damit sie nicht ertrinkt oder wenn ich nicht will, dass sie redet. Die Kopflose nimmt mich auf den Arm und meine gebrochenen Beine baumeln herunter. Die Frau stellt sich mir als Gerda vor und meint, sie hätte das Aufgebot bereits bestellt. Ich habe Angst. Gerda trägt mich zur Autobahn und geht konstant auf der linken Spur, obwohl das ja verboten ist, was ich ihr auch sage. Es interessiert sie nicht. Die Autos fahren durch uns durch, statt hinter uns einen Stau zu gründen. Dann endet die Autobahn plötzlich und wir stehen vor dem Kölner Dom. Ein kleines Mädchen kommt heraus und stellt sich als Kardinalin vor. Sechs kleine Pudel geleiten uns, in Messdienergewändern, hinein. Die Orgel spielt Beethoven, aber rückwärts. Der Dom ist voller Karnevalisten, die Kamellen und Konfetti werfen. Dann fragt mich das kardinale Mädchen, ob ich die kopflose Frau heiraten möchte und ehe ich NEIN sagen kann, da wache ich auf. Das träume ich nun jede Nacht und frage mich, ob ich vielleicht einmal, nur so aus Spaß JA sagen soll!“
Sigmund sah lange Alf an. Man konnte deutlich seine Rat- und Sprachlosigkeit sehen. Alf blickte in die leeren Augen seines Gegenübers und die Hoffnung auf Erlösung seines Traumes, schien ihm in weite Ferne gerückt zu sein.
„Sigmund?“, erkundigte er sich vorsichtig nach dem Befinden seines Psychoanalytikers.
Doch dessen aufgerissene Augen und der weit geöffnete Mund, die verhießen nichts Gutes. Minutenlang geschah nichts.
Keine Regung. Keine Analyse. Dann endlich, als Alf schon nicht mehr auf eine Antwort hoffte, schloss Sigmund seinen Mund wieder.
„Ein gutes Zeichen!“, dachte Alf und wartete gespannt, was nun folgen würde.
Sigmund sah ihn weiter stumm an, nur diesmal mit geschlossenem Mund, was zumindest optisch besser aussah.
Doch zu einer aussagekräftigen Analyse ließ er sich noch nicht hinreißen. Auch eine Stunde später hatte sich an dem Zustand nichts Gravierendes geändert.
Nur das Kissen hatte sich inzwischen beruhigt!
Plötzlich erhob sich Sigmund mit einem laut vernehmbaren: „Ah ja, interessant!“
Zu Mehr als dieser spontanen Kurzanalyse konnte sich Sigmund augenscheinlich nicht hinreißen. Er brauchte wohl noch einige Minuten, um das eben Gehörte zu verarbeiten, und nutzte dazu ein probates Mittel, was in Psychoanalytikerkreisen scheinbar weit verbreitet und sehr beliebt ist, er suchte für sich das Alleinesein. Und so ging er in eine der zahlreichen Ecken seines Büros und drehte sich um, Kopf voran. Minutenlang stand er so da. Still. Leise. In sich gekehrt. Er vergrub sein Gesicht förmlich in die Ecke, die von zwei Wänden gebildet wurde.
Und dann trat plötzlich etwas ein, was Alfs Unsicherheit noch verstärkte. Sigmund begann hemmungslos und bitterlich zu weinen an. Es war erschütternd mit anzusehen. Alf fühlte sich auch seinerseits sehr unwohl. Zum einen sah er eine gewisse Mitschuld an dem Zustand seines Psychoanalytikers. Um nun seinem schlechten Gewissen Ausdruck zu verleihen, bot er ihm in selbstloser Weise einen Platz auf der Couch an. Dankbar nahm Sigmund an. Nach mehreren Versuchen gelang es ihnen schließlich, eine für beide günstige Liegeposition zu finden, bei der keiner Gefahr lief, von der Couch, in den tiefen Abgrund zu stürzen.
Und alsbald lagen sie da, in der komfortablen Löffelchenstellung, die sonst eigentlich nach erfolgreichen erotischen Begegnungen, bevorzugt verwendet wird. Aber hier galt es, in einer dramatischen Ausnahmesituation, diese Stellung zweckentfremden.
Langsam beruhigte sich Sigmund, der sich sichtlich wohlfühlte. Er bildete das vordere Löffelchen und Alf begnügte sich mit der unattraktiveren hinteren Position. Doch das war für Alf in dieser Situation nicht wichtig. Entscheidender war es Sigmund wieder zu stabilisieren. Eine Weile lagen sie so stumm, Vorderteil an Hinterteil, bis Sigmund wieder zu mentaler Stärke zurückgekehrt war und nach langer zeit, zum ersten Mal wieder sprach. Darauf hatte Alf nur gewartet, denn er wollte unbedingt noch erfahren, was es mit seinem Traum auf sich hat.
„Das tut so gut!“, seufzte Sigmund und Alf konnte ihm nur beipflichten.
Beide verspürten sie ein gewisses Kribbeln unbekannter Herkunft, was sie erfasste und wer weiß was passiert wäre, wenn nicht passierte, was passiert war.
„Hallo, hallo!“, sagte plötzlich eine Stimme.
Mit frisch geschnittenen und gefeilten Fußnägeln, stand Sigmunds Mutter in der Tür und schüttelte, mit einer Mischung aus Überraschung, Skepsis und zudem extrem angewidert, ihren alten mütterlichen Kopf.
„Wenigstens seid ihr noch angezogen!“, sagte die Frau, die ganztägig zwar Mutter, aber halbtags auch Angestellte ist.
„Wir stecken mitten in der Therapie. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen!“, versuchte sich Alf an einer halbwegs schlüssigen Erklärung.
Damit sprang er für Sigmund in die Bresche, der seine Augen fest geschlossen hatte, da er seiner Mutter nicht in die Augen sehen konnte. Er vertrat schon immer die Meinung, dass keine Mutter der Welt ihr Kind in einer Löffelchenstellung erwischen sollte, selbst wenn beide Protagonisten angezogen und von gleichem Geschlecht sind.
„Vielleicht kann mir mein Sohn das erklären! Auf Patientenmeinungen gebe ich nichts. Eine Löffelchenstellung ist immer noch Mann und Frau vorbehalten. Und auch nur dann, wenn sie sich im heiligen Stand der Ehe befinden und den Segen der Kirche haben!“, erklärte die Mutter und verweigerte sich damit einer geistigen Horizonterweiterung.
„Ich bin strikt gegen dieses ganze neumodische Zeugs! Mein Sohn soll sich gefälligst eine Frau für sein Löffelchen suchen. Wozu habe ich ihn schließlich studieren lassen!“, echauffierte sich die Frau und begann, ihren Sohn aus der Löffelchenstellung zu befreien. Sie sah es als ihre ureigenste mütterliche Pflicht an, diesem unmoralischen und strafwürdigem Treiben ein Ende zu setzen. Doch Alf klammerte sich an ihn, denn er war keinesfalls bereit, ihn ziehen zu lassen, bevor Sigmund ihm seinen Traum gedeutete hat. Ein unwürdiges Gerangel entstand, an dessen Ende der Besuch in der Notaufnahme stand. Mit mütterlicher Liebe hatte ebenjene ihrem Sohn den Arm gebrochen. Erst der lautstarke schmerzhafte Aufschrei Sigmunds, konnte für das abrupte Ende des Ringens um ihn beenden.
„Da sehen sie was sie angestellt haben!“, beschuldigte die Mutter Alf und hielt dabei noch das Corpus Delicti fest in ihren Händen.
Aufgrund der neu entstandenen Situation wurde ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand beschlossen und das Kriegsbeil begraben. Alf und die Mutter gaben sich die Hand, etwas, zudem Sigmund nicht mehr in der Lage war. Denn er war Rechthandschüttler und genau der dazu notwendige Arm war nun der Gebrochene.
Schweigend verbrachten die drei nun mehrere Stunden in der Notaufnahme, ohne das sonderlich von ihnen Notiz genommen wurde. Sigmund wurde als vermeidlicher Simulant eingestuft, da er vorgab einen gebrochenen Arm zu besitzen, aber sich ständig den Bauch hielt. Erst als die Mutter, ganz beiläufig und unbedacht, das geheime Codewort „Privatversichert“ ausplauderte, ging plötzlich alles sehr schnell.
Binnen weniger Minuten stand er in einem pompösen Zimmer, ausgestattet mit Marmorboden aus Carrara, belegt mit Perserteppichen. Holztäfelungen an den Wänden, die den Untergrund bildeten für zahlreiche goldene Bilderrahmen, in denen internationale Diplome zuhause waren. Das Mobiliar, des ansonsten kargen Raumes, bestand aus einem Rokokosofa, einem antiken Mahagonischreibtisch, auf dessen Vorderseite die Initialen „PROFPROFDR“, aus massivem Silber geschlagen, angebracht waren.
Durch die, von Marc Chagall entworfenen Buntglasmosaikfenster, schien die Sonne und so kam der Kristalllüster an der Decke besser zur Geltung. Ein aus Mesopotamien eigens importiertes Taufbecken, diente als Nassbereich. Bevor ihnen jedoch Einlass ins Allerheiligste gewährt wurde, erhielten sie Filzpantoffel, um den Boden nicht zu zerkratzen. Dann erst durften sie die Kathedrale des Heilens betreten.
„Oh!“, rief die Mutter, überwältigt von der Pracht des Raumes. Ihr „Oh“ hallte noch nach, als sie zum Schreibtisch hin pilgerten, hinter dem Professor, Professor Doktor Rodhulf von Greifenstein zu Lothringen, thronte. Mit einer huldvollen Geste wies er sie an näherzukommen. Mit einer tiefen Verbeugung traten sie an Altar des gesundheitlichen Olymps heran.
Als erste fand Mutter die Sprache wieder.
„Eure Heiligkeit!“, grüßte sie und versuchte sich an einem tiefen Knicks, den sie noch aus den Sissi-Filmen kannte.
„Aber, aber meine Dame, auch ich bin nur ein beschiedener Diener Äskulaps.“, sprachs und hielt ihr die Hand hin.
Sofort küsste sie den mit Diamanten verzierten Siegelring.
Der Professor erhob sich und so kam sein Gewand aus weißer Seide, mit den goldverzierten Applikationen besser zur Geltung. Unsere drei Bittsteller gingen zwei Schritte zurück, um ihm nicht auf seine Schleppe zu treten.
Der Professor zog an einer Kordel und es ertönte eine Glocke.
Eine Krankenschwester, die jedes Playboy-Magazin zur Zierde gereicht hätte, betrat den Saal. Ihre halterlosen Nylonstrümpfe korrespondierten auf wunderbare Weise mit ihrem, ganz in jungfräulichen Weiß gehaltenen, Prada Kostüm. Vor sich trug sie, wie eine Monstranz an Himmelfahrt, ein Silbertablett.
„Wer ist denn nun der Privatpatient?“, erkundigte sich der Professor.
„Mein Sohn, euer Gnaden!“
„Wir benötigen dann eine Legitimation zu sehen, die ihn als Solches ausweist. Erst dann können und dürfen diese heilenden Hände sich in Bewegung setzen.“, sagte er und lächelte mild und man glaubte für einen kleinen Moment, kleine Dollarzeichen in seinen Augen zu erkennen.
Sigmund versuchte, mit dem gebrochenen Arm an seine Geldbörse zu gelangen, die sich im hinteren Teil seiner Hose befand.
Unter unwürdigem Ächzen und Stöhnen, gelang es ihm schließlich, seine Versicherungskarte herauszunehmen, und legte sie auf das Silbertablett, was die reizende Assistentin vor ihm aufgebaut hatte. Damit schritt sie dann zu ihrem Herrn und Gebieter, der nur einen Blick darauf warf, um sich von der Gültigkeit zu überzeugen.
Nachdem die Prüfung zu seiner vollen Zufriedenheit vollzogen war, bat er um absolute Ruhe, da er nun mit der Behandlung beginnen werde.
„Wenn es sie nicht stört, benötige ich zur vollen Konzentration etwas Hintergrundmusik!“, erklärte er und zog ein weiteres Mal an der Kordel. Die Wandtäfelung öffnete sich und ein ungarischer Stehgeiger erschien und spielte eine Klaviersonate von Liszt. Andächtig wurde der Musik gelauscht. Optisch wurde das Ganze begleitet, indem die Krankenschwester mit einem lasziven, aber geschmackvollen orientalischen Tanz, die Wirkung der Musik formvollendet unterstrich. Der Professor wies Sigmund an, sich auf das Rokokosofa zu legen, und begann den Privatpatienten zu untersuchen. Nach dem Ausgeigen der Klaviersonate verkündete er die überraschende Diagnose.
„Sie haben einen Milzriss!“
So recht mochte dies keiner glauben, doch einer Kapazität zu widersprechen, wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Und so schwiegen die Beteiligten betroffen. Der Professor verabschiedete sich und zog sich erschöpft zurück in seine Privatgemächer.
Damit war dann auch die Audienz beendet und draußen, im Vorzimmer, durften sie ihr Alltagsschuhwerk wieder anziehen. Den Professor bekamen sie nicht mehr zu Gesicht.
Denn ungünstigerweise, musste er just zu dieser Zeit seinen Jahresurlaub nehmen, wo er die nächsten sechs Monate, in seinem Chalet in Südfrankreich, unabkömmlich sein würde. Andernfalls würde sein Urlaubsanspruch verwirkt sein und die Krankenkasse müsste ihn auszahlen. Dazu würde er in Gold aufgewogen werden, was angesichts seines sportlich ignoranten Verhaltens, dazu unweigerlich führt, die Kasse in die Insolvenz treibt.
Ein Unterarzt des Professors übernahm die weitere Behandlung und gipste den Arm ein und zeigte sich sehr besorgt wegen des Milzrisses. Deshalb wurde er stationär aufgenommen und bekam sein Einzelzimmer mit Seeblick, wie es ihm der Versicherungsvertreter damals versprochen hatte, der ihm die Privatpatientenpolice verkaufte. Wobei sich der See allerdings, als der vollgelaufene Keller eines Neubaus entpuppte.
Während Sigmund in einem Kingsizebett Platz nahm, richteten sich seine Mutter und Alf, es sich jeweils auf einem Stuhl gemütlich ein. Beide festentschlossen, Sigmund nicht alleine zu lassen. Alf, weil er nicht ohne Analyse seines Traumes gehen wollte und die Mutter aus fürsorglichen und vorbeugenden Gründen, denn sie befürchtete, es könnte erneut zur Bildung einer illegalen Löffelchenstellung kommen.
Als, wie üblich in Krankenhäusern, die Nachtruhe gegen siebzehn Uhr eingeläutet wurde, legten, beziehungsweise setzten sich die drei zum Schlafen hin. Doch keiner bekam auch nur ein Auge zu. Denn die Frage, wie es zu dem Milzriss kam und wer daran Schuld war, trieb sie um.
Gegen zehn Uhr in der Nacht hielt es die Mutter nicht mehr aus und regte an, die Szene, die zu dem Armbruch führte, noch einmal nachzuspielen. Nur so könnten sie dem Milzriss auf den Grund kommen. Alf zeigte sich sofort von der Idee begeistert, da er in jungen Jahren einmal in einer Laienschar Theater gespielt habe und ihm viel Talent beschieden wurde. Sofort begab er sich in die Ausgangslage, hinter Sigmund, in die Löffelchenstellung. Nur aus Gründen der Wahrheitsfindung, lies die Mutter dies, wenn auch unter Murren, zu. Sie selbst nahm, auf ausdrücklichen Wunsch ihres Sohnes, den gesunden Arm zur Hand, wenn dies auch etwas die Tatsachen verzerrte. Dann wurde die Szene, so originalgetreu wie sie sich noch erinnerten, nachgespielt. Und so kam die grausame Wahrheit endlich ans Licht. Grenzenlose und übertriebene mütterliche Liebe führte zu dem Milzriss. Was nämlich in dem ursprünglichen Gerangel vollkommen untergegangen war, kam nun auf besonders schmerzhafte Weise zu Tage. Sie zog nicht nur an dem Arm ihres Sohnes, nein sie drückte ihr Knie in seine Seite, um so besseren Widerstand zu haben, um ihren Sohn aus der Löffelchenstellung zu befreien. Dies stellte Sigmund als Erster fest, da er spürte, wie ein Knie in seine Leber gerammt wurde, die dem Druck nicht standhielt. Da die Mutter, entgegen der Originalszene, ja an dem falschen Arm zog, nutzte sie versehentlich auch das andere Knie, was näher an der Leber war. Damit war sie eindeutig überführt! Anschließend wurde Sigmund der zweite gebrochene Arm eingegipst und ihm Lebertran verordnet. Die Mutter wurde des Zimmers verwiesen und lebt heute in einem Heim für ausgestoßene Mütter.
Noch in der Nacht hatte sich Sigmund von ihr losgesagt. Inständig bat er Alf, bei ihm zu bleiben, da er ohne funktionstüchtige Arme praktisch hilflos sei. Dieser nahm das Angebot nur unter der Voraussetzung an, endlich seine Traumdeutung zu bekommen. Das brachte Sigmund jedoch in große Verlegenheit.
Denn sein Körper war inzwischen übersät von Schmerzhotspots. Dies führte dazu, dass seine Erinnerung an Alfs Traumerzählung nur noch rudimentär in seiner Erinnerung aufzufinden war. So sah er sich gezwungen, Alf um eine nochmalige Erzählung seines Traumes zu bitten. Natürlich konnte er ihn nicht einfach darum bitten! Dies wäre dann das Eingeständnis, ein verantwortungsbewusster Psychoanalytiker hätte einfach vergessen, mit welch einem sorgenvollen Traum, ein hilfsbedürftiger Patient, über die Schwelle seiner Praxis getreten ist. Dies wäre eine absolute Bankrotterklärung! Andererseits, wie sollte er eine profunde Analyse von etwas erstellen, von dem er nichts mehr wusste? Sigmund verzweifelte, jedoch nur innerlich, denn nach außen hin wollte er als jemand erscheinen, der alles im Griff hat. Und so sah er in die leuchtenden erwartungsfrohen Augen von Alf und lächelte ihn an. Dieses Lächeln erzeugte ein Gegenlächeln. Das machte ihm Mut, denn wenn Alf ahnen würde, wie es um seine Analyse bestellt wäre, würde er vermutlich dies mit einem anderen Gesichtsausdruck demonstrieren. Sigmund war klar, solange er sein Lächeln aufrechterhalten würde, wäre alles gut. Dann ist Alf ja einfach gezwungen zurückzulächeln, denn so verlangt es die Höflichkeit. Und so lächelten sie sich weiterhin an, was jedoch mit der Zeit anstrengend wurde. Langsam gefror das lächel beiderseitig ein, ja Sigmund wurde sogar von einem Mundwinkelkrampf heimgesucht. Das Lächeln wurde nur noch zu einer äußerlichen Maske. Innerlich hatte es sich längst verabschiedet. Nur noch zwei dämlich grinsende aufgesetzte Fratzen, die schon lange nicht mehr das fühlten, was sie nach außen hin vorgaben zu tun. Das Lächeln wurde zum Symbol der Verlogenheit. Irgendwann wurden sie jedoch des Dauergrinsens überdrüssig und Sigmund durchzuckte plötzlich ein Geistesblitz. Sofort informierte er Alf über die Idee, die eine göttliche Eingebung ihm eingeflüstert hatte.
„Alf, ich habe lange über dich und deinen Traum nachgedacht!“
„Ja, sehr lange. Ich dachte schon, du hast ihn vergessen, verdrängt oder unterdrückt!“
„Mitnichten, mein lieber Alf!“, lachte Sigmund mit einem Lachen, was wohl vor keinem Gericht als glaubwürdig gelten dürfte.
Begeistert und voller Vorfreude klatschte Alf in die Hände, etwas das Sigmund versagt blieb. Gips sei Dank!
„Ich habe mir ein genaues Bild von deinem Traum gemacht und möchte nun, das du dir auch ein Bild davon malst, damit ich es dann mit dem meinen vergleichen kann. Diese Doppelbildstrategie habe ich selbst entwickelt und ermöglicht es mir, noch tiefer in deinen Traum einzutauchen. Nur so kann ich dich hundertprozentig von deinem Traumtrauma befreien und du dir dein Leben wieder Lebenswert gestalten.“
Alf hatte die Worte, die ihn direkt ins Herz trafen, glücklich aufgenommen. Eine einzige Träne, die seine Wange hinab lief, zeugte davon. Wohlwollend nahm Sigmund dieses Symbol zur Kenntnis und er war froh, dass seine Lüge, die er Alf aufgetischt hatte, eine so schöne Wirkung erzielte.
„Und nun geh und mache deine Hausaufgaben!“, forderte Sigmund ihn, zwar freundlich, aber doch bestimmt an.
Als Alf vor dem Krankenhaus in Richtung Innenstadt ging, fiel ihm ein, dass Sigmund nichts gesagt hat, welche Maltechnik er präferiert. Mit dieser Entscheidung sah er sich nun alleine konfrontiert und er ging in den erstbesten Bastelladen, in die Abteilung für Malbedarf. Die dort angepriesene Auswahl überforderte ihn und er beschloss, zunächst den nächtlichen Traum abzuwarten und ihn hinsichtlich einer Maltechnik abzuklopfen, die ihm gerecht wird. Aber immerhin sah er wieder einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Kaum wieder zuhause angekommen, legte er sich sofort, in freudiger Erwartung ins Bett, schloss seine Augen und wartete auf den Schlaf. Der wollte sich jedoch nicht gleich einstellen, da er noch keinerlei Anzeichen von Müdigkeit zeigte. Unruhig wälzte er sich im Bett und suchte nach der richtigen Position um endlich einschlafen zu können. Doch so sehr er sich auch bemühte, er blieb wach. Verzweifelt nahm er sich die Fernsehzeitung und durchforstete sie nach einer Sendung mit Einschlafpotenzial. Die Auswahl war riesig und er konnte sich nicht entscheiden, welches Programm er ansehen sollte. Ziellos zappte er sich durch eine Wiederholung nach der anderen. Erst ein Programmhinweis für eine Schlagershow weckte sein Interesse. Wenn nicht da, wo sollte er sonst seinen Schlaf finden und er wurde nicht enttäuscht. Diese Sendung bot das, was er als treuer GEZ-Gebührenzahler erwartete. Bereits beim Anblick des Moderators begann er zu gähnen.
„Ein guter Mann!“, dachte er und legte sich schon einmal gemütlich hin.
Die glitschig, süßliche, schmierig anbiedernde Moderation, entsprach ganz seiner Vorstellung.
„Sing! Bitte sing!“, rief er flehentlich in den Fernseher und seine innige Bitte wurde erhört.
Der Moderator kündigte sich selbst an und sparte dabei nicht mit Superlativen.
„Ich präsentiere ihnen nun meinen neusten Hit, den ich selbst komponiert, getextet, arrangiert habe. Dabei begleite ich mich selbst mit meinem Teufelsakkordion. Erleben sie jetzt eine Welturaufführung, meines zu Herzen gehenden Liedes, eine Hymne auf die Liebe zur Natur und all ihrer Bewohner, deren Schicksal ungewiss ist. Dagegen will ich ankämpfen und es war mir eine Ehre dieses Lied schreiben zu dürfen. Der liebe Gott führte meine Hand beim Komponieren und Goethe wäre sicher stolz auf den einfühlsamen und aufrüttelnden sozialkritischen Text. Und jetzt, in aller mir ureigensten Bescheidenheit, singe ich nur für sie, meine lieben Zuschauer den Song, den wohl schon viele vor mir schreiben wollten, doch die daran scheiterten. Ich freue mich für sie, dass mir es gelungen ist. Genießen sie nun: Der letzte Biber nagt am toten Baum!“
Die letzten Worte bekam Alf schon nicht mehr mit. Selig lustwandelte er bereits in seinem Traum.
Kaum war er am nächsten morgen erwacht, als er sich daran machte, den Traum künstlerisch auszuwerten.
Mehrere Fragen notierte er fein säuberlich auf, die ihm helfen sollten den Traum in einem Bild einzufangen.

  1. Maltechnik
  2. Farbgestaltung
  3. Motivauswahl
    Zunächst begann er mit einer Skizze, mit den Traumhöhepunkten. Dann entschied er sich gegen die Kunstform der Bleistiftradierung, weil sie farblich zu sehr eingeschränkt ist und er ja einen sehr bunten Traum umzusetzen hatte.
    Noch schwankte er zwischen Fingerfarben und Wachsmalstiften. Doch er merkte rasch, theoretisch kam er nicht weiter. Er musste die diversen Maltechniken austesten um feststellen zu können, welche ihm liegt und seiner Kreativität am besten Geltung verschafft. Er ging erneut in das Bastelgeschäft, wo er zwischen den Regalen herumirrte, wie ein Wandler zwischen den Welten. Erst unter dem sanften Druck eines Verkäufers, der mit dem simplen Satz. „Wir schließen jetzt!“, ihn zu einer Entscheidung drängte, die sein zukünftiges Leben bestimmen sollte.
    Zuhause angekommen, besah er sich zum Ersten mal in Ruhe an, was er da so alles eingekauft hatte.
    Eine Staffelei, eine Leinwand, einen Kanister Terpentin, diverse Pinsel, Ölfarben, Kreide, Tusche, eine Palette zum Anrühren und mischen der Farben, sowie zehn Kilogramm Ton. Letzteres für den Fall, dass er sich doch für eine Skulptur entscheiden sollte, weil es ja auch ein sehr plastischer Traum ist, der darzustellen ist. Eine lange Nacht lag vor ihm und er erwies sich als der größte Kritiker seiner eigenen Kunst. Die erste zarte Bleistiftzeichnung fand keine Gnade vor seinem kritischen Auge. Alleine die Leinwand wurde viermal überstrichen. Die Verarbeitung des Tons erwies sich als schwierig, da er vergaß, eine rotierende Scheibe einzukaufen. Kurzerhand musste die Mikrowelle diese Funktion übernehmen, die gleichzeitig als Brennofen diente. Doch das Ergebnis war niederschmetternd und ähnelte nicht einmal ansatzweise dem Traum. Doch dann endlich, als der Morgen bereits graute, war es vollbracht. Zufrieden bestaunte er die Kunst, die er geschaffen hatte und es lag Stolz in seinen Augen.
    „Schlicht und doch wirkungsvoll! Vielschichtig und aussagekräftig! Die Zartheit kontrastiert die Härte. Farbliche Lebensfreude und auch die Akzente der bedrohlichen Düsternis sind unverkennbar. Für mich, ein Meisterwerk. Surreal und expressiv!“, so beschrieb er Sigmund am Telefon seine Arbeit.
    Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte Alf das Gemälde noch schnell rahmen und hinter Glas legen lassen. In einem Baumarkt kaufte er Hammer und Nägel und ärgerte sich darüber, dass es Nägel nicht einzeln zu kaufen gibt. Für ihn eine absolute Marktlücke. In einem angrenzenden Elektronikmarkt besorgte er noch zwei Strahler. Dazu Kabel, Seitenschneider, Lüsterklemmen und einen Schraubenzieher. Zu guter Letzt besorgte er noch eine Schlafmaske.
    Sigmund staunte nicht schlecht, als Alf mit all den Sachen ankam. Dass Gemälde noch in eine alte Decke gehüllt, um es vor neugierigen Blicken zu verbergen.
    Doch bevor das große Werk enthüllt wurde, musste Sigmund die Maske anziehen, die ihn in vollkommene Dunkelheit versetzte. Nur auf sein Gehör verlassend, verfolgte er, was um ihn herum geschah. Zunächst jedoch hörte er nichts. Das lag an dem, was Alf tat, nämlich nichts. Er stand nur da und überlegte, wo er sein Gemälde aufhängen sollte, damit es bestmöglich zur Geltung kam. Vier Wände standen ihm zur Verfügung, doch keine davon entsprach seinem künstlerischen Anspruch. Alle mit weißer Raufasertapete! Dies empfand Alf als völlig ungeeignet.
    „Pastell oder wenigstens ein kräftiges Dottergelb! Dieses krankmachende Weiß ist doch inakzeptabel.“
    Mit dieser Argumentation versuchte er am Telefon, die Krankenhausverwaltung davon zu überzeugen, ihm die Genehmigung eines Neuanstrichs zu erlauben. Das entschiedene NEIN wollte er nicht akzeptieren.
    „Wenigstens eine Wand, denn nur so kommt mein Gemälde zur Geltung, was ich extra angefertigt habe für einen ihrer Patienten.“, insistierte er weiter.
    Doch der Geschäftsführer war nicht bereit, Opfer für die Kunst zu bringen.
    „Die farbliche Umgestaltung eines der Wände ist nicht statthaft. Die Farbgestaltung all unserer Krankenzimmer ist einheitlich in Weiß gehalten. Eine Farbanalyse hat gezeigt, Kranke die in Weiß wohnen, gesunden eher als beispielsweise in Rosmaringrün.“, erklärte er Alf.
    „Einmal haben wir ein Krankenzimmer, im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie, in Schwarz eingerichtet. Plötzlich hatten wir eine erhöhte Sterbequote. Wobei fünfzig Prozent nachweislich auf einen Kunstfehler zurückzuführen sind, die auch bei jeder anderen Wandfarbe entstanden wären. Die anderen fünfzig Prozent entschieden sich für einen Suizid, weil, wie wir heute wissen, Schwarz, besonders sehr dunkles Schwarz, depressiv macht.“, berichtete der Leiter.
    Dies machte Alf zwar sehr betroffen, doch ließ er von seinem Vorsatz, eine ansprechende farbliche Neugestaltung wenigstens einer Wand, Hoch und heilig versprach er, auf eine Umgestaltung zu verzichten, und machte sich anschließend auf den Weg, einen Eimer Farbe zu kaufen, den er sich in blassrosa anmischen ließ. Von alldem bekam Sigmund nichts mit, der zwischenzeitlich eingeschlafen war. Als er wach wurde, hörte er nur ein leises Gleiten einer Farbrolle, die das Klinikweiß, auf magische Weise verschwinden ließ. Seine Neugierde darauf war ungebrochen, was da gerade geschieht. Doch da seine Handlungsmöglichkeiten weiterhin eingeschränkt waren, denn die Heilung seiner Arme kam nur mühsam voran, saß er weiterhin im Dunkeln, dank der blickdichten Schlafmaske.
    Dann vernahm er das vorsichtige Einschlagen eines Nagels. Beim dritten Schlag gab es wohl eine kleine Unachtsamkeit, was ihn ein lauter Schrei, der gefolgt von wilden Flüchen, vermuten ließ. Erst als neuerliches Hämmern an sein Ohr drang, war Sigmund wieder beruhigt. Endlich, als Beethovens Ode an die Freude erklang, die Alf beim Krankenhauseigenen Radiosender bestellt hatte, bekam Sigmund seine Maske abgenommen. In seinem schwarzen Dreireiher, mit kleinen blasslila Applikationen, sowie zwei Gläsern perlenden Sekt, stand Alf vor ihm und eröffnete die Vernissage, mit den eindrucksvollen und emotionalen Worten: „Die Ausstellung ist eröffnet!“
    Der Raum war verdunkelt worden, indem Alf die vorhangfehlenden Fenster kurzerhand mit der übriggebliebenen Farbe, blickdicht übermalt hatte. Die beiden Strahler, die an zwei Infusionsständer angebracht waren, beleuchteten die Wand an, wo zuvor ein Kreuz hing. Doch im Mittelpunkt der Illumination hing das Gemälde, eingefasst in den Goldrahmen. Man sah es Alf an, wie stolz er auf die Umgestaltung des Krankenzimmers, hin zu einer kleinen aber feinen Galerie, gelungen war. Er flößte Sigmund etwas Sekt ein und nahm auch selbst einen Schluck des köstlichen Brausegetränks. Andächtig betrachteten nun beide das Werk des Künstlers.
    Vor allem Alf zeigte sich tief bewegt! Doch trotz der eigenen Sprachlosigkeit, die ihn erfasste, gelang es Alf, einige einleitende und erklärende Worte an die Vernissagebesucher zu richten.
    „Lieber Sigmund, noch bevor der kunstinteressierten Öffentlichkeit der Zugang gewährt wird, möchte ich mich von ganzem Herzen bei dir bedanken. Und, wenn du gestattest, dich ihnen als meine Muse vorstellen darf. Ohne dich hätte ich niemals den Mut aufgebracht, zu erschaffen, was ich erschaffen habe. Es war immer ein stiller Traum von mir, etwas Bleibendes zu erschaffen, was noch Generationen nach mir, voller Ehrfurcht betrachten können. Ich möchte mich nicht, das gebietet mir meine Demut, mich in eine Reihe mit van Gogh, Rembrandt oder Michelangelo zu nennen, doch man muss eben der Wahrheit ins Auge sehen und sie nicht unterdrücken. Mein Traum, meinen eigenen Traum zu visualisieren, ist in Erfüllung gegangen. Und es ist größer, bunter und aufregender wie die Mona Lisa, Selbst Munchs „Schrei“ verstummt dagegen. Jetzt wo es vollendet ist, das Werk meines Lebens, erkenne ich erst, was ich da Epochales erschaffen habe. Hiermit begrüße ich dich in der Kunstwelt und gebe dir den Namen: Alfs Träumerei!
    Die Ausstellung ist eröffnet.“
    Nach diesen eindrucksvollen Worten hatte Alf eigentlich aufbrandenden und euphorischen Applaus vorgesehen, doch Sigmunds Hände rührten sich nicht. Für Alf ein absoluter Affront! Mit solch einer vernichtenden Kritik hatte er nicht gerechnet und er war tief in seiner Künstlerseele gekränkt. Wortlos nahm er sein Gemälde von der Wand, wickelte es in die schützende Decke und ließ Sigmund noch einen letzten verächtlichen Blick zukommen, ehe er das Zimmer des Kunstbanausen verließ.
    Sofort machte er sich auf nach England, um dort, bei Sotheby’s versteigern zu lassen.
    Hier verliert sich seine Spur. Bis zum heutigen Tag gilt das Gemälde als verschollen. Nur Sigmund war es vergönnt, dieses kunsthistorische Meisterwerk betrachten zu dürfen und von dessen Existenz Zeugnis ablegen zu können. Doch leider war er an die ärztliche Schweigepflicht gebunden und so wird die kunstinteressierte Öffentlichkeit wohl niemals erfahren, was auf dem Gemälde zu sehen war.
    Es bleibt für alle Zeiten ein Mysterium und reiht sich damit erfolgreich in eine Liste ähnlicher verschollener Phänomene ein, als da wären: die Bundeslade, der Heilige Gral und das Bernsteinzimmer.
    Sigmund gab nach seiner Genesung seinen Beruf auf und lebt heute glücklich, da alleine, irgendwo.

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