Zu Beginn des Jahres schrieb ich in einem Artikel, dass wir den Putschversuch der Republicans beobachten konnten. Seither sind fast 12 Monate vergangen. Mittlerweile sind mehrere dutzend Verfahren gegen die Aufständischen des 6. Januar am Laufen, und ein Untersuchungsausschuss des Kongresses versucht, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Die Reaktion zahlreicher Beobachtender darauf ließ mich an einen Monolog aus "A Song of Ice and Fire" denken:

"It's treason, I warned them, Robert has two sons, and Renly has an older brother, how can he possibly have any claim to that ugly iron chair? Tut-tut, says my son, don't you want your sweetling to be queen? [...] A lion is not a lap cat, I told him, and he gives me a 'tut-tut-Mother.' There is entirely too much tut-tutting in this realm, if you ask me. All these kings would do a deal better if they would put down their swords and listen to their mothers." (A Storm of Swords, Sansa I)

Tut-Tut, heißt es allenthalben, was soll denn das Gerede von Autoritarismus, von Versuchen der Zerstörung der Demokratie, von Putsch? Nur, mit tut-tut kann man sich selbst zwar sehr erhaben und weise fühlen, aber das Verdrängen und Sich-Erheben über ein Problem hat es noch nie gelöst. Und was unter der Oberfläche gerade passiert, ist mehr als beunruhigend.

Am 6. Januar stürmte eine Horde aufgehetzter MAGA-Anhänger das Kapitol, um die Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern und so doch noch Donald Trump an der Macht zu halten. Als taktisches Manöver war der Sturm auf das Kapitol in etwa so erfolgversprechend wie der Sturm auf den Reichstag durch einige radikale Querdenker*innen im Sommer 2020. Aber das ist nicht der relevante Aspekt. Denn man stelle sich vor, die Reichstagsstürmer vom Sommer 2020 wären von Politiker*innen der CDU und AfD aufgehetzt und geradezu eingeladen worden. Man stelle sich vor, PRO7 und RTL hätten dazu aufgerufen, die Vorbereitungen wohlwollend begleitet und in der Live-Berichterstattung gelogen. Man stelle sich vor, dass anschließend 40% der Bevölkerung der Überzeugung gewesen wären, das sei eine gute Idee und dass es sich um Helden handle. Das ist die Situation in den USA.

Der abgewählte Präsident Donald Trump versuchte mit illegalen Mitteln, sich an der Macht zu halten. Was ihn abhielt war seine eigene Inkompetenz und die Integrität ausreichender Teile republikanischer Offizieller. Doch bereits im (symbolischen) Impeachment gegen Trump im Januar verweigerte diem überwiegende Mehrheit der republikanischen Abgeordneten sich dem Votum gegen den Mann, der offen die Verfassung brach und den Putsch wünschte. Das ließ nichts Gutes für die Zukunft erhoffen.

Seither findet, weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit, ein wesentlich planvolleres Vorgehen als der trypisch Trump'sche Aufstand vom 6. Januar statt. Weit entfernt von der im Januar verbreiteten Hoffnung, Trump und seine Unterstützer*innen in der Partei seien erledigt und es finde nun eine Normalisierung der Republicans statt beobachten wir stattdessen eine große Säuberung in der Partei. Sämtliche Kandidat*innen wie der floridianische Gouverneur deSantis, die sich gerade für die Vorwahlen 2023/24 in Stellung bringen, sind komplett auf die trumpistische Linie eingeschwenkt, auch wenn sie nicht alle notwendigerweise Befürworter*innen des ehemaligen Präsidenten sind.

Was ist die trumpistische Linie? Genau wie 2016 behauptet er, die Wahl gewonnen zu haben. Nur was 2016 noch scheinbar irrelevante Eitelkeit war - die entscheidende Mehrheit des electoral college hatte er ja, was tat es dazu, ob er das popular vote auch gewonnen hatte? - ist jetzt "The Big Lie", wie sie mittlerweile genannt wird: die Vorstellung, 2020 habe ein Wahlbetrug von präzedenzlosem Ausmaß stattgefunden, dass Trump in Wahrheit gesiegt habe. Wer sich dieser "Big Lie" verschließt, wird abgeschossen. Das betrifft gerade solche Leute wie Gabriel Sterling, der in seiner viral gegangenen "it has to stop"-Rede maßgeblich dazu beitrug, den Blick auf die Manöver der damals noch Interimsregierung Trumps zu lenken.

2020/21 verweigerten sich an den entscheidenden Schaltstellen republikanische Offizielle, die Lüge mitzutragen. Seither arbeitet die Partei hart daran, diese Leute durch Loyalisten zu ersetzen. Kein einziger Kandidat der Republicans für das Amt des Gouverneurs von Wyoming etwa war bereit, das Wahlergebnis von 2020 anzuerkennen. Gleiches gilt für praktisch jede andere Wahl seither, inklusive der (für die Democrats) desaströsen Gouverneurswahl von Virginia. Trump, being Trump, fordert die Loyalitätsbeweise auch öffentlich ein. So hat etwa George Perdue, einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Gouverneursamt in Georgia (wo die Republicans bereits 2018 nur mit Wahlunterdrückung an der Macht bleiben konnten), mehrmals öffentlich erklärt, dass er, anders als der amtierende Kemp, die Wahl 2020 nicht zertifiziert hätte. Zahlreiche andere Gouverneure und Kandidat*innen haben gleichlautende Erklärungen gemacht.

Doch diese Säuberung innerhalb der Partei beschränkt sich gerade nicht nur auf die Kandidat*innen für die Top-Jobs, sondern auch die Ebenen darunter. Mit einem Machtinstinkt, von dem die Democrats nicht einmal träumen können, versucht die GOP, entscheidende Stellen im Zertifizierungsprozess unter Kontrolle zu bekommen und die örtlichen Wahlgesetze zu ändern. Wo immer sie kann werden weitere Hürden für das Wählen errichtet und Gesetze verabschiedet, die eine Zertifizierung unter Kontrolle der GOP bringen.

Das Ziel dieser Operationen ist eindeutig: Eine sauberere, erfolgversprechendere Variante des Putschversuches, den Trump 2020/21 dilettantisch gestartet hat. Anstatt ihre Absichten in alle Öffentlichkeit hinauszuposaunen und Widerstand zu provozieren, anstatt sich auf Idioten wie Rudy Giuliani und die MAGA-Meute vom 6. Januar zu verlassen, bauen die republikanischen Strippenzieher auf Heerscharen professioneller und wohlbezahler Politikberater*innen und Anwält*innen. Der zweite Putschversuch ist kein bescheuerter Sturm auf das Kapitol, sondern ein Papierkram-Putsch: nominell im Rahmen bestehender Gesetze, demokratische Verfahren nutzend, um die Demokratie auszuhebeln. Man kennt dieses Vorgehen von anderen Zerstörern der Demokratie.

Auch andere Felder, auf denen Trump mit seinem trampfelhaften Vorgehen wenig Erfolge erzielen konnte - etwa die Einbindung des Militärs in sein Möchtegern-Autokraten-Regime - schreiten munter voran, so weit, dass es Warnungen vor der Beteiligung von Militärs an einem künfigen Putsch seitens anderer Militärs gibt. Und wer ernsthafte Zweifel daran hat, dass der Supreme Court eine sauberere Attacke auf das Wahlergebnis als Trump sie 2020/21 zustandebrachte (erneut: wer kann auch glauben, dass Giuliani das hinkriegt...) abschmettern und nicht mit wehenden Fahnen annehmen und so mit höchstrichterlichem Segen die Zerstörung der Demokratie begleiten würde, hat die letzten Jahre unter einem Stein verbracht.

Es scheint nicht so, als ob hinreichend klar wäre, was hier vor sich geht. Die Democrats schaffen es nicht, ihre "moderaten" Ausleger davon zu überzeugen, dass Gesetze zum Schutz der Demokratie verabschiedet werden müssen. Auch die Medien weigern sich mit Ausnahme der im progressiven Lager stehenden Organe, deren Marktanteil, höflich ausgedrückt, überschaubar ist (etwa Washington Monthly oder MSNBC), zu benennen, was vor ihren Augen passiert. Zwar gibt es einen sehr geringen Anlass zur Hoffnung, dass die Republicans mit der Big Lie und ihrer Corona-Hetze den Bogen überspannt haben. Aber ich bin sehr skeptisch. Mein Vertrauen in die Fähigkeit der Leitmedien, verantwortungsvoll zu handeln, ist eher gering.

Man sollte sich auch vor der Versuchung hüten zu glauben, das alles sei unwahrscheinlich. Trump hat bei der Frage einer hypothetischen Präsidentschaftskandidatur 2024 die mit Abstand höchsten Zustimmungswerte. Das ist alles noch weit weg, aber es besteht eine sehr realistische Aussicht, dass die Republicans 2022 das Repräsentatenhaus und den Senat zurückgewinnen und dann Trump 2024 Präsident wird. Ich schreibe bewusst nicht: die Wahl gewinnen, die Aussichten dafür sind gering. Aber die GOP trägt gerade Sorge dafür, dass das auch nicht notwendig sein wird.

Auf die Wählendenschaft kann man jedenfalls nicht bauen. Über 60% der GOP-Wählenden sind felsenfest überzeugt, dass die Big Lie der Wahrheit entspricht und Trump die Wahl 2020 gewonnen hat. 60%! Die rechtsradikale Medienblase um OAN und FOX verbreitet diese Botschaft ebenfalls nonstop. Wenn die eine Hälfte des Landes von ihren exklusiv konsumierten Medien die Botschaft erhalten wird, dass ihr Kandidat die Wahl gewonnen hat; wenn das oberste Gericht des Landes seinen Segen dazu gibt; wenn republikanisch regierte Bundesstaaten sich weigern, das Ergebnis zu zertifizieren; wenn dieselben Bundesstaaten die Nationalgarde mobilisieren, um den Wahlprozess durchzuführen (was bereits gefordert wird) - dann wird der Papierkram-Putsch plötzlich Ernst. Aber bis dahin war er natürlich, anders als der idiotische Sturm aufs Kapitol, etwas, worüber man leicht tut-tut sagen konnte. Es war ja alles so kompliziert und sah so normal aus.

Ich gebe das Schlusswort an Jon Snow, um den Bogen zum "Lied von Eis und Feuer" zu schließen, und hoffe, dass man mir den popkulturellen Ausflug verzeihen möge:

Miserable, Sam shifted his weight and said, "Lord Janos will never be chosen Lord Commander." It was the best comfort he had to offer Jon, the only comfort. "That won't happen." "Sam, you're a sweet fool. Open your eyes. It's been happening for days." Jon pushed his hair back out of his eyes and said, "I may know nothing, but I know that. Now pray excuse me, I need to hit someone very hard with a sword." (A Storm of Words, Samwell IV)

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