Die Weimarer Republik, so hört man oft, sei an den Konstruktionsfehlern ihrer Verfassung verstorben. Eine zu freiheitliche Verfassung sei sie gewesen: keine 5%-Klausel, Volksabstimmungen und ein "Ersatzkaiser" im direkt gewählten Reichspräsidentenamt. Glücklicherwiese vermieden die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese Fehler, und deswegen leben wir heute in einer stabilen Demokratie. Lange Zeit ist diese Deutung in Festreden, Schulbüchern und Monografien zu lesen gewesen. Inzwischen vertritt sie eigentlich niemand mehr, aber wie so viele andere wirkmächtige Narrative gilt, dass was sich einmal etabliert hat nur sehr schwer wieder umzustürzen ist. Das gilt genauso für die Sonderwegsthese oder das lange Leben der Kriegsschulddebatte Fritz Fischers, für das Narrativ der gescheiterten Revolution von 1848 und dem direkten Absturz in den Obrigkeitsstaat ebenso wie für die angeblich demokratische Machterlangung Hitlers oder die unhinterfragte Hagiographie des Wirtschaftswunders. Eine lange Etablierung allerdings macht das Narrativ nicht automatisch richtig. Ich möchte im Folgenden zeigen, warum keinesfalls die Weimarer Reichsverfassung (WRV) die Schuld am Untergang der Republik trägt - und warum Adolf Hitler nicht legal an die Macht kam.

Die Basics

Zuerst eine kurze Auffrischung der Fakten.

Die Weimarer Reichsverfassung verfügte über keine Sperrklausel und ein reines Verhältniswahlrecht. Dadurch waren alle Reichstagskandidat*innen auf Gedeih und Verderb von ihren Parteien abhängig; noch mehr als heute wählten die Menschen Parteilisten, keine identifzierbaren Kandidat*innen, die auch einmal von der Parteilinie hätten abweichen können. Die Abgeordneten waren im Grunde austauschbar, was die Verfassung anging. Gleichzeitig ignorierte die WRV gekonnt genau diesen Umstand: Parteien werden praktisch nicht erwähnt und schamhaft totgeschwiegen. Auf diesen Faktor werden wir noch einmal zurückkommen, aber wie auch das Grundgesetz hatte die WRV ein sehr schizophrenes Verhältnis zu den Parteien. Für einen Sitz im Reichstag waren daher nur 60.000 Stimmen nötig (Mittelwert, die schwankende Bevölkerungszahl und Wahlbeteiligung änderte diese Zahl natürlich von Wahl zu Wahl). Daher befanden sich diverse Klein- und Kleinstparteien im Reichstag (ausführliche Besprechung des Weimarer Parteiensystems hier).

Zudem erlaubte die WRV ein so genanntes Volksbegehren. Dieses verlief zweistufig: wenn eine bestimmte Zahl Wähler*innen sich dafür aussprach, wurde ein offizielles Plebiszit gestartet; erreichte dieses ein bestimmtes Quorum der Wahlberechtigten UND eine Mehrheit derselben, so galt es als angenommen. Auf diese Weise konnten sowohl der Reichstag als auch Reichskabinett und Reichspräsident umgangen werden; wenn diese also den Druck "von der Straße" nicht hörten, konnte "die Straße" sich quasi auf diese Art Gehör verschaffen. Ein solches Recht wird heute vor allem von Linken mit dem Ziel weitergehender Demokratisierung gefordert, wird aber für die Weimarer Epoche vor allem mit rechtsradikaler Hetze in Verbindung gebracht (zu Unrecht; das Volksbegehren gegen den Young-Plan ist zwar das bekannteste, aber nicht das einzige).

Der Reichspräsident besaß in der WRV eine stärkere Stellung als im GG. Nicht nur war er direkt auf sieben Jahre gewählt und besaß damit größere demokratische Legitimation; er war nicht nur wie der heutige Bundespräsident das Staatsoberhaupt, sondern hatte auch gewichtigen Einfluss auf die Außenpolitik und war der Oberbefehlshaber des Heeres. Im Gegensatz zum GG schlug er den Reichskanzler dem Parlament nicht zur Wahl vor, sondern ernannte ihn direkt; der Reichstag konnte ihn - anders als der Bundestag heute - dafür jederzeit mit einem Misstrauensvotum stürzen (das GG erlaubt nur ein konstruktives Misstrauensvotum). Der Reichspräsident konnte zudem den Reichstag auflösen (Art. 25 WRV).

Am relevantesten für unsere Diskussion aber ist der Artikel 48, der Notverordnungen regelt. Diese erlauben es dem Reichspräsidenten, Verordnungen und Gesetze durch Ausrufung eines Notstands ohne Zustimmung des Reichstags zu erlassen. Diese Notverordnungen können jederzeit durch den Reichstag mit einfacher Mehrheit aufgehoben werden. Sie müssen sich zudem in den Grenzen der WRV selbst bewegen; dem Reichspräsidenten ist explizit nicht gestattet, die Verfassung zu biegen, brechen oder gar eigenes Verfassungsrecht zu setzen.

Damit haben wir die Pflöcke eingerammt, die in dem Drama um das Ende der Weimarer Republik eine Rolle spielen werden.

Krisenjahre

Die Frage, die das allgemein anerkannte Narrativ seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten befeuert, lautet: "Warum musste Weimar scheitern?" Variationen davon wie "Warum scheiterte Weimar?" oder das schon wesentlich bessere "Musste Weimar scheitern?" finden sich so seit Jahrzehnten in deutschen Geschichtsbüchern und werden so unterrichtet. Das ist aus zweierlei Gründen die falsche Frage. Erstens denkt sie zu teleologisch vom Ende her, impliziert, dass das Scheitern der relevanteste, ja, oft genug zwingende Punkt an der Weimarer Republik war. Er ist auch das Prisma, durch das die WRV meist betrachtet wird, während der Blick auf das GG retrospektiv durch den andauernden Erfolg der BRD verzerrt wird. Zweitens aber ist die viel interessantere Frage: Warum hat sie Republik überhaupt so lange bestanden? Das Erklärungswürdige ist nicht ihr Fall, sondern warum sie die Krisenjahre 1919-1923 überlebte.

Die Weimarer Republik wurde inmitten eines Bürgerkriegs geboren, als Linksextremisten (die meist als "Spartakisten" zusammengefasst wurden) in Berlin, dem Ruhrgebiet und in München zeitweise die Kontrolle übernahmen und durch die rechtsradikalen Freikorps brutal niedergekämpft wurden (ausführlicher schrieb ich darüber hier), die dann ihrerseits 1920 einen Putschversuch unternahmen, der zu einem weiteren linken Aufstand im Ruhrgebiet und einer weiteren Niederschlagung durch Freikorps führte (und hier). Demokratische Politiker, allen voran Matthias Erzberger und Walter Rathenau, wurden ermordet. In den Friedensverhandlungen in Versailles (ausführlich siehe hier) entging das Deutsche Reich nur um Haaresbreite der Besetzung und Zerschlagung. Gleichzeitig plagten hohe Inflationsraten das Land, Freiwilligenverbände führten illegale Kleinkriege in Polen und dem Baltikum. 1923 besetzten Frankreich und Belgien das Ruhrgebiet, die Reichsregierung rief den "Passiven Widerstand" aus und finanzierte diesen mit der Notenpresse. Die folgende Hyperinflation verheerte das Land, und im November unternahm Adolf Hitler seinen Putschversuch. Gleichzeitig förderte Frankreich nach Kräften seperatistische Bestrebungen im Rheinland.

Angesichts dieser wahren Krisenlawine ist es eigentlich überraschend, dass die Republik das überstand. Ausschlaggebend hierfür war die staatsbürgerliche Verantwortung der SPD, die sich stets klar nach links abgrenzte; die zumindest anfangs ebenso klare staatsbürgerliche Verantwortung von Zentrum und DDP und ihre Abgrenzung nach rechts; die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften, die durch ihren Generalstreik den Kapp-Putsch vereitelten; den Wandel der DVP zu einer staatstragenden Partei unter Gustav Stresemann; der mäßigende Einfluss Großbritanniens und der USA auf Frankreich, die beide bereit waren, Deutschland in den liberalen Konsens zu integrieren (ausführlich hier beschrieben); und nicht zuletzt durch die Person Friedrich Eberts, der als erster Reichspräsident den Artikel 48 zur Restitution der Demokratie einsetzte.

Von hier trat die Weimarer Republik in eine Phase der Stabilisierung ein, die darauf beruhte, dass die rechten Oppositionsparteien DVP und DNVP bereit waren, sich dem rechtsstaatlichen Regelwerk zu unterwerfen und zu den Bedingungen der WRV an Koalitionen mitzuwirken. Eine Reihe von Rechtskabinetten regierte von 1924 bis 1928 die Republik, mit der SPD in loyaler Opposition. Dies galt besonders seit der Wahl Hindenburgs 1925 zum Reichspräsidenten, in dem die Rechtsparteien eine starke Identifikationsfigur erkannten. Erst die Weltwirtschaftskrise ab 1929 brachte die Weimarer Republik dann erneut in schweres Fahrwasser, aus dem sie nicht mehr herausfinden sollte.

Zurück zur Verfassung

Nichts davon aber hat mit der Verfassung zu tun. Wir müssen nun zu den anfangs angesprochenen Punkten kommen.

Was ist von der fehlenden Sperrklausel zu halten? Nehmen wir einmal die Wahl zum 4. Reichstag 1928. Insgesamt 491 Sitze wurden vergeben. Davon entfielen 153 auf die SPD, 73 auf die DNVP, 61 auf das Zentrum, 54 auf die KPD, 45 auf die DVP, 25 auf die DDP, 23 auf die Wirtschaftspartei, 17 auf die BVP, 12 auf die NSDAP. Die Christlich-Nationale Bauernpartei vereinte 13 Sitze auf sich; weitere 8 entfielen auf die Deutsche Bauernpartei. Die restlichen 7 Sitze teilten sich Volksrechtspartei, Landbund und Sächsisches Landvolk. Die verschiedenen Bauernparteien, die Volksrechtspartei und die Wirtschaftspartei zählen am ehesten als Splitterparteien (obwohl sie effektiv gleich groß waren wie die NSDAP!). Zusammen brachten diese Parteien 28 von 491 Sitzen zusammen - kaum genug, um als Problem für die Demokratie zu zählen. Zumindest für 1928 macht es Sinn, die NSDAP - die damals noch unbedeutend war - zuzuschlagen, so dass wir auf 40 von 491 Sitzen für Splitterparteien kommen. Sicherlich unangenehm, aber kaum ein Grund für tiefgreifende Sorgen. Schwerer wiegen die 54 Stimmen der KPD, die für demokratische Regierungen nicht zur Verfügung stand und sich völlig in die Opposition zu den "rot lackierten Faschisten" der SPD verrannt hatte. Aber selbst damit bleiben noch vier Fünftel der Sitze übrig.

Innerhalb dieser ließ sich keine rein demokratische Regierung bilden - die "Weimarer Koalition" aus SPD, Zentrum und DDP brachte keine Mehrheit zustande - aber das galt schon seit 1920. Stattdessen wurde 1928 eine "Große Koalition" gebildet, die auch die DVP und die BVP einschloss. Es war die Aufkündigung des demokratischen Konsens' durch Zentrum, DVP und BVP 1930 einerseits und die irrige Annahme der SPD, man könne aus der Opposition mehr erreichen andererseits, der dieses System zum Einsturz brachte, nicht, dass zu viele Parteien existierten oder an der Regierung beteiligt wären.

Es ist an dieser Stelle erhellend, einen vergleichenden Blick auf Frankreich und Italien zu werfen. Beide Staaten erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg neue Verfassungen mit Vielparteiensystemen und instabilen Regierungen. Die französische Vierte Republik überlebte nur zwölf Jahre und damit gerade ein Jahr mehr als die Weimarer Republik, während die italienische Republik trotz aller Unkenrufe weiterhin Bestand hat, auch wenn die Regierungen mit schöner Regelmäßigkeit wechseln. Aus der Verfassung lässt sich weder die Instabilität der Vierten Republik noch die überraschende Stabilität Italiens erklären. Genauso wenig gibt uns die WRV einen Hinweis darauf, dass das instabile Gebilde hätte einstürzen müssen.

Aber halt! Was ist mit den Volksbegehren? Sie werden gerne von Plebiszitgegner*innen bemüht, die aufzeigen möchten, warum die BRD nicht ebenfalls Plebiszite einführen sollte. Aber insgesamt gab es in der Weimarer Republik gerade einmal drei Volksbegehren (ein von den Linksparteien getragenes zur Enteignung der Fürsten; ein von der KPD initiiertes zur Verhinderung des Baus von Panzerkreuzer A, das vor allem der Bloßstellung der SPD diente; und ein von den Rechtsparteien initiiertes, das die Ablehnung des Young-Plans forderte). Kein einziges dieser Volksbegehren war erfolgreich, weil sie nie das notwendige Quorum erreichten (wenngleich das Volksbegehren zur Fürstenenteignung aufgrund von zumindest fragwürdigen Manövern Hindenburgs, der mitten im Abstimmungsprozess die Regeln des Volksbegehrens änderte, wohl unter den Originalregeln der WRV von 1919 erfolgreich gewesen wäre). Zwar führten die Wahlkämpfe jedes Mal zu einer Polarisierung der Gesellschaft, aber diese war nicht dauerhaft und unterschied sich nicht grundsätzlich von anderen solchen Debatten.

Was aber ist mit der starken Stellung des Reichspräsidenten? Sie ist am Kompliziertesten zu beantworten, weil sie uns direkt zu unseren Problemen führt. Es sei daher nur gesagt, dass die französische Fünfte Republik und die USA über Präsidenten verfügen, die eine mindestens so starke Stellung wie der Reichspräsident der WRV haben, wenn nicht sogar stärker. Auch hier kann uns der reine Verfassungstext wenig darüber aussagen, wie stabil das System sein konnte. Gleichzeitig war aber wohl kein Faktor so ausschlaggebend für den Untergang der Weimarer Republik wie Person und Handlungen Präsident Hindenburgs. Um das zu verstehen, müssen wir aber zuerst noch einmal rekapitulieren, wie das System der Präsidialkabinette funktionierte, denn das führt uns direkt zu den entscheidenden Fragen, die wir eingangs gestellt haben.

Die Basics, zweite Runde

Das Zerbrechen der Großen Koalition 1930 war in weiten Teilen der Bereitschaft der bürgerlichen Parteien (und der Rechtsparteien sowieso) geschuldet, nicht mehr parlamentarisch zu regieren. Die treibende Kraft dahinter war Hindenburg. Der Reichspräsident war nie ein Demokrat gewesen, und wo für ihn die Rechtsregierungen 1924-1928 noch erträglich gewesen sein mochten, war die Große Koalition ihm unerträglich. Dass die SPD an der Regierung war war dem verknöcherten Ostpreußen ein Gräuel. Von Anfang an versuchte er, die Regierung Müller zu hintertreiben. In "Hintergrundgesprächen" - ein Euphemismus für Intrigen - mit Figuren wie Kuno Graf Westarp, Gottfried Treviranus und Kurt von Schleicher, die allesamt eher unrühmliche Rollen in der Weimarer Geschichte spielten und noch spielen sollten, forderte er ein "antiparlamentarisches" und "antimarxistisches" Kabinett.

Als Führungsperson für dieses Kabinett empfahl sich 1929 der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Heinrich Brüning. Mit seiner kompromisslosen Linie, die Reparationen durch Streichungen im Haushalt zu bezahlen - sprich, auf dem Rücken der "kleinen Leute" - war er den Großagrariern um Hindenburg ebenso sympathisch wie den Großindustriellen, die in der Wirtschaftspartei und DVP versammelt waren. 1930 konstruierte er mit seinen späteren Koalitionspartnern DVP, DDP und Wirtschaftspartei den Bruch mit der SPD, die wie Tölpel darauf eingingen und von sich aus die Koalition aufkündigten. Damit endete die letzte demokratische Regierung der Weimarer Republik. Denn das schnell gebildete Kabinett Brüning I verfügte über keine eigene Mehrheit im Reichstag.

Stattdessen regierte Brüning als so genanntes "Präsidialkabinett". Hindenburg ernannte Brüning zum Reichskanzler, ohne dass dieser eine Mehrheitskoalition hinter sich wusste (eine Koalition besaß er gleichwohl, nur eben keine, die 50%+X der Stimmen auf sich vereinigen konnte). Um Gesetze durch den Reichstag zu bringen, versprach ihm Hindenburg, notfalls auf Artikel 48 zurückzugreifen. Allein, das verhalf Brüning noch nicht zu einer funktionsfähigen Regierung, denn Notverordnungen nach Artikel 48 hatten einen entscheidenden Nachteil (aus Sicht der Antidemokraten): sie konnten mit einfacher Reichstagsmehrheit aufgehoben werden.

Und da lag der Hase im Pfeffer. Denn die Verwendung der Notverordnungen zur Durchführung von Alltagspolitik war nicht im Sinne der WRV. Wir können das gut an ihrer Verwendung durch Friedrich Ebert sehen. Während der Krisen 1919-1923 griff er in Absprache mit den demokratischen Regierungen ebenfalls auf Notverordnungen zurück. Diese standen deswegen, weil die Reichstagsmehrheit die Ausrufung des Notstands unterstützte - und mit ihm die Notverordnungen. Angesichts der oben aufgeführten Situation in diesen Krisenjahren dürfte das auch eingängig sein. Die Verwendung der Notverordnungen durch Ebert hatte restitutiven Charakter. Die Verwendung der Notverordnungen durch Hindenburg aber hatte transformativen Charakter. Und das war ein Bruch der Verfassung.

Die Präsidialkabinette

Der Reichstag hätte Brünings Präsidialkabinett 1930 direkt stürzen können. Ein Misstrauensvotum gegen den wenig beliebten Kanzler und seine ohnehin radikale, antidemokratische Politik, und er wäre sein Amt los; eine Mehrheitsabstimmung, und jede Notverordnung wäre aufgehoben. Wie also konnte Brüning zwei Jahre lang regieren? Das Geheimnis liegt darin, dass er nur sehr wenige Notverordnungen von Hindenburg erbitten musste - insgesamt gerade einmal vier Stück. Und die dienten hauptsächlich identitätspolitischen Zwecken, nämlich der Demonstration, nicht auf eine Reichstagsmehrheit angewiesen zu sein. Das Geheimnis des Kabinetts Brüning I war der Artikel 25, nicht der Artikel 48. Brüning drohte, über Hindenburg per Artikel 25 den Reichstag auflösen und neu wählen zu lassen. In der Neuwahlperiode könnte die Regierung dann ausschließlich mit Notverordnungen regieren, weil der Reichstag für mehrere Monate nicht zusammentreten musste. Der neue Reichstag konnte diese natürlich wieder aufheben. Nur, in der politischen Situation 1930-1932 kamen solche Neuwahlen einem politischen Selbstmord für SPD, Zentrum, DVP, DDP und Wirtschaftspartei gleichermaßen gleich. Die Gewinner wären die extremen Ränder - KPD, DNVP, NSDAP.

Angesichts dieses wenig attraktiven Szenarios und in der Hoffnung, das Schlimmste verhindern zu können, entschloss sich die SPD, der Erpressung durch Brüning nachzugeben und seine Regierung zu tolerieren. Und offene Erpressung war es. Man lausche nur Brünings eigener Regierungserklärung:

Das neue Reichskabinett ist entsprechend dem mir vom Herrn Reichspräsidenten erteilten Auftrag an keine Koalition gebunden. Doch konnten selbstverständlich die politischen Kräfte dieses hohen Hauses bei seiner Gestaltung nicht unbeachtet bleiben. Das Kabinett ist gebildet mit dem Zweck, die nach allgemeiner Auffassung für das Reich lebensnotwendigen Aufgaben in kürzester Frist zu lösen. Es wird der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstag durchzuführen.

Elektoral war das für die Partei verheerend, aber das Kalkül sollte aufgehen. Brünings autokratische Regierung war die weniger schlimme Lösung vor dem, was danach kam. Während seiner Regierungsjahre war Brüning von drei Zielen getrieben. Einerseits wollte er die Wirtschaftskrise nutzen, um den Weimarer Sozialstaat zu zerstören und die Verhandlungsposition der Arbeiter zu vernichten, oder, in seinen Worten, "das sachlich nicht gerechtfertigte Preisgebäude zum Einsturz zu bringen". Andererseits wollte er die Wirtschaftskrise nutzen, um den Alliierten gegenüber die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu demonstrieren. Dieses Ziel ging Hand in Hand mit dem ersten: die Schaffung des Massenelends sollte als außenpolitischer Hebel wirken. In den bemerkenswert offenen Worten seines Staatssekretärs, Schäffer:

Gesetzt, die Politik [einer Linderung der Massenarbeitslosigkeit] glückt uns und es gelingt, mit einer Arbeitslosenziffer von im Ganzen zwei Millionen durch den Winter zu kommen, […] wird eine solche Sachlage nicht […] einer neuen Reparationsregelung im Wege stehen? Andererseits ergibt sich daraus die Frage: Kann man es verantworten, an einer richtigen und zweckmäßigen Lösung [der Beschäftigungsfrage], die sozial entlastend und politisch beruhigend wirkt, aus taktischen Gründen vorbeizugehen?

Das dritte Ziel Brünings war das, weswegen ihn Hindenburg und seine Kamarilla vor allem eingesetzt hatten: die Transformation Weimars in einen autokratischeren Staat. Brüning schwebte dabei eine Art Ständestaat vor, wie er ab 1934 in Österreich umgesetzt werden würde. Bis 1932 wurden auf allen drei Feldern große Erfolge erzielt. Das Massenelend nahm die weithin bekannten, erschreckenden Ausmaße an; die Reparationen wurden beendet; die Demokratie war zerstört. Doch Hindenburg und den anderen Rechten ging es nicht schnell genug. Unter Franz von Papen, einem Rechtsaußen in einer ohnehin bereits weit nach rechts gewanderten Zentrumspartei - deren Vorsitz bald vom Prälaten Kaas übernommen wurde, der von Demokratie genauso viel hielt wie Hindenburg, nämlich nichts -, der mit Hindenburg gut bekannt war, ging der Staat im Frühjahr 1932 in seine letzte Phase ein. Papen versuchte nicht einmal mehr, mit Tolerierung zu regieren. Er prügelte seine Politik mit Notverordnungen durch, deren Zahl nun inflationär anstieg. Unterstützt wurden diese unter anderem von Hitlers NSDAP.

Bei den Reichstagswahlen im Sommer 1932 wurde die NSDAP stärkste Partei. Die liberalen Parteien evaporierten förmlich, die DNVP verlor massiv an Zustimmung, auch die SPD musste ordentlich Federn lassen. Hitler forderte nun seinerseits das Kanzleramt und kündigte die Tolerierung von Papens auf. Der intrigante Chef der Reichswehr, Kurt von Schleicher, der schon an Brünings Ernennung beteiligt gewesen war, versuchte eine Koalition von Papens mit Hitler einzufädeln, was Hitler ablehnte. Beim ersten Zusammentreffen des neuen Reichstags im September manövrierte Göring (als Reichstagspräsident) von Papen geschickt aus - der Mann war ein wesentlich schlechterer Politiker und Intrigant, als es seinem überzogenen Selbstbild entsprach - und initiierte sofort ein Misstrauensvotum. Papen löste den Reichstag erneut auf, es kam zum zweiten Mal binnen Monaten zum Wahlkampf, der die Legitimät der Demokratie weiter untergrub. Die NSDAP verlor zwar Stimmen, aber an den Mehrheitsverhältnissen änderte sich nichts Grundlegendes. Im November trat der Reichstag erneut zusammen, von Papen musste seinen Hut nehmen und wurde von von Schleicher ersetzt. Auch der scheiterte in nur 100 Tagen an der Quadratur des Kreises.

"Machtergreifung"

An dieser Stelle kehrte von Papen in grenzenloser Selbstüberschätzung zurück, bereit den Beweis seiner eigenen Mittelmäßigkeit zu erbringen, und überzeugte Hindenburg (über den Umweg von dessen Sohn Oskar, eines weiteren mittelmäßigen Aristokraten, der an einem durch die Geburt mit dem goldenen Löffel im Mund völlig überzogenen Selbstüberschätzung und Anspruchsdenken litt), von Schleicher zu schassen und stattdessen den ungeliebten Hitler zum Reichskanzler zu ernennen (Hindenburg sah mit dem stilsicheren Auge des Aristokraten Hitler als Pöbel an; seine politischen Ansichten waren nicht das Problem). Sein Plan: zusammen mit einigen anderen mittelmäßigen konservativen Figuren Hitler "einzurahmen", seine Massenpopularität zu nutzen und ihn zu instrumentalisieren.

Dieser Plan scheiterte im Ansatz. Hitler hatte nicht das geringste Interesse, von Papens politische Agenda zu stützen, und er war ein wesentlich besserer politischer Akteur als alle seine Kontrahenten zusammen. Dazu kam ihm der Zufall zu Hilfe: der niederländische Terrorist van der Lubbe zündete im Februar 1933 in einem Anfall geistiger Umnachtung den Reichstag an. Die Nationalsozialisten, denen von Papen und seine Spießgesellen das Innenministerium und damit die Kontrolle über die Polizei überlassen hatten, nutzten das als Anlass zur Zerschlagung der KPD, die sich als Papiertiger herausstellte. Bei aller Revolutionsrhetorik ließen sich die KPD-Funktionäre im Vertrauen auf den Rechtsstaat brav verhaften. Erst in den Folterkellern der Polizeistationen und bald in Dachau erkannten sie zu spät ihren Fehler.

Hitler ließ dann ein Gesetz ausfertigen, das dem Namen nach "dem Schutz von Volk und Reich" dienen sollte, in Wahrheit aber seiner Ermächtigung diente. Unter diesem Namen ist es denn auch bekannt geworden. Das "Ermächtigungsgesetz", das im März 1933 dem Reichstag vorgelegt wurde, erlaubte dem Reichskanzler, Gesetze ohne Zustimmung des Reichstags zu verabschieden und jederzeit Verfassungsrecht zu ändern. Da es selbst die Verfassung änderte, brauchte Hitler dazu auch die Zustimmung des Zentrums, die es zu seiner ewigen Schande auch gab. Damit war Hitler Diktator. Von Papen und die anderen konservativen "Einrahmer" waren bedeutungslos geworden. Binnen eines Jahres erhielt Hitler einen eisernen Griff auf Staat und Gesellschaft, den er nach dem Tod Hindenburgs formalisierte, als er die Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident in seiner Person als "Führer" vereinte.

Legalität

Aber das alles interessiert uns nur insofern, als dass es die notwendige Wissensgrundlage für die alles entscheidende Frage stellt: War es innerhalb der Normen der WRV? War es legal?

Die Antwort hierauf ist ein klares "Nein". Das wussten bereits die Zeitgenossen. Ich setze den Begriff der "Machtergreifung" hier bewusst in Anführungszeichen; aus der obigen Schilderung sollte deutlich geworden sein, dass hier nichts ergriffen wurde. Es fand eine Übergabe statt. Nur, was hier übergeben wurde war nicht anstelle Hindenburgs, von Papens oder sonstwem zu geben. Und das war den Zeitgenossen durchaus klar. Ich habe oben Brünings Regierungserklärung zitiert. Es ist aufschlussreich, sich die Erwiderung des SPD-Abgeordneten Wilhelm Keil vorzunehmen:

[…] Der Reichskanzler Dr. Brüning [hat] „mit allen verfassungsmäßigen Mitteln“ gedroht. Er hat nicht klar gesagt, was er damit meint. Ein verfassungsmäßiges Mittel wäre der Rücktritt der Regierung, ein anderes wäre die Auflösung des Reichstags. Sollte der Reichskanzler aber keines dieser Mittel im Auge haben, son-dern etwa den vielzitierten Artikel 48 der Reichsverfassung im Auge haben, so müssen wir noch einmal laut unsere warnende Stimme erheben […]. Der Artikel 48 ist nach seiner Entstehungsgeschichte, seinem Sinn und Wortlaut kein Instrument zur Rettung einer Regierung, die sich verrechnet hat. Artikel 48 kann unmöglich Anwendung finden zur Durchsetzung von Gesetzen, die der Reichstag nicht genehmigen will. Eine solche Anwendung wäre ein Missbrauch des Artikels 48 und dieser Missbrauch würde heißen: die Verfas-sung außer Kraft setzen. Das aber, Herr Reichskanzler, wäre ein Vabanquespiel , von dem niemand sagen kann, wo und wie es enden wird.

Auf gut Deutsch: die Anwendung von Artikel 48 ist Verfassungsbruch. Natürlich darf man nun einwenden, dass ein gerade frisch in die Opposition verbannter Sozialdemokrat natürlich nicht mit sonderlich freundlichen Augen auf die Vorgänge blicken wird. Allein, die Träger der Präsidialkabinette selbst machten ja keinen Hehl daraus, dass der von ihnen postulierte Notstand überhaupt keiner war und dass es ihnen vielmehr um die Transformation des Systems ging. Wenn etwa Brüning dem Reichstag in seiner ersten Regierungserklärung erklärte, seine Meinung "nicht unbeachtet" lassen zu wollen, dann ist das in etwa so, als würde Merkel ankündigen, sich durchaus gelegentlich nach dem Befinden des Bundestags erkundigen und ansonsten qua Artikel 65GG mit der Richtlinienkompetenz regieren zu wollen: die Verfassung schreibt nicht vor, dass das Parlament nach Gutdünken der Regierung angehört werden sollte; es schreibt seine explizite Zustimmung vor. Der Historiker Hans Boldt schrieb bereits 1980 in einem vom nicht eben der Sozialdemokratie nahestehenden Michael Stürmer herausgebrachten Sammelband zur Weimarer Republik:

[…] Ein derartiges Vorgehen gegen die Ausübung eines legitimen Rechtes des Reichstags fand in der Weimarer Verfassung keine Stütze. Es wurde […] damit gerechtfertigt, dass eine Verfassungsstörung eingetreten sei, wenn das Parlament sich nicht mehr als fähig erweise, seine Funktion selbst durch Bildung positiver, entschlussbereiter Mehrheiten wahrzunehmen. Dies stelle eine Art von Verfassungsnotstand dar, der die Regierung verpflichte, die zu seiner Abwendung notwendigen Maßnahmen, eventuell auch im Wege der Verfassungsänderung (!) zu ergreifen. […] Das jetzt aufkommende Präsidialregime beruhte darauf, dass der Reichspräsident […] seine Rechte aus den Artikeln 25, 48 und 53 als funktionelle, gegen den Reichstag gerichtete Einheit verstand. Mithilfe des dementsprechend antiparlamentarisch interpretierten Artikels 53 konnte er eine Reichsregierung ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag ernennen. […] Diese war nun nicht mehr vom Parlament, sondern allein von ihm abhängig; denn er konnte sie jederzeit ernennen, so auch entlassen. […] Artikel 48 fungierte nunmehr als Gesetzgebungsgrundlage in Präsidialregimen, deren Notstandbekämpfung nicht mehr restitutiven, sondern systemverändernden Charakter trug.

Bereits das Präsidialkabinett Brünings, das von Papen und von Schleichers sowieso, waren verfassungswidrig. Dass sich Hindenburg und seine Mittäter auf Artikel der WRV beriefen, macht das nicht falsch. Wie den Zeitgenossen durchaus klar war, handelten sie bestenfalls formal korrekt. Aber ihr Handeln war nicht im Einklang mit der Verfassung, es war auf ihre Beseitigung und ihren Bruch angelegt.

Lektion gelernt?

Allzu häufig wird behauptet, das Grundgesetz habe diese Probleme gelöst, und die Stabilität der Bundesrepublik rühre daher. Allein, das ist eine Mirage. Die Verfassung ist ein Papierschild. Wenn ihre Träger sie nicht mehr verteidigen, sondern aktiv zerstören wollen, dann beschützt eine Verfassung überhaupt nicht. Auch das viel gerühmte und hochgehaltene Bundesverfassungsgericht kann da wenig ausrichten, wie die von Maximilian Steinbeis entworfene Dystopie eines Dritten Senats nur allzu deutlich macht. Ja, das Grundgesetz kennt kein Notverordnungsrecht für den Bundespräsidenten. Aber diejenigen, die glauben dadurch das Schicksal der Weimarer Republik zu vermeiden sitzen dem spiegelbildlichen Fehler der 68er auf. Diese fürchteten die Wiederkehr der so genannten "Weimarer Verhältnisse" - eine Fehlbenennung, wie hoffentlich klargeworden sein sollte - durch die Einführung der Notstandsgesetze 1968. Diese würden, so die Befürchtung, der Regierung Tür und Tor für die Errichtung einer Autokratie à la Brüning öffnen.

Die Notstandsgesetze kamen nie zur Anwendung. Sie wurden nicht deswegen nicht benutzt, weil ein angehender Diktator ein Diktum des BVerfG fürchtete. Sie wurden deswegen nie zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung genutzt, weil in der Bundesrepublik noch nie ein Antidemokrat Kanzler oder Bundespräsident wurde. Dasselbe gilt für die verfassungsmäßig starke Stellung der französischen oder amerikanischen Präsidenten. Es sind demokratische Institutionen und Normen, die sie kontrollieren, nicht Verfassungsparagrafen. Der amerikanische Süden missachtete 100 Jahre das verfassungsmäßige Recht der Schwarzen, wählen zu dürfen, sanktioniert vom höchsten Gericht des Landes.

Die Weimarer Republik ging 1930 nicht wegen der Konstruktionsfehler ihrer Verfassung unter. Die Verfassung hatte völlig problemlos funktioniert und der Republik das Überstehen einer beispiellosen Lawine von Krisen zwischen 1919 und 1923 ermöglicht. Die Verfassung überlebte auch die Wahl eines erklärten Anti-Demokraten in ihr höchstes Amt. Warum schließlich unternahm Hindenburg fünf Jahre lang keinen Versuch der Errichtung einer Autokratie, der er doch offensichtlich so sehnlich wünschte, wenn ihm die Verfassung angeblich als "Ersatzkaiser" die Rechte dafür in die Hand gab? Die Antwort ist einfach: Die WRV tat das nicht. Der Reichspräsident war kein "Ersatzkaiser". Er wurde es durch einen kalten Putsch Hindenburgs 1930.

Dass dieser Putsch möglich war lag nicht in den Paragraphen der WRV begründet, sondern in der Entscheidung der Liberalen und Konservativen, die Demokratie zugunsten eines autoritären Systems abzuschaffen. 1930 gab es nur noch eine einzige demokratische Partei im Reichstag, die SPD. Das Zentrum, die DVP und die DDP (die sich in "Deutsche Staatspartei" umbenannt hatte), die vorherigen Trägerparteien der Republik, hatten sich allesamt von ihr abgewandt und unterstützten den Umbau zu einem irgendwie gearteten autokratischen System. Ab diesem Zeitpunkt war Weimar tot, und die Bundesrepublik wäre genauso tot, wenn ihre Trägerparteien sich von der Demokratie abwendeten.

Was das dreijährige Zwischenspiel der Präsidialkabinette mehr als alles andere befeuerte war die Uneinigkeit der Republikgegner darüber, was an ihre Stelle treten sollte. Ihre Unfähigkeit, einen tragfähigen Unterbau zu finden, spiegelt sich in den Versuchen wieder, die WRV umzubauen - aber diese Versuche hatten nichts mit der Republik oder der Intention der WRV selbst gemein. Sie waren eine Übergangsphase zu etwas Neuem, das am Horizont bereits wetterleuchtete, das aber jenseits einer Demokratie liegt. Keine Verfassung kann sich selbst schützen. Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit.

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