Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Auf dem Weg zur Verteidigungsunion

Konkret geht es um Vorhaben, die nicht sofort spektakulär wirken: Die Zahl an Austauschoffizieren wird erhöht. Vorschriften werden weiter angeglichen, damit der Mechaniker des einen auch am Gerät des anderen Landes herumschrauben darf. In der Ukraine zeigte sich, dass die gemeinsam gelieferten Panzerhaubitzen 2000 im eigenen Betrieb so angepasst worden waren, dass sie nicht miteinander kommunizieren konnten. Nun sollen, wie ein Sprecher des Heeres dem Tagesspiegel sagte, „künftig öfter identische oder mindestens kompatible Landsysteme gekauft werden, sodass die Interoperabilität der beiden Heere noch weiter verbessert werden kann“. Dasselbe gilt für Doktrinen und Konzepte. Die ganz neue Qualität liegt darin begründet, dass nun zum 1. April auch die 13. leichte Brigade des niederländischen Heeres in die 10. Deutsche Panzerdivision eingebettet wird. Das ist für Deutschland, aber mehr noch für die Niederlande ein historischer „Meilenstein“, wie das „NRC Handelsblad“ in dieser Woche schrieb, weil „demnächst alle niederländischen Brigaden einer deutschen Division unterstellt sind“. [...] Getrennt entschieden soll auch weiterhin darüber, ob die eigenen Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz geschickt werden. „Wir glauben nicht, dass das zu einer europäischen Armee führen wird“, heißt es deshalb aus dem Haager Ministerium. (Christoph Ziedler, Tagesspiegel)

Ich finde das eine begrüßenswerte Entwicklung, und es ist faszinierend, wie sehr "unter dem Radar" das passiert. Die Europäische Armee wird zwar gerne in Sonntagsreden beschworen, ist aber derzeit wohl ein reines Traumgespinst (Sicherheitshalber hatte das was Gutes dazu). Aber das erscheint mir sinnvoll. Kleinere Länder können so Skaleneffekte nutzen, indem sie ihre Armee mit einem größeren benachbarten Verbündeten integrieren, und umgekehrt können die größeren Länder ebenfalls Synergieeffekte nutzen, wo das kleinere Land was bieten kann. Tschechien zum Beispiel ist ja wohl super bei ABC-Schutzausrüstung und -einheiten; da geht sicher auch mehr, als das aktuell der Fall ist. Auf die Art kann man im Kleinen was bewegen.

2) Der Drift: Wie aus dem Top-Beamten Maaßen der große Aussätzige der Politik wurde

„Globalisten?“, dachte ich. So reden sie doch normalerweise in den Kreisen, in denen man sich zuraunt, dass in Wahrheit eine kleine Clique von Finanzjongleuren an der Wall Street die Fäden in der Hand halte. Es ist seitdem nicht besser geworden, soweit man das beurteilen kann. Maaßen hinterlässt auf Twitter Beiträge, die so schräg sind, dass er sie anschließend schnell wieder löscht. Er empfiehlt Videokanäle, in denen über Chemtrails gefaselt wird und darüber, dass Deutschland ein Vasallenstaat der Amerikaner sei. Auch seine Sprache hat sich verändert. Journalisten nennt er jetzt grundsätzlich „Gesinnungsjournalisten“, ohne diesen Zusatz kommt er nicht mehr aus. Die andere Lieblingsvokabel ist „öko-woke“, wie in: „öko-woke Juristen“, „öko-woke Medien“ oder „öko-woke Gegenseite“. [...] Ist Maaßen ein Rassist oder Antisemit, wie ihm unterstellt wird? Dafür gibt es keine Belege, jedenfalls sind bislang keine überzeugenden präsentiert worden. [...] Wenn ich mir Robert Habeck und Annalena Baerbock anschaue, dann sehe ich zwei Politiker, die sich mehr oder weniger erfolgreich bemühen, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Selbst wenn sie den Wunsch hätten, die Deutschen durch den Zuzug arabischer Großfamilien zu ersetzen, wären sie mit der Umsetzung heillos überfordert. [...] Ich habe das schon einmal erlebt, bei meinem langjährigen Freund Matthias Matussek. [...] Am Anfang des Drifts steht meist eine Kränkung, ein Unglück, das einen nicht mehr loslässt und den Blick verengt. Bei Maaßen war es die Entlassung als Chef des Verfassungsschutzes. [...] Außerdem kann Maaßen darauf verweisen, dass er mit fast allem, was ihm zur Last gelegt wird, unbehelligt bei der Linkspartei oder Teilen der SPD weitermachen könnte. Das wilde Herumfuchteln mit der Rassismuskeule, die merkwürdige Theorie, dass die USA uns in den Krieg treiben, damit wir uns von Russland entfremden und die Amis uns wieder dominieren können: All das findet sich auch links der Mitte. Wenn die vergangenen Monate eines gezeigt haben, dann, wie nahe sich ganz links und ganz rechts sind. Das Hufeisen ist in Wahrheit ein Kreis. (Jan Fleischhauer, Focus)

Ich finde es gut, dass sich Fleischhauer mit der Causa Maaßen beschäftigt und eine klare Grenze zu ihm zieht. Seine Analyse halte ich aber in mehreren Punkten für fehlgeleitet. Da wäre einerseits seine Rassismus-Definition (oder eher: das Fehlen einer solchen). Mir ist völlig unklar, wie er Maaßen dafür kritisieren kann, der Verschwörungstheorie anzuhängen, dass die deutsche Bevölkerung gegen arabische Muslime ausgetauscht werden solle und gleichzeitig keinen Anhaltspunkt für Rassismus zu finden.

Der größere Irrtum aber ist, dass der Wendepunkt die Entlassung als Verfassungsschutzchef war. Wie Patrick Bahners in seinem Buch jüngst gut aufgezeigt hat, war Maaßen wenn nicht schon immer, so doch schon wesentlich länger abgedriftet. Es fiel nur vor der Kränkung nicht auf - seither hat er nur die Maske fallen lassen, weil nichts mehr zu verlieren ist. Die Radikalisierung fand schon vorher statt. Auch, dass Fleischhauer dafür die Schuld wenigstens zur Hälfte den Linken in die Schuhe schieben will, weil sie Maaßen kritisierten, ist hanebüchen. Weder macht konservative Kritik jemand zum RAF-Terroristen, noch bringt liberale Intransigenz jemanden dazu, Ökoterrorist zu werden - oder eben linke Kritik jemanden dazu, rechtsextrem zu werden. Das kriegen die schon selbst hin.

Der dritte Punkt ist, dass zwar deutlicher Überlapp zwischen rechts und links etwa bei der Nähe zu Russland besteht, die aber jede auf ihre eigene Weise bescheuert sind. Maaßen könnte eben nicht einfach bei der LINKEn anfangen, genauso wie Sara Wagenknecht nicht einfach zur AfD könnte. Diese unterkomplexe Theorie nimmt Extremisten auf beiden Seiten des Spektrums nicht ernst genug, weil sie ihnen eine Beliebigkeit unterstellt, die diese nicht haben. Ernstnehmen sollte man sie aber, sonst bleiben die eigenen Analysen nutzlos und nicht viel mehr als Invektiven.

Nikolaus Blome argumentiert bei Spiegel übrigens dafür, ihn in der CDU zu lassen; er könne niemandem mehr schaden und es sei ein Zeichen "konservativer Souveränität". Das ist nun wahrlich kompletter Humbug. Wenn jemand mit den Werten meiner Partei nicht vereinbar ist, dann kann ich nicht mit dem in der Partei sein. Und Maaßen nutzt seinen Status als CDU-Mitglied aus, um für seine mit der CDU nicht vereinbaren Werte Werbung zu machen. Das war exakt derselbe Mist mit Thilo Sarrazin. Muss die CDU jetzt wirklich jeden Fehler der SPD seit 2003 nachmachen?

3) Es wäre töricht, der Ukraine zuliebe die Gefahr für den Westen kleinzureden

Es gehört zur strategischen Umsicht, sich bereits heute mit der wohl unangenehmsten Frage dieses Krieges zu beschäftigen: Was geschieht, wenn die Ukraine verliert? In diesem Fall ist die Nato im Allgemeinen, die Bundeswehr im Besonderen in einer Weise hochzurüsten, die der kältesten Phase des Kalten Krieges entspricht. Allenfalls die USA können es sich leisten, heute auf die Kampfjets zu verzichten, die sie morgen selbst brauchen. Je düsterer die Aussichten für Kiew in diesem Krieg sind, desto stärker ist darauf zu achten, die Verteidigungsfähigkeiten des Bündnisses zu stärken. Die kümmerlichen 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Berlin derzeit für die Bundeswehr ausgibt, reichen dafür nicht aus. In der Hochzeit der Entspannungspolitik unter Kanzler Willy Brandt zahlte Deutschland 3,4 Prozent des BIP für die Verteidigung. Nicht einmal die würden in einer Kriegslage wie der heutigen genügen. Polen zahlt für seine Aufrüstung jetzt schon rund vier Prozent des BIP. (Jacques Schuster, Welt)

Das ist so etwas, das mir an der deutschen Haltung unklar ist. Es ist doch in unserem ureigensten Interesse, wenn das russische Militär a) in der Ukraine gebunden ist und b) möglichst große Verluste erleidet. Gerade vor dem Hintergrund der kläglichen Einsatzbereitschaft westlicher Militärs. Dieses Spannungsfeld zwischen dem "Eigentlich brauchen wir den wenigen einsatzbereiten Kram selbst" und "in der Ukraine leistet es am meisten" scheint mir sehr schwer aufzulösen, und was mich da wirklich sehr verwundert zurücklässt ist die Haltung von Scholz. Es ist ja eine Sache, zu Baerbock zu sagen (siehe Resterampe n), dass man das Material nicht liefern will, weil man es selbst braucht. Aber einfach auf der einen Seite die Lieferungen nicht zu machen und auf der anderen Seite aber auch nichts am Zustand der Bundeswehr ändern zu wollen scheint mir als der Mittelweg, der in Zeiten von Gefahr und Not den Tod bringt.

4) Information hoarding won’t benefit governments in the long run

But better information comes at a cost. It makes it harder for governments or individuals to engage in polite fictions about how services really operate. The UK government’s prisons data dashboard, for example, is a triumph for transparency, but it reveals that Britain’s prison system is generally pretty bad at actually rehabilitating prisoners. [...] The NHS is more popular than most peer systems despite the fact it broadly delivers similar outcomes to them for similar amounts of money. One reason for this is that the various ugly things healthcare systems have to do — deciding who is treated first and what type of treatments to offer — are kept hidden from view by the health service’s model. A better system-wide view of how treatment outcomes and waits differ for people with learning disabilities, or from different ethnic minorities, is vital in improving how the system operates. But it makes states or governments look better if those realities are kept out of sight. [...] Politicians are right to believe that better and more transparent data will mean having to deal with awkward questions. If it’s not clear that the UK is managing to effectively rehabilitate most people it imprisons, say, that raises uncomfortable questions about what, exactly, we hope to accomplish with short prison sentences. And a more transparent NHS may find it harder to engage in the covert rationing the service has practised in the past. But the reality is that you don’t need a government to be transparent to know that UK healthcare is in a bad way or that much of the public realm is in poor repair. Around the world, the data revolution will make it harder for governments to disguise the truth about how the services they provide work. But they’d be better off becoming enthusiastic advocates for the benefits of transparency and sharing the fruits of better information with the voters, rather than hoarding them for the political class alone. (Stephen Bush, Financial Times)

Es ist ein schwieriges kontrafaktisches Argument: wir erfahren ja naturgemäß nie, wenn information hoarding für Regierungen funktioniert. Jedes Mal, wenn das rauskommt, ist es dann natürlich ein großer Schaden. Ich stimme Bush allerdings zu wenn er sagt, dass es immer schwieriger wird, als Regierung Informationen geheizuhalten. Man denke nur an die Wikileaks-Revolution der 2010er Jahre, als plötzlich außenpolitisch sensible Informationen bekannt wurden, die ansonsten eigentlich immer im Geheimnisbereich liegen. Auch ist das Argument, dass Verbesserungen im System notwendig sind und dass es hierzu Informationen braucht, sicher korrekt. Gleichzeitig aber bin ich eher skeptisch, ob information sharing dieses Resultat produziert. Dafür braucht es investigativen (Daten-)Journalismus, und der ist sowohl teuer als auch selten.

5) Challenging the U.S. Is a Historic Mistake

Are Americans as a people up to a major confrontation with another great power, whether in immediate conflict or a protracted Cold War-like struggle? It would be dangerous for a potential adversary to assume they are not. Whatever condition the American political system may be in, it is not appreciably worse than it was during the 1930s. That, too, was a deeply polarized America, including on the question of whether to intervene in the world’s conflicts. But once the U.S. found itself at war, dissent all but disappeared. If ever there could be a cure for American political polarization, a conflict with China would be it. Can it possibly be worth it for Xi Jinping to bring on such a confrontation? Consider Mr. Putin’s attempt to conquer Ukraine. Even if Russia were to prevail—which looks increasingly unlikely—Ukraine’s neighbors would arm themselves to the teeth, the U.S. would increase its forward presence, and a new iron curtain would fall along the western borders of Ukraine. Mr. Putin’s overall objective of regaining Russian hegemony in eastern and central Europe would still be far off and likely unreachable. The U.S.-led liberal world order would still be intact and capable of blocking further Russian advances. Mr. Putin has made a very expensive investment for what in the best of circumstances must be a relatively small payout. A Chinese takeover of Taiwan would pose the same problems. Beijing might achieve a significant strategic victory, but it would come at the price of alarming the whole world, pushing American allies into a closer embrace with Washington and frightening the American public into an all-out effort to contain and weaken China. (Robert Kagan)

Kagan hat hier einen sehr langen Essay, gespickt mit zahlreichen historischen Vergleichen (besonders zu Deutschland und Japan) vorgelegt. Während ich seine Vergleiche für eher wackelig halte - und zu sehr im Narrativ des Zweiter-Weltkrieg-Triumphalismus verhaftet - ist die Argumentation grundsätzlich eine, die ich stützen würde. Die Stellung der USA ist trotz aller Schwächen eine wahnsinnig starke, und alle Abgesänge auf das Land haben sich bisher als falsch erwiesen. Das ist natürlich immer nur solange wahr, bis es das plötzlich nicht mehr ist, aber die Zahl an Verbündeten, die Washington besitzt, die weltweiten Basen und den militärischen Rüstungsvorsprung muss man in allen Szenarien schon hart ignorieren und der Annahme, dass das Land keine Lust haben wird, sich militärisch auf Taiwan zu engagieren, sehr viel Bedeutung geben. Und Kagan hat völlig Recht davor zu warnen, dass das keine sichere Bank ist.

Etwas skeptisch bin ich, wenn Kagan so mir nichts, dir nichts über die Tatsache hinweggeht, dass sich 1941 und 2023 schon dadurch unterscheiden, dass wir von Atommächten reden. Denn klar, die Ukraine zeigt gerade deutlich, dass auch Atommächte noch konventionelle Kriege führen können. Aber was unbestritten sein sollte ist, dass sie sie umfassende Angriffe und Gegenangriffe deutlich verkomplizieren. Es ist vorstellbar, dass weder USA noch China Atomwaffen einsetzen würden, während Armeen und Marinen um Taiwan kämpfen. Aber eine US-Landung bei Beijing? Da sieht die Rechnung dann anders aus.

6) Brexit could be reversed — here’s how

Seven years after the 2016 referendum, and three years after Brexit actually happened, opinion has shifted markedly. As the academic Matthew Goodwin wrote recently, some 60 per cent of Britons now think Brexit was the wrong decision and would vote to rejoin the EU at a second referendum. An average of recent polls shows 58 per cent of voters not only regretting Brexit, but actively favouring Rejoin. It is easy to understand why. Brexit was sold as a way of controlling immigration and improving the NHS. But the NHS is now in far worse shape than it was in 2016. Immigration into the UK remains very high, with EU immigrants largely replaced by people from outside the bloc. And the IMF predicts that Britain will have the worst performing economy in the developed world this year. [...] Most EU insiders, however, warn that, this time, Britain would not be offered any special deals. There would be no budget rebate; no opt out from the social chapter. Britain would have to accept the free movement of people and, quite probably, the euro. Some pundits think that once these realities sink in, the British would lose their initial enthusiasm for rejoining the EU. But that is not necessarily the case. The idea that leaving the EU will dramatically reduce immigration has been disproved. Embracing European social standards may horrify the Tory right, but would probably be popular among most of the electorate.(Gideon Rachman, Financial Times)

Color me sceptical. Ich würde mir auch wünschen, dass das UK wieder in die EU kommt. Aber das hier erscheint mir schon überoptimistisch. Erstens sehe ich nicht, woher der Impetus für ein neues Referendum kommen sollte. Zweitens bin ich unsicher, ob das wirklich diese Mehrheitsverteilung abbilden würde. Drittens finde ich 58:42 auch nicht dermaßen eindeutig, besonders angesichts der zu erwartenden Annäherung. Und viertens ist die Perspektive, ohne Vergünstigungen und mit dem Euro (!) beizutreten, nichts, was die Souveräntitäts-besessenen Briten anziehen dürfte. Aber hey, ich lass mich gerne überraschen.

Viel relevant finde ich - auch im Hinblick auf das folgende Fundstück 7 - den Hinweis darauf, welche Rolle die Dysfunktionalität des NHS (siehe auch Fundstück 5) spielt und welche Policy-Sackgasse das Immigrationsthema ist. Nur: Die beiden sind in der britischen Debatte ja verknüpft. Immigration war ja ohne Zweifel das beherrschende Thema für den Brexit 2016, versüßt durch das absurde Versprechen von mehr Geld für den NHS (der dann von den konservativen Regierungen VÖLLIG ÜBERRASCHEND weiter zerstört wurde, aber das Gedächtnis der Wähler*innen ist halt kurz).

7) No One With a Functioning Brain Sees the GOP as the ‘Party of Normal’

But the primary objective of her speech was to make it plain what the choice is for the American voter: “The dividing line in America is no longer between right or left. The choice is between normal or crazy.” [...] Sanders’ speech seemed to be aimed almost exclusively at those Americans who are already voting Republican or who spend their day watching Fox News. Do most Americans think they are “under attack in a left-wing culture war”? Who outside the conservative fever swamp nods their head at the charge that the Biden administration "has been completely hijacked by the radical left" or that he’s “surrender(ed) his presidency to a woke mob”? And what objective observer of American politics thinks the party of Reps. Marjorie Taylor Greene, Lauren Boebert, Paul Gosar, and Donald Trump is America’s “normal” party? [...] For example, Biden spent a chunk of his speech talking about his administration’s efforts to reduce junk fees like exorbitant bank charges for overdrafts and bounced checks, resort fees at hotels, and the excessive charges tacked on to concerts and sports tickets. As small bore as it might seem, issues like this resonate far more with Americans than yet another Republican diatribe about border security or the evils of wokeness. Republicans love to argue that they are the voice of real America and not the coastal elites whom they constantly deride. But, when you listen to these two speeches back-to-back, it’s Republicans who sound out-of-touch and consumed by their pet social issues. For all the GOP claims that Democrats are obsessed with wokeness, it's Republicans who spend far more time talking about them. (Michael Cohen, The Daily Beast)

Es ist das, was ich immer wieder sage: diese ganzen ideologischen Spinner gibt es an der Basis der Democrats natürlich auch, aber im Gegensatz zu den Republicans bestimmen sie nicht die Geschicke der Partei. Ich würde mich ja gerne dem Chor jener anschließen, die 2016 als den Betriebsunfall sehen und die Wahleergebnisse von 2018, 2020 und 2022 für relevanter halten. Nur: all diese Wahlergebnisse sind ja super knapp. Letztlich ist bei dieser Polarisierung und diesen Verhältnissen JEDES Ergebnis ein Betriebsunfall, ein zufälliger Münzwurf. Man sollte genauso wenig Bidens Mehrheit 2020 verklären wie das vorher mit Trumps Sieg 2016 gemacht wurde. Und so bin ich zwar völlig bei Cohen, dass die Republicans mit ihrem absurden Kreuzzug gegen Woke - oder was auch immer der talking point de jour ist - ein super unbeliebtes Thema haben, aber ich bin skeptisch, dass das bedeutet, dass ihre Chancen schlecht sind. Schon allein, weil man sich auf die Blödheit der Progressiven eigentlich stets verlassen kann. Aber hey, here's to hoping.

8) Auf dem Weg zum Deutschland-Abitur? Philologen wollen mehr Vergleichbarkeit

Alle „Grundkurse“ Deutsch und Mathematik sollen zukünftig in der Oberstufe über die vier Halbjahre mit mindestens „Ausreichend“ abgeschlossen werden. Das ist bisher nicht der Fall. Die KMK erlaubt bisher, dass alle „Grundkurse“ in Deutsch oder in Mathematik in allen vier Halbjahren mit einer Bewertung unterhalb von Ausreichend, also auch mit nur einem Punkt (= Note 5 minus), abgeschlossen werden dürfen. „Das sichert weder Studier- noch Ausbildungsfähigkeit“ – meint der Philologenverband. [...] Es soll künftig vereinheitlicht vier bis fünf Abiturprüfungsfächer geben. Aus dem bundeszentralen Abiturprüfungspool sollen alle Länder verpflichtend mindestens 50 Prozent, aber keine 100 Prozent der Aufgaben entnehmen müssen. Eine Festlegung der Gesamt-Prüfungszeit in schriftlichen Fächern soll erfolgen, als Mindest- und als Maximalprüfungszeit. (News4Teachers)

So sehr ich die Forderung teile, das Abitur auf bundesweiter Ebene mehr zu vereinheitlichen, so schwer tue ich mich mit dem konkreten Vorschlag des Philologenverbands. Während die Reduzierung der Leistungskurse auf maximal zwei oder drei und die Anrechnungspflicht von Kursen auf 36 und 40 vor allem die Verbindlichkeitmachung des süddeutschen Modells zu enthalten scheint - für uns hierzulande würde sich durch den Vorschlag schlicht gar nichts ändern - und ich dem Ganzen deswegen agnostisch gegenüberstehe, sind die oben zitierten anderen beiden Forderungen Paradebeispiele für die Haltung des Philologenverbandes und warum ich mit dieser Truppe, die sich gerne als Vertretung aller Gymnasiallehrkräfte in Szene setzt, so gar nichts anfangen kann.

Denn die Idee, dass die "Studierfähigkeit" an der Note vom Grundkurs Deutsch oder Mathe festgemacht werden können sollte, ist völlig absurd. Ich hätte niemals diese Voraussetzung bestanden. Bin/war ich deswegen nicht studierfähig? Wohl kaum. Das ist nur der übliche Ausdruck einer arroganten Besitzstandswahrung, wie sie für den Verband leider typisch ist. Auch was "Studierfähigkeit" eigentlich sein soll, außer "das, was ich für wichtig halte", bleibt wie in dieser Debatte üblich völlig unklar. Noch bescheuerter ist die arbiträre Begrenzung der möglichen Abiturfächer auf vier bis fünf. Genau das Gegenteil ist richtig. Die hier geäußerte Vorstellung lag der Reform des Abiturs in Baden-Württemberg 2004 zugrunde, die genauso eine bildungspolitische Sackgasse war wie G8, mit dem Unterschied, dass sie seit dem Abitur 2023 endlich wieder abgeschafft ist.

Das Grundmisstrauen, das der Phililogenverband gegenüber sowohl Lehrkräften (die er ostentativ zu vertreten behauptet) als auch den Schüler*innen hat, ist leider paradigmatisch für den erzkonservativen Verband. Im Gegenteil braucht es viel mehr Wahlmöglichkeiten, ein Aufbrechen der statischen "One Size Fits All"-Lösung, die ein solcher Irrweg war und ist.

9) Rechts nur noch die Wand?

Akkommodative Strategien gehen stets mit Risiken einher. Sie tragen zu einer Fokussierung der öffentlichen Debatte auf die Kernthemen der radikalen Rechten bei. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben in diesem Zusammenhang gezeigt, dass der Zuspruch für Rechtsaußenparteien wächst, je stärker sich mediale Debatten in den Bereichen der Immigration und Integration bewegen. Außerdem sorgt eine Übernahme von Statements und Positionen durch Mitte-Rechts Parteien zu einer Enttabuisierung und Normalisierung von migrationsfeindlichen Forderungen. Eine Übernahme von Rechtsaußenpositionen kann somit der AfD in die Hände spielen. Oder um es mit den Worten Jean-Marie Le Pens – dem langjährigen Vorsitzenden des französischen radikal rechten Front National – zu sagen: Wähler:innen ziehen das Original der Kopie vor. [...] Unsere Analysen zeigen, dass akkommodative Strategien die Wahlerfolge rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien nicht schmälern. Weder im westeuropäischen Durchschnitt der letzten 50 Jahre noch unter Berücksichtigung zahlreicher Kontextfaktoren nützt es etablierten Parteien, sich inhaltlich an die radikale Rechte anzunähern. Im Gegenteil zeigen unsere Analysen, dass die strategische Annäherung an Rechtsaußen unter bestimmten Rahmenbedingungen gar zu einer verstärkten Abwanderung von Wähler:innen etablierter Parteien an die radikale Rechte führt. [...] Der europäische Vergleich zeigt auch, dass die langfristige Bilanz von Annäherungsstrategien an die radikale Rechte im besten Fall durchwachsen, im schlimmsten Fall verheerend ist. Selbst wo die Strategie augenscheinlich die erhoffte Wirkung zeigte, war ihr Erfolg von kurzer Dauer. Nicholas Sarkozy etwa konnte zwar bei der französischen Präsidentschaftswahl 2007 mit seinen schroffen Äußerungen gegenüber ethnischen Minderheiten und seinem Kurs als Hardliner im Innenministerium punkten. Langfristig genutzt hat sein Anbiedern an die Rhetorik der radikalen Rechten aber nur eben diesen: Während Le Pen 2017 und 2022 in die Stichwahl um das Präsident:innenamt einzog, sind Sarkozys konservative Republikaner an den Rand der politischen Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Auch Sebastian Kurz‘ Erfolg mit seinem Projekt der Neuen Volkspartei scheint rückblickend sehr kurzlebig gewesen zu sein. Weniger als vier Jahre nach der Ibiza-Affäre um Ex-Parteichef Heinz-Christian Strache führt die radikale-rechte FPÖ derzeit wieder die österreichischen Umfragen an – die Volkspartei ihrerseits kratzt derzeit auf dem dritten Platz an der 20%-Marke. (Werner Krause/Denis Cohen/Tarik Abou-Chadi, Verfassungsblog)

Ich finde den Abschluss dieser Argumentation nicht sonderlich überzeugend. Langfristig hält überhaupt keine Strategie und kein Wahlergebnis. Womit man Mitte der 2000er Wahlen gewann, zieht heutzutage nicht mehr und hat auch keine andauernden Effekte auf die Gegenwart. Der Rest dagegen ist mehr als belastbar, wie die quantitative Forschung ja auch schön zeigt: die Anbiederung an den rechten Rand funktioniert nicht. Vermutlich würde dasselbe für den linken Rand gelten, wenn der auch nur annähernd dieselbe Attraktivität für Wählende hätte (was schlicht nicht der Fall ist; Linksradikalismus ist beliebt wie Fußpilz). Aber das kann man noch so oft feststellen, es wird jene nicht überzeugen, die diese Politik bevorzugen und sich gerne dahinter verstecken, dass man ANDERE Wählende damit gewinnen wolle. Nicht man selbst, nein, nein, andere.

10) Why Europeans should not get too used to Joe Biden, the last of the Atlanticists

Biden’s transatlantic instincts constitute less the restoration of old certainties than the last hurrah of a past era. The president turned 80 in November. Younger generations of US leaders see the world differently. The most obvious example is the new isolationist streak in the Republican Party: a majority of GOP voters now oppose further support for Ukraine. But even among more orthodox Republicans there is a marked “prioritiser” tendency that believes in disengaging from Europe to concentrate on Asia.  [...] Even among Democrats, the post-Biden age (whether it dawns in 2025 or 2029) will mark a shift in perspectives. Centrists such as the California governor Gavin Newsom or the vice-president Kamala Harris may share Biden’s values, but they lack his formative experience of senior office during the Cold War and its aftermath, the instincts forged in that era, and his strong emotional connection to Europe. [...] A more far-sighted Europe – including both the EU and the UK – might have used the impetus of Russia’s war to prepare for the post-Biden world. Yet overall, Europe has implicitly interpreted the leadership provided by Biden’s administration as the new normal; proof that vigorous attempts to build European structures capable of taking over responsibility for the continent’s security from the US are now unnecessary. Talk of “European sovereignty” can often be empty, and cooperation between major powers routinely falls victim to political differences. It is a comfortable delusion to nurture: Atlanticist Bidenism forever! Comfortable, that is, until it eventually collides with reality. At that point Europe’s position could become very uncomfortable indeed. (Jeremy Cliffe, The New Statesman)

Ich zweifle nicht daran, dass die USA bereits seit Längerem sehr gerne ihr Engagement in Europa herunterfahren würden. Dasselbe gilt ja auch für den Mittleren Osten. Strukturelle Gegebenheiten ziehen sie aber ein ums andere Mal wieder in die dortigen Konflikte. Obama hatte den Irak kaum verlassen, als die US-Aufmerksamkeit auf Syrien gelenkt wurde. Kaum dass das halbwegs abgeschlossen ist (wenngleich auf die unangenehmst-mögliche Weise) kommt die Revolution (?) im Iran. Gleiches gilt für Europa: der Wunsch einer Entkopplung ist klar da, aber lässt sich häufig nicht umsetzen - zumindest nicht, solange US-Interessen weiterhin gleichermaßen gewahrt sein wollen.

Der gefährliche Moment für uns Europäer ist, wenn die Amerikaner tatsächlich bereit sind, Nachteile für ihre Interessen in Kauf zu nehmen. Wann das sein wird, ist unklar. Aber Cliffe hat völlig Recht damit, dass Europa sowohl völlig unvorbereitet ist als auch unruhige Zeiten vor sich hat, wenn das passiert. Denn die Fantasien von einer "europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands" sind zwar nicht totzukriegen, vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs aber unrealistischer denn je. Abgesehen von der Hoffnung, dass wenn man selbst friedlich ist man schon auch nicht bedroht werden möge, ist hierzulande wenig strategische Überlegung zu spüren.

Resterampe

a) Geschichte der Gegenwart hat was Tolles zur Geschichte der Erbschaftssteuer.

b) Die Aufnahmeprüfungen von Schweizer Gymnasien sind echt ein Horror.

c) Auffällige Zahlen zum Thema Windkraft.

d) Paris baut bis 2025 70.000 Parkplätze ab und wandelt sie in Fahrradwege und Ähnliches um. Wir sind in Deutschland viel zu sehr im Griff der Autlobby.

e) Spannende Diskussion zum Thema "wie entsteht öffentliche Meinung". In meinen Augen hat das sehr wenig mit rationaler Abwägung von Argumenten zu tun; das ist eine Idealvorstellung, die weder praxisnah noch sinnvoll ist, aber einfach nicht totzubekommen ist. Wie "Marktplatz der Meinungen".

f) Dieser Artikel debattiert die Gefahren eines Third-Party-Runs von Trump. Ich bin sehr skeptisch; ich hab die Geschichte mittlerweile einfach zu oft gehört. Ich halte Trump für zu feige dafür.

g) Mehr widersprüchliche Infos zu der Maskenpflicht an Schulen.

h) Artikel über das Lend-Lease-Gesetz als "Lebenslüge Russlands". Ziemlich treffend.

i) Debatte, ob Zoos ethisch vertretbar sind. In meinen Augen nein, ich boykottier die Dinger auch.

j) Super Thread zur Energiewende.

k) Die Realität von Endgeräten in der Schule ist immer wieder aufs Neue ernüchternd. Da bin ich jedes Mal echt froh, an einer Privatschule zu sein.

l) Guter Aufruf an Väter. Mir macht das Spielen gar nicht so viel Spaß, ich mach eher den Verwaltungskram drumrum und muss mich zwingen lassen, das Spielen zu übernehmen :D

m) So sehr ich die Warnung vor Rechtsextremismus ernst nehme, so wenig kann ich Misik in der Begrifflichkeit zustimmen. Ich bin einfach kein Freund davon, alles unter "Faschismus" zu fassen.

n) Die ZEIT hat eine klasse Recherche zum Konflikt zwischen Baerbock und Scholz und dem Drama um Panzerlieferungen.

o) Es gibt immerhin noch einige LINKE, die gegen die Parteiführung protestieren.

p) Wir hatten es letzthin davon, dass die Wahrnehmung in Deutschland sowohl über unser Land und darüber, wie es von außen wahrgenommen wird sowie unsere eigene Außenwahrnehmung völlig verschoben sind. Top-Beispiel dafür.

q) Spannende Frage, inwiefern sich das politische Achsensystem in Deutschland verschoben hat.

r) Das Vertrauen der Deutschen in die Bundeswehr ist irre niedrig.

s) Wichtige Hinweise zum Thema Luftverschmutzung.

t) Zu diesem Blödsinnsargument gegen Windkraft, dass sie Vögel killt.

u) Ergebnisse der Wahlforschung ergeben weiter ein großes "Fremdeln" der FDP-Anhänger*innen mit Regierungsverantwortung. Das ist echt erstaunlich wenig Thema.

v) Zur Wahlrechtsdiskussion hier noch diese lesenswerte Untersuchung zum Thema "Mythos Direktmandat".

w) Relevante Invektive von Bob Blume.

x) Man sieht an diesem Antrag schön, in was für einer verqueren Welt die Kulturkrieger gegen den Genderstern leben und worum es ihnen wirklich geht.

y) Guter Artikel über Daniele Ganser.

z) Spannende Nachwirkung von 1/6. Wie Psychologie halt immer funktioniert...

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