Dies ist eine gesammelte und überarbeitete Version der zwei Artikel Die AfD als Spiegel der Bundesrepublik und Kommunzierende Röhren: die Union und die AfD.
Aktuell ist die AfD ein Umfragengewinner. Die Partei ist deutlich zweistellig und hat mittlerweile sowohl die SPD als auch die Grünen überholt. Der wohlige Grusel, der dabei von mancher Seite empfunden wird, steht direkt neben zahlreichen Artikeln zu der Frage, warum dem so sein könnte. Die Erklärungen sind so vielfältig, dass sie zusammengenommen nur noch eine Kakophonie darstellen. Auffällig ist, wie oft sie einem Schema gleichen: "Die AfD ist wegen dem erfolgreich, wovon ich ohnehin schon überzeugt war." In diesem Sinne sind die AfD und ihr Erfolg eine Art Spiegel der Bundesrepublik: wer auch immer hineinblickt, sieht sich selbst. Das ist für die Debatte nur sehr eingeschränkt zielführend.
Schauen wir einmal auf die Fülle von Erklärungsansätzen, die mit in den letzten Tagen - ohne eine dedizierte Suche - durchs Aufmerksamkeitsfeld glitt. Da wären einige journalistische Ansätze:
- Der Politikwissenschaftler Udo Knapp in der taz: "Der in der Öffentlichkeit und von FDP, Union und auch SPD bisher unwidersprochen gebliebene Hass auf den Vizekanzler und die Grünen stärkt die Demokratiefeinde, Corona-Leugner, Russenfreunde, Reichsbürger, Klimaleugner, treibt der AfD Wähler zu [...]"
- Friederike Haupt in der FAZ über den Tonfall der CDU: "Dieser Ton ist es, der Angst, Ahnungslosigkeit und Wut stärkt, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern, in denen Populisten auf dem Vormarsch sind. Die Rede davon, dass die Welt in Normale und Unnormale einzuteilen sei, in Wohltäter und Egoisten, in Pazifisten und Kriegstreiber, klingt der ganzen Menschheit im Ohr."
- Zara Riffler findet für die BILD: "AfD kommt auf 19 %. Alarmierend. Ein wesentlicher Grund: Migrationspolitik. Viele Migrationsanreize senden, während Migration nicht begrenzt wird, das Land sich dauerhaft an Kapazitätsgrenze bewegt & Sorgen der Bürger nicht ernst genug genommen werden – das kann nicht gut gehen.."
- Harald Martenstein in der Welt: "Viele wenden sich der Option AfD gerade aus antitotalitären Motiven zu. Sie haben den Eindruck, dass ihr Land sich zu einem historisch neuen Typus von Diktatur entwickelt, zu einem Land, in dem Freiheit und Bürgerrechte wenig gelten, wo Privatsphäre und Widerspruch nicht mehr selbstverständlich sind, wo Spitzel hofiert, aber die westliche Zivilisation und ihre Lebensweise verteufelt werden und wo eine wirtschaftlich und sozial geradezu suizidale Klima- und Migrationspolitik als alternativlos zu gelten hat. Davor suchen diese Wähler Schutz, man kann sagen: verzweifelt. Der Union aber trauen diese Wähler nicht mehr den Mut zu, den es heute braucht, um die Interessen der Mehrheit auch mal gegen lautstarke Minderheiten zu verteidigen."
- Christian Stöcker im Spiegel: "Immer geht es gegen die Grünen. Aber nicht gegen die echten, mit denen man koaliert, sondern gegen eine fiktive Partei, die die Marktwirtschaft ablehnt, Planwirtschaft einführen und Heizungen verbieten will. Eine Partei, die angeblich im Alleingang will, was man in Wahrheit selbst schon im Koalitionsvertrag festgelegt hat. Gegen eine Strohmann-Partei. [...] Wenn man den Stil der Extremisten – Drama, Diffamierung, Desinformation – übernimmt, treibt man die Leute diesen Extremisten in die Arme."
Die Politiker*innen selbst haben diverse Erklärungsansätze, die, wenig überraschend, immer bei den anderen liegen.
- Friedrich Merz: „Das Land wird von vielen Menschen anders wahrgenommen als im Justemilieu der Regierungsparteien. Wenn die ganz normalen Leute kein Gehör mehr finden, wenden sie sich denen zu, die besonders scharf dagegen sind, ob ganz rechts oder ganz links.
- Merz weiß auch, dass das Gendern bei den ÖRR die AfD stärkt: "Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur #AfD. Gegenderte Sprache und identitäre Ideologie werden von einer großen Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr nur im Stillen abgelehnt. Sie werden als übergriffig empfunden."
- Der Thüringer CDU-Chef Mario Voigt macht "linke Gesellschaftspolitik" verantwortlich (Cannabis-Legalisierung und Verbot von Süßigkeitenwerbung). Es gebe einen „sehr engen Meinungskorridor“. Viele dieser Themen "brennen aber vielen Leuten unter den Nägeln und es regt sie auf, dass das Meinungsspektrum der Bevölkerung nicht ausreichend abgebildet wird."
- CDU-Politiker Thorsten Frei erklärt: "An den demoskopischen Daten lässt sich ablesen, wie die Werte der AfD mit der zunehmenden Enttäuschung über Politik und Zerstrittenheit der Ampel-Koalition gestiegen sind. Die Menschen sind mit harten Themen konfrontiert: Rezession, Inflation, mit steigenden Energiepreisen, ungeordneter Migration. Sie erleben auf der einen Seite die Dysfunktionalitäten im alltäglichen Leben und auf der anderen Seite eine Regierung, die entweder diese Herausforderungen nicht sieht oder hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist.“
- CDU-Vize Karin Prien: „Die bisweilen schrillen Vorwürfe einiger Ampel-Politiker gegen die Union machen nur das demokratische Klima weiter kaputt und fördern eine weitere Polarisierung unserer Gesellschaft. Alle demokratischen Parteien tragen gemeinsam Verantwortung, diese zu verhindern.“
- Olaf Scholz: „Wir leben in einer Zeit der Umbrüche, in der ganz viele Bürgerinnen und Bürger in unseren Ländern nicht so sicher sind, ob die Zukunft auf ihrer Seite ist und ob sie eine haben. Das schafft Unsicherheit und Resonanz für Parteien, die schlecht gelaunt das Vergangene loben. Um Populisten entgegenzutreten, müssen wir dafür Sorge tragen, dass Europa, dass unsere Länder, eine Zukunft haben, an die man glauben kann“.
- SPD-Geschäftsführerin Katja Mast: "Die Menschen sind im Dauerstress."
- SPD-Politikerin Lilly Blaudzun: "Die meisten [...] wählen AfD nicht, weil sie rechts sind, sondern weil wir unseren Job nicht richtig machen."
- Irene Mihalic von den Grünen: "Die CDU muss aufhören, die Sprache der AfD zu übernehmen. Denn Populismus trägt zur Normalisierung der AfD bei und schadet damit der Demokratie insgesamt.“
- LINKE-Fraktionschef Dietmar Bartsch: "Ein Blick nach Italien, Frankreich oder Schweden zeigt, dass es tiefe wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Ursachen für den Aufstieg von Rechtsextremisten gibt. Alle demokratischen Parteien in Deutschland sowie etwa auch die Medien tragen Verantwortung. Der aktuelle Alarmismus stärkt übrigens erneut die AfD.“
- Alice Weidel: „Wenn die etablierten Kräfte versagen, sucht sich der Souverän neue Vertreter als demokratisches Korrektiv. Die Ampel-Koalition bedroht mit absurden Verbotsgesetzen, fortgesetzter Gängelung und einer desaströs gescheiterten Energiepolitik den Wohlstand und die bürgerlichen Freiheitsrechte breiter Bevölkerungsschichten. Dass die Bürger sich in einer solchen Situation der einzigen Oppositionspartei zuwenden, die konsequent Gegenpositionen vertritt, ist kein "Umfrageschock“, sondern eine ganz normale Reaktion in einer funktionierenden Demokratie."
Twitter hat natürlich auch einiges zu bieten.
- Geradezu klassisch ist Ruprecht Polenz auf Twitter unterwegs: "Die Nebenwirkungen der Globalisierung: Migration und Überfremdungsängste, Unübersichtlichkeit, Kontrollverlust, immer schnellere Veränderungen."
- Der Twitter-User Kaffeecup: "CDU/CSU haben dieses Land 16 Jahre lang kaputtgespart, in Wohnungsnot, Armut, Ungleichheit und Pflegenotstand geführt und rechte Narrative verbreitet [...]"
- Twitter-User Frank Rauschenberg: "Wesentliche Ursache für die Spaltung unsere Gesellschaft und den erfolg der AfD ist @axelspringer, ist #BLÖD [...]"
Soweit meine sicherlich unvollständige Sammlung. Den geneigten Lesenden dürfte aufgefallen sein, dass praktisch jede*r und alles am Aufstieg der AfD schuld ist, vom Genderstern und der Hafermilch bis hin zu der gesamtwirtschaftlichen Lage weltweit. Nur, wenn alles irgendwie verantwortlich für den Erfolg der AfD ist, ist es irgendwie auch nichts. Und die Partei steigt in den Umfragen, sicherlich, aber sie steht jetzt nicht eben vor der Eroberung der absoluten Mehrheit im Bundestag.
Unbestritten sollte sein, dass der Erfolg der AfD multikausal ist. Den einen Grund, selbst das eine Grundbündel, wird man nur schwer finden können. Was allerdings alle der obigen Erklärungen eint ist die kuriose Geringschätzung der Wählenden. Die Suche nach dem Grund, warum Leute die AfD wählen, schließt deren eigene Handlungsfähigkeit vollkommen aus. Anders ausgedrückt: auf den Gedanken, dass Menschen die AfD wählen WOLLEN, scheint irgendwie niemand zu kommen. Stattdessen wird ein Bild von den Wählenden als beeinflussbarer, zielloser Masse geschaffen, die durch irgendwelche Fehler (natürlich der anderen) von der rechten Bahn abgebracht (oder auf die rechte Bahn gebracht, ha ha ha) werden.
Dabei weiß die Extremismusforschung seit Langem, dass ein guter Teil der Wählenden rechtsextrem wählt, weil er rechtsextreme Einstellungen gutheißt: laut einer Studie der Uni Leipzig sind rund 13% der Deutschen rechtspopulistisch, rund 33% latent rechtspopulistisch eingestellt. Das war auch noch nie anders. Wir hatten in Deutschland nur jahrzehntelang das außerordentliche Glück, dass es dem Rechtsextremismus nicht gelungen ist, sich zu normalisieren. Solange die Vokabeln "rechts", "rechtsradikal" oder "rechtsextrem" mit so kompetenten und attraktiven Gestalten wie der NPD oder den Republikanern verknüpft waren, gelang die Strategie, diese Sympathisierenden weitgehend in demokratische Parteien einzubinden, auch noch (wir haben ja gottseidank auch keine attrativen linksextremen Parteien; die MLPD übt etwa so viel Anziehungkraft wie die NPD aus). Auch das beliebte Narrativ der "Protestwählenden" hält einer genaueren Überprüfung so nicht stand und ist letztlich nur eine Variante dieser Geringschätzung.
Die Datenlage ist insgesamt leider nicht besonders gut: zwar existieren halbwegs zuverlässige Informationen über die Wählendenschaft aus der Bundestagswahl; die aktuellen Umfragen aber lassen sich nur informiert schätzweise zuordnen. Zuerst einmal die Fakten, wir kennen: zwischen den Wahlen 2017 und 2021 verlor die AfD die allermeisten Stimmen (über 800.000) an das Nichtwählendenlager. Der größte andere Einzelanteil ging an die FDP, der es gelang, rund 340.000 Stimmen an sich zu binden. Es ist eine plausible Annahme, dass es der AfD in der Zeit seither gelungen ist, einen Teil dieser Wählenden zurückzugewinnen. Die Nichtwählenden von 2021 sind vor allem eine Frage der Mobilisierung. Sie waren offensichtlich nicht für eine andere Partei zu gewinnen. Man kann also davon ausgehen, dass diese Menschen vermutlich auch keine andere Partei wählen würden.
Mit Marcel Lewandowsky stellt sich daher die Frage: Lohnt sich also der Versuch, diese Wählenden "zurückzugewinnen"? Die Antwort darauf ist gar nicht so klar, wie das zuerst den Anschein hat. In der öffentlichen Debatte wird zwar immer fleißig das Ziel eben jener "Rückgewinnung" ausgegeben, aber das geht vom irrigen Bild aus, dass es sich quasi um verirrte Schäfchen handle, die man nur wieder einfangen müsse, und nicht um Leute, die eine genuine Wahlentscheidung getroffen haben. Parteien aber haben endliche Ressourcen, und für ihre Wählenden gilt ja dasselbe: auch hier sind die Verluste ans Nichtwählendenlager üblicherweise die größten; die Mobilisierung eigener Anhänger*innen ist daher von hoher Priorität.
Parteien profitieren aber davon, wenn ihre Themen in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Das nennt sich "issue ownership". Wird etwa viel über das Leid der Erwerbslosen und die unzureichende Höhe der Sozialleistungen diskutiert, profitiert überdurchschnittlich die LINKE, weil sie issue ownership über das Thema hat. Für die SPD wäre daher die Thematisierung ein zweischneidiges Schwert: man gibt der eigenen Basis Zuckerle und schärft das sozialpolitische Profil. Gleichzeitig stärkt man aber den Konkurrenten. Dasselbe geschieht, wenn die Themen, über die die AfD issue owenship besitzt, den öffentlichen Diskurs dominieren. Wir sahen das 2017 mit den Themen Migration und Flüchtlingen, und wir sehen es auch dieser Tage.
Was nämlich zeichnet die AfD aus? Einerseits das erwähnte Thema, das aber aktuell eher unter "ferner liefen" rangiert (wenngleich es im Frühjahr 2023 einen merklichen Aufschwung gegenüber 2020-2022 erfuhr). Andererseits ist sie diejenige Kraft, die gegenüber dem, was üblicherweise unter "Modernisierung der Gesellschaft" verstanden wird - von Frauenquoten über Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, von der Ehe für alle zu mehr Kinderrechten, von der Gleichstellung von Mann und Frau zu größerer Autonomie generell - unmissverständlich und gesamtheitlich ablehnend gegenübersteht. Wer also gar nicht bereit ist, einen Frieden wenigstens mit abgeschwächsten und verlangsamten Änderungen zu machen, findet in der Partei eine natürliche Heimat.
Dazu kommt aber die Identität der Partei als Anti-Establishment-Partei, als Anti-System-Partei, als Anti-Partei generell. Wenn also diffuse Ängste und Verunsicherung herrschen, stehen einer solchen Partei goldene Zeiten bevor - weswegen die CDU auch nicht so sehr kapitalisieren kann, wie sie das als Oppositionsführung eigentlich sollte: sie gehört offenkundig auch zum System. Es überrascht daher nicht, dass die AfD ihren größten Zugewinn nicht jetzt, wo plötzlich alle darüber reden, gemacht hat (2023 legte sie rund 2% zu), sondern im Sommer 2022, als der Ukrainekrieg, die Inflation und die Energieknappheit neu und viel angstbeladener waren als heute (in diesem Zeitraum gewann sie 5%!).
Die ganze Debatte kommt daher mit fast einem Jahr Verspätung und ist eher Ausdruck des Spiegelproblems. Aktuell streitet die Koalition stark untereinander, während die CDU mit großer Schärfe die Regierung angreift. Die AfD wird für alle Beteiligten zum rhetorischen Knüppel, den sie gegen ihre jeweiligen Gegner schwingen; sie ist der große Spiegel der Bundesrepublik. Das hat den extrem gefährlichen Nebeneffekt, die AfD zu normalisieren, völlig ungeachtet ihrer Umfragewerte. Und in diesem Drama spielt notgedrungen die Union die Hauptrolle, denn eine Koalition zwischen den Antipoden Grünen und AfD ist nicht eben realistisch.
Der Umgang mit der AfD stellt vor allem eine Partei immer wieder vor Herausforderungen: die CDU/CSU. Die Union nimmt für sich Werte in Anspruch, die auch die AfD vertreten will: bürgerlich sein, konservativ, das "Normale" vertreten. Patriotismus, ein bisschen Christentum, Familie. Ideologisch konkurrieren die beiden daher um dieselbe politische Immobilie, und entsprechend ist der Umgang mit der Partei für die Union auch am schwersten. Anders ausgedrückt: für die Grünen ist es leicht, eine Strategie der Ausgrenzung und Abgrenzung zur AfD zu fahren, wie es für die Union leicht ist, Distanz zur LINKEn zu wahren: der Überlapp ist gleich null. Die Gretchenfrage "Sag, wie hältst du's mit der AfD?" ist seit dem großen mea culpa Thomas Kemmerichs eigentlich nur noch für die CDU relevant. Die FDP kommt in allen Konstellationen nur als drittes Mitglied einer theoretischen Rechtskoalition vor und ist daher nur von Belang, sofern die CDU sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt. Zumindest aus Sicht ihres Vorsitzenden ist die Sache klar:
Die Brandmauer zur AfD steht. Felsenfest. @_FriedrichMerz mit unmissverständlichen Worte 👇#noafd pic.twitter.com/eVszwPJzGl
— CDU/CSU (@cducsubt) June 5, 2023
Das Dumme ist, dass wohl niemand Zweifel hat, dass dies um Bund gilt. Die Fragestellung ist das aber nicht; der Bruch der Brandmauer wäre schließlich am ehesten in den östlichen Bundesländern zu erwarten. Auch hier ist rhetorisch wenig geboten: die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer erklären unisono, nicht mit der AfD koalieren zu wollen. Hinter den Kulissen allerdings rumort es in den Ostverbänden wesentlich mehr als im Westen. Die Stärke der AfD macht hier zudem schwarz-blaue (und sogar blau-schwarze, wobei das die CDU mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mitmachen dürfte; man denke an die Parallele zu Ramelow in Thüringen) Koalitionen möglich; die Mithilfe der FDP, wie sie im Westen weitgehend erforderlich ist, braucht es hier nicht.
Aktuell ist eine solche Zusammenarbeit aber allenfalls sehr regional und sehr indirekt denkbar. Wie es der Welt-Chefredakteur Robin Alexander erklärt: die CDU sei insgesamt ziemlich harmlos, was rechte Parteien angeht. Die aktuelle Sorge um ihren Zustand ist zwar im deutschen Kontext nachvollziehbar; sieht man aber auf einen internationalen Vergleich, dann steht die Union ziemlich mittig da. Das ist ein deutsches Phänomen: die Mehrheitsfindung in Deutschland ist schon immer stark mittig orientiert; ihr institutionelles Gefüge übt für alle demokratischen Parteien einen Zwang zur Zusammenarbeit aus. Dass die Union eher rechte Positionen vertritt, kann kaum überraschen. Wie es Marco Herack so treffend ausdrückt: "Man kann an der Union nicht das Union-sein kritisieren."
Die Situation ist ein wenig paradox. Einerseits ist die Union inhaltlich nahe bei der AfD. Man teilt die Ablehnung der gesellschaftlichen Modernisierung, man möchte grundsätzlich am konservativen Gesellschafts- und Familienbild festhalten, mehr Polizei und so weiter. Gleichwohl sind die Positionierungen der AfD immer viel radikaler, viel rechtsstaatlich unverträglicher, viel schmutziger, als dies mit den Unionspositionen vereinbar wäre. Gleichzeitig ist die Union institutionell nahe an SPD, Grünen und FDP. Man teilt das Bekenntnis zu Pluralismus, Parlamentarismus, Rechtsstaat und so weiter und arbeitet durch alle 16 Bundesländer hindurch in verschiedenen Konstellationen zusammen. Diese Faktoren blockieren eine zu große Annäherung zwischen Union und AfD.
Die Verbindungen zwischen der Union und der AfD sind daher gar nicht so eindeutig, wie sie es auf den ersten Blick scheinen mögen. Natürlich befinden sich beide in der größten Konkurrenz zueinander, nehmen denselben Mantel des bürgerlich-konservativen für sich in Anspruch, aber deckungsgleich sind weder Strategien noch Wählendensegmente. Stattdessen verhalten sich beide ein wenig wie kommunizierende Röhren. Ihre scheinbare Nähe bestimmt den Sound der Opposition. Für die Union ist das ein gefährlicher Eiertanz. Genauso wie die SPD 2005 bis 2021 das Problem hatte, dass jede ihre Forderungen, jede Abkehr von der Agenda-Politik (von der sie sich in dieser Zeit auf Raten de facto komplett verabschiedete) durch die LINKE rhetorisch getoppt werden konnte (forderte die SPD 12 Euro Mindestlohn, forderte die LINKE 13 Euro), genauso kann die AfD jede Volte der Union übertreffen. Fordert Friedrich Merz energischere Abschiebungen, gibt die AfD als Ziel 100% Abschiebungen aus. Fordert er mehr Polizei, fordert die AfD noch mehr. Kritisiert er das Gendern, will die AfD es direkt verbieten. Und so weiter. In rhetorischen Überbietungswettbewerben lassen sich Populisten niemals schlagen. Da sie keine Verantwortung übernehmen müssen (und wollen), können sie IMMER eins draufsatteln.
Die Gefahr in diesem Eiertanz besteht darin, dass der Gegner normalisiert und das Overton-Fenster verschoben wird. Schreien Unionspolitiker*innen von der "Heizungsstasi", fällt der nächste Vergleich von AfD-Oberen zwischen DDR-Diktatur und bundesrepublikanischer Demokratie gleich weniger auf. Spricht Dorothee Bär von "queeren Rändern", klingt das AfD-Statement zur Verfolgung von Transsexuellen gleich viel gewöhnlicher. Nun ist polemische Rhetorik grundsätzlich ein valides Mittel des politischen Streits, dient der Zuspitzung und der Deutlichmachung von Positionen. Problematisch wird, wenn außer der Rhetorik nichts mehr da ist.
Die Inhalte von Friedrich #Merz
(ich wünschte echt das wär ein Scherz) pic.twitter.com/gpehZVkTA1
— Reimwerker (@reimwerker) June 4, 2023
Oder, in den Worten Friederike Haupts in der FAZ:
Gefährlich ist also nicht der Streit, sondern die Vermeidung des Arguments. Sie verleiht Erregungsgrad und Lautstärke eine Bedeutung, die ihnen nicht zukommt. Thüringens CDU-Chef Mario Voigt spricht von „Heizungswahn“ und „Energie-Stasi“, als sei Habeck ein Irrer und die Regierung auf Diktaturkurs. Und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz beschreibt im jüngsten Rundbrief an seine Anhänger die Ampel als „hemmungslos“ und kritisiert, das Land werde von den „normalen“ Menschen ganz anders wahrgenommen als „im Justemilieu der Regierungsparteien“. Das wertet Millionen Wähler von SPD, FDP und Grünen als Unnormalos ab und suggeriert, sie wären dem echten Leben enthoben. Dieser Ton ist es, der Angst, Ahnungslosigkeit und Wut stärkt, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern, in denen Populisten auf dem Vormarsch sind. Die Rede davon, dass die Welt in Normale und Unnormale einzuteilen sei, in Wohltäter und Egoisten, in Pazifisten und Kriegstreiber, klingt der ganzen Menschheit im Ohr.
Der besorgniserregende Trend ist daher die Normalisierung der AfD. Man sieht dies sehr gut an einer aktuellen Umfrage: rund 57% der Bundesbürger*innen können sich eine AfD-Wahl gar nicht vorstellen. Das ist der mit Abstand höchste Wert aller Parteien, was aber nur solange hoffnungsfroh stimmt wie man sich klar macht, dass diese Zahl vor zwei Jahren noch bei über 70% lag. Damals war das Wählendenpotenzial der AfD bei ihrem aktuellen Umfragenhöchstand quasi gekappt und stieß an eine harte Grenze. Diese existiert immer noch, ist aber bedeutend höher: rund 9% können sich diese Wahl über die 17% der aktuellen Umfragen hinaus vorstellen. Mit diesem Wert wäre die AfD stärkste Partei im Bundestag. Natürlich sind das Momentaufnahmen; die Wahrscheinlichkeit, dass die aktuellen Umfragewerte halten, ist glücklicherweise ebenfalls gering. Die Zahlen zeigen aber, welchen Effekt der toxische Cocktail aus Verunsicherung und Unzufriedenheit einerseits und der Normalisierung populistisch-radikaler Rhetorik auf der anderen Seite haben kann.
Die Schlussfolgerung für die Union daraus lautet bereits seit Jahren, dass man um die AfD-Wählendenschaft konkurrieren möchte, zumindest um diejenigen, die von der Union zur AfD gewandert sind. "Die AfD halbieren" war die Devise, mit der Friedrich Merz sein Amt als Parteivorsitzender antrat. Nimmt man diese Metrik, ist er nicht nur krachend gescheitert, sondern hat ein Waterloo erlitten: die Partei ist mittlerweile um rund 70% STÄRKER als zu Beginn seiner Amtszeit. Das hängt natürlich bestenfalls zu Teilen und mittelbar an ihm, aber die aktuelle Strategie der Union geht offenkundig nicht auf. Die Wählenden, sie sie in den Umfragen seit 2021 hinzugewonnen hat, kommen aus anderen Lagern - vor allem SPD und FDP.
Verbleiben wir aber für einen Moment bei jenen 9%, die sich eine Wahl der AfD grundsätzlich vorstellen können. Sie sind es, um die vorrangig gekämpft werden muss. Sie haben aktuell nicht die Absicht, die Partei zu wählen, haben es vermutlich auch noch nie getan. Anders als Teile der bisherigen Wählendenschaft sind sie wohl nicht grundsätzlich rechtsradikal - zumindest noch nicht -, weswegen ihnen einerseits Alternativen geboten werden müssen (die genuine Rolle der Union sowohl als rechtsdemokratische als auch als Oppositionspartei) als als auch das Tabu der Rechtsradikalen aufrechterhalten werden muss.
Wie schwierig dieser Prozess ist, zeigte sich exemplarisch im bayrischen Erding vergangene Woche. Markus Söder sprach auf einer Demonstration gegen die übliche Horrorversion der Heizungspläne der Regierung (die mit den realen Absichten ja praktisch nichts zu tun haben), auf der sich neben dem eher klassisch rechtsbürgerlichen Milieu, für die sie ursprünglich einmal gedacht war, alle möglichen Arten von Verschwörungstheoretiker*innen, Freien Wählern, AfD-Leuten und einer Menge "besorgter Bürger" tummelten. Die Idee war wohl dieselbe wie bei Sigmar Gabriels Auftritten bei Pegida seinerzeit: den Protest nicht den Rechtsradikalen zu überlassen, sondern zu versuchen, eine weniger durchgeknallte Ableiterfunktion zu bieten. Je nach Sichtweise ging das kolossal in die Hose oder war ein großer Erfolg. Letztere Deutung würde sich aus der Anfeindung, die Söder von großen Teilen der Anwesenden entgegenschlug, nähren. In dieser Lesart hätte Söder Grenzen aufgezeigt und gleichzeitig ein Integrationsbemühen demonstriert. In der anderen Sichtweise normalisierte er die abgedrehte Rhetorik des rechten Randes und adelte sie quasi mit seiner Anwesenheit. Was von beidem zutrifft, ist nur schwer herauszuarbeiten; vermutlich ist es in bisschen von beidem. Die Gefahr für Söder und die CSU besteht darin, dass es ihr ergeht wie 2018: die damalige Übernahme rechtsradikaler Sprache ("Asyltourismus", "Asylgehalt", "Überfremdung") führte zu massiver Kritik konservativer Wählendenschichten und einer Klatsche für die CSU. Dadurch werden die Unterschiede zwischen den "normalen" Protestierenden einerseits und dem abseitigen Rand aufgelöst. Eine Scharnierfunktion bei dieser Auflösung stellte etwa die Rolle von Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger dar. Seine Rhetorik ist von der AfD praktisch nicht unterscheidbar.
Auch wenn derzeit kein echter Zweifel am Bestand der Brandmauer in Sachen Zusammenarbeit mit der AfD bestehen kann (mittelfristig sieht die Lage völlig anders aus), so ist doch die "Brandmauer zum Irrsinn", von der Cem Özdemir spricht, massiv gefährdet:
„Die Brandmauer zum Irrsinn wird gerade massiv eingerissen.“@cem_oezdemir bei #Lanz darüber, wie die #Debattenkultur gerade zerstört wird und wo das enden kann… pic.twitter.com/5Q3EmDwVNe
— Daniel Mack (@danielmack) June 7, 2023
Und das ist der letzte Punkt, der die kommunizierenden Röhren der Union und AfD betrifft. Wenn die Union nicht vorsichtig bei ihrer Rhetorik ist, adelt sie nicht nur eklige politische Positionen. Sie zerstört auch die Grundlagen eines ohnehin fragilen Diskurses, der in Deutschland zumindest im Ansatz noch auf einem Set geteilter Fakten beruht. Wer sehen will, was geschieht, wenn die Brandmauer zum Irrsinn einreißt, muss nur einen Blick in die USA werfen. Aktuell ist es noch nicht so weit, der Irrsinn ist noch auf die Ränder beschränkt. Aber er sickert immer wieder in den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft ein, ob in Degrowth-Fantasien, wie sie am radikalen Rand des Klimaaktivismus-Spektrums geteilt werden, in Aluhutverschwörungstheorien, die völlig farbenblind sind, oder in irgendwelchen Resetideen oder sonstigen angeblichen Machenschaften "der Regierung" gegen "das Volk".
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