Das offene oder verdeckte Tragen von Schusswaffen als Teil der alltäglichen Ausrüstung für die Zivilbevölkerung ist in den meisten Regionen der Welt unvorstellbar. In Teilen der USA ist dies jedoch völlig normal. Auch die Debatte um den Umgang mit dem dortigen in der Verfassung verankerten Recht auf das Besitzen und Tragen von Waffen ist an der Tagesordnung.
Zuletzt beschloss man im Bundesstaat Texas, dass ab September 2021 das Tragen von Waffen auch ohne Waffenschein oder entsprechende Schulung erlaubt ist. Zuvor, im Januar 2016, erlaubte Texas schon das offene Tragen von Waffen, wie es in mehr als 40 weiteren Bundesstaaten schon der Fall ist.
Die Argumentation für Lockerungen der Waffengesetze bezieht sich dabei nicht nur auf das in der Verfassung stehende Recht des Waffenbesitzes, sondern auch darauf, der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zur effektiven Selbstverteidigung zu geben. Die Begründung dafür bildet das hohe Maß an missbräuchlicher Waffengewalt in den USA, also jene, die nicht zur angemessenen und begründeten Selbstverteidigung angewendet wird. Besonders wird sich dabei auf die hohe Anzahl an Massenschießereien bezogen. Der freie Besitz von Waffen soll also dazu dienen, sich gegen Waffengewalt zum Zwecke des Selbstschutzes zu wehren. Besonders das offene Tragen von Waffen soll potenzielle Straftäter abschrecken und potenzieller missbräuchlicher Waffengewalt vorbeugen.
Statistischer Zusammenhang zwischen Waffenbesitz und Waffengewalt
Somit müsste, folgend dieser Argumentation, mehr (sichtbare) Waffen zu weniger Waffengewalt führen. Die Statistiken zeigen aber, dass dies gar nicht der Fall ist. Betrachtet man isoliert Texas, so zeigt sich, dass zwei Jahre nach Inkrafttreten des Waffengesetzes (Januar, 2016), welches das offene Tragen von Waffen erlaubt, die Tötungssterblichkeit in Texas zwar gesunken ist, im Jahr des Inkrafttretens des Gesetzes, ist sie jedoch angestiegen, wie auch im Jahr 2019, wo sie so hoch war wie noch nie in den vergangenen 5 Jahren. Die Wirkung des Gesetzes auf die Waffengewalt scheint also in keine Richtung signifikant sein.
Betrachtet man die Schärfe der Waffengesetze, indem man als Indikator dafür die relative Anzahl an Waffen in Zivilbesitz nimmt, im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten durch Schusswaffen auf internationaler Ebene, so verstärkt sich der Eindruck, dass lockerere Waffengesetze nicht signifikant zu einer Verringerung von Waffengewalt führen, sondern diese eher erhöhen.
Auch wenn, wie am Beispiel Schwedens zu sehen ist, ein hoher Grad an Waffenbesitz nicht immer zu einer hohen Anzahl an Tötungsdelikten führt, so ist der Zusammenhang zwischen Waffenbesitz, also lockeren Waffengesetzen, und Waffengewalt dennoch signifikant.
Der Self-Armament-Widerspruch
Aber warum genau führt ein erhöhter Grad an Selbstbewaffnung in der Zivilbevölkerung zu mehr Waffengewalt? Der Grund dafür liegt in der Wechselwirkung zwischen Waffenbesitz und Waffengebrauch zum Schutz vor missbräuchlicher Waffengewalt. Wenn man annimmt, freier Waffenbesitz (ausgenommen Jagd- und Sportwaffen) dient dem Zweck des Schutzes vor Waffengewalt und auch zur Selbstverteidung, dann muss es auch einen Grund geben, warum dieser Schutz notwendig ist. Die Notwendigkeit des Schutzes besteht darin, dass das Individuum durch Waffengewalt gefährdet ist. Diese Gefahr wiederum geht von anderen Individuen aus, die Waffen besitzen. Die Gefahr durch Waffengewalt besteht also nur insofern, wie ein Individuum auch eine Waffe besitzt kann. Erhöht man den freien Waffenbesitz in der Zivilbevölkerung, erhöht sich auch der potenzielle Missbrauch dieser Waffen zum Nachteil der Zivilbevölkerung – wie die Statistiken zeigen –, welche doch eigentlich vor Waffengewalt geschützt werden soll. Der Besitz von Waffen macht den Schutz vor ihnen also erst notwendig. Die Annahme, wenn alle eine Waffe besitzen, braucht niemand mehr eine Waffe, ist also insofern falsch, da, wenn alle eine Waffe besitzen, jeder auch der Gefahr durch missbräuchlichem Waffengebrauch ausgesetzt ist und dann erst recht eine Waffe benötigt, um sich vor dieser Gewalt zu schützen. Waffenbesitz und Waffengewalt bedingen und verstärken sich somit gegenseitig. Und darin liegt auch der Widerspruch des zivilen Waffenbesitzes. Da dies besonders ein US-amerikanisches Problem zu sein scheint ist es naheliegend, zur Benennung dieses auch den englischen Begriff zu verwenden, um darauf aufmerksam zu machen: Der Self-Armament-Widerspruch, also der Selbstbewaffnungs-Widerspruch. Die Notwendigkeit und der Zweck der Selbstbewaffnung ist durch die Selbstbewaffnung selbst begründet. Bedeutet im Umkehrschluss: Gibt es in der Zivilbevölkerung keinen allgemeinen Waffenbesitz (ausgenommen Jagd- und Sportwaffen), muss sich auch niemand allgemein vor Waffengewalt schützen, weil sie allgemein nicht ausgeübt werden kann.
Der allgemeine Waffenbesitz ist somit eine konkrete Gefahr für Leib und Leben einer Zivilbevölkerung, auch unabhängig davon, ob der Waffenbesitz einen Waffenschein – im Sinne einer Schulung, einer psychologischen Untersuchung und einer Verwahrungsüberprüfung – voraussetzt. Denn selbst ein Waffenschein schützt nicht vor missbräuchlicher Nutzung der Waffe, wie die hohe Anzahl an Amokläufen durch Minderjährige und die Massenschießereien in den USA beweisen.
Zukünftige Entwicklung in den USA
Die Lockerungen der Waffengesetze in den USA werden also wahrscheinlich weiter fortgesetzt, denn Waffenbesitz führt zu Waffengewalt, welche besonders für die Waffenlobby, unter anderem die National Rifle Association (RNA), die Begründung dafür ist, freieren und damit mehr Waffenbesitz zu verlangen, was jedoch wieder zu mehr Waffengewalt führen wird und so weiter.
Das Interesse der RNA liegt dabei sehr wahrscheinlich nicht im Schutz der Zivilbevölkerung, denn auch sie werden die Statistiken kennen und richtig einordnen können, sondern allein im Profit durch den Waffenverkauf. Leider müssen zugunsten ihres steigenden Profites viele tausende Menschen sterben. Es bleibt zu hoffen, dass die US-amerikanische Zivilbevölkerung diese Menschenleben verachtende Profitgier als solche sieht, indem sie den Self-Armament-Widerspruch eines Tages erkennt.
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