Im Sommerloch 2022 – lang, lang ist’s her - beschäftigte eine wichtige Debatte die Bundesrepublik: war es ein Abgrund an Zensur, wenn ein Verlag aus unternehmerischen Gründen ein Malbuch für Kinder doch nicht herausbringen wollte? Mit verkniffenem Ernst inszenierten sich diverse Politiker*innen in Deutschland beim Lesen von Karl May. Das war insofern bemerkenswert, als dass der Stein des Anstoßes - ein Kinderfilm, der den Stoff zeitgemäß aufzubereiten versuchte – außer dem Titel praktisch keine Verbindung zu Karl May besaß. In regelmäßigen Abständen fegen solche Debatten durch die Bundesrepublik - und natürlich auch durch andere europäische Länder und die USA, wo das alles ja überhaupt erst seinen Ursprung hat.
Der Ground Zero für diese Art von Debatte war die Entscheidung des Verlags, das N-Wort aus Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ zu entfernen und den Vater der Titelfigur zu einem „Südseekönig“ zu machen. Von der Aufregung, die diese winzige Änderung provozierte, hätte man annehmen können, dass ein SEK die Redaktionsräume des „Spiegel“ gestürmt hätte. Aber ich habe bereits darüber geschrieben, und ich möchte heute auf eine andere Thematik eingehen. Ich habe nämlich eine Theorie dazu, warum die altehrwürdigen Stoffe vermehrt in die Kritik kommen und die Kinder immer weniger zu ihnen greifen beziehungsweise sie von ihren Eltern vorgelesen bekommen.
Um etwas deutlicher zu machen, was ich meine, sehen wir uns einfach einmal einige der jüngeren Adaptionen an. Märchen, die den Erfolg Disneys als Animationsschmiede überhaupt erst begründet haben - man denke etwa an die Verfilmung von „Schneewittchen“ von 1937 - werden nun in moderneren Varianten erneut verfilmt: Schauspieler*innen werden divers besetzt, Frauenbilder erhalten ein zeitgenössisches Facelifting, traditionelle Männerrollen werden üblicherweise zuerst persifliert und dann in einem Lernprozess der Protagonisten verworfen, klassistische Elemente werden gedämpft und so weiter und sofort. Der Grund für diese unternehmerischen Entscheidungen ist leicht zu verstehen; man muss nur einmal die Disneyklassiker ansehen. „Cringe“ beschreibt häufig nicht einmal ansatzweise die Gefühle, die dabei entstehen.
Aber Märchen haben grundsätzlich den Vorteil, Mitte des 20. Jahrhunderts bereits einmal einen kompletten Facelift bekommen zu haben. Was die Kulturkrieger*innen von heute ja oft übersehen ist, dass Versionen von Grimms Märchen, die wir heute kennen, üblicherweise bereits deutliche Revisionen gegenüber dem Original aus dem 19. Jahrhundert erfahren haben und dass die Gebrüder Grimm ihrerseits damals alte Stoffe auf zeitgenössische Sensibilitäten hin upgedatet haben. Der Vorgang der Märchenadaptionen, um sie für eine neue Generation noch erträglich zu machen, ist also bereits mindestens 200 Jahre alt, vermutlich aber wesentlich älter.
Dasselbe Phänomen betrifft im Übrigen auch Karl May, was es besonders absurd machte, dass einige rechte Kulturkrieger sich mit den in grünen Leder gebundenen Ausgaben inszenierten: nicht nur hatte nämlich der neue Winnetou-Film praktisch nichts mit diesen Büchern gemein; die Winnetou-Erzählungen, an die nostalgisch zurückgedacht wurde, waren bereits ihrerseits auf zeitgenössische Sensibilitäten gut 70 Jahre nach Erscheinen des Stoffes hin vorgenommene Updates: was die meisten Leute im Kopf haben sind nämlich die Filme aus den 1960er Jahren, die, wie zahlreiche enttäuschte Fans sicherlich attestieren können, deutlich von den Büchern abweichen. Ich jedenfalls war als Kind ein glühender Winnetou-Fan und konnte die Erfahrung der Filme durch die Bücher nie wiederholen. Es ist glaube ich kein Zufall, dass nun, wo wir genau so weit von diesen Filmen weg sind wie die Filme von Karl May, eine erneute Modernisierung unternommen wurde.
„Der junge Häuptling Winnetou“, der Stein des Anstoßes, indessen floppte (er spielte bei einem Budget von rund 5 Millionen weltweit immerhin 1,3 Millionen ein). Das war seinerzeit auch meine Prophezeiung, gestützt allein auf dem Trailer, der bereits grauenhaft aussah. Er hatte ja auch praktisch nichts mit dem Originalstoff zu tun. Keine Überraschung, da Western ein ziemlich totes Genre ist - wie im Übrigen auch die klassische Abenteuergeschichte.
Ich habe meinem Sohn einige Klassiker nähergebracht, indem ich anhand von mir als Kind heißgeliebter Adaptionen aus den frühen 1990er Jahren vorlas: Robinson Crusoe, Die Schatzinsel, In 80 Tagen um die Welt, 80.000 Meilen unter dem Meer, Alice im Wunderland, Huckleberry Finn, Tom Sawyer und so weiter. Einige Male musste ich beim Lesen spontan Änderungen vornehmen, etwa, was die großzügige Verwendung des N-Worts anging. In anderen Fällen musste ich unterbrechen und mit ihm einige besonders problematische Sequenzen besprechen. Man denke nur etwa an den geradezu komischen Rassismus der Kannibalen in Robinson Crusoe oder den unverhohlenen Orientalismus von „In 80 Tagen um die Welt“.
Das ist alles keine Kleinigkeit, sondern in dem Stoff begründet. Während man bei Pippi Langstrumpf noch relativ problemlos das N-Wort eliminieren kann, weil die Geschichte ohnehin nicht in Realitäten, sondern einer Fantasiewelt Lindgrens basieren, ist dies bei den klassischen Abenteuergeschichten praktisch unmöglich. Wie ein reichlich gescheiterter Adaptionsversuch erst jüngst wieder demonstriert hat, gibt es letztlich keine Möglichkeit, „In 80 Tagen um die Welt“ für moderne Sensibilitäten aufzubereiten. Der Stoff ist ein Produkt seiner Zeit und lässt sich nur in den spezifischen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt machen. Wenn man diese allerdings für moderne Sensibilitäten anpassen möchte, ergibt die Handlung praktisch keinen Sinn mehr. Wie will man sich etwa ohne die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts irgendeinen Reim auf Phileas Fogg machen?
Dazu kommt der immer größere zeitliche Abstand. Es mag ein wenig albern klingen, dass meine Kindheit zu Beginn der 1990er Jahre in einem relevanten Maß näher an Jules Verne oder Mark Twain liegen würde als die meine Kinder heute. Es ist allerdings auf eine ziemlich profunde Art und Weise korrekt. Die letzten 20 Jahre haben einen Wandel in Mentalitäten und Normen gesehen, der sehr tiefgreifend ist. Die rechten Kulturkrieger*innen wir haben darin ja einen Punkt: die Normalität, nach der sie sich sehnen und die sie ständig beschwören, existiert tatsächlich nicht mehr. sie hat einen neueren, diverseren Normalität Platz gemacht, die von einer lautstarken Minderheit nicht akzeptiert wird.
Die Nachkriegszeit, definiert hier als die Epoche von 1945 bis 1989/1991, war schlichtweg eine andere als die ihr folgende, in der wir gerade leben und die noch keinen griffigen Namen aufweist. deswegen ist die wiederholte Lektüre meine eigenen Kinderbücher auch eine profund verstörende Erfahrung, auf eine Art, wie sie dies vermutlich für meine eigenen Eltern nicht wahr. Ich bin in diesem Punkt sehr zuversichtlich, da ich als Kind zahlreiche Kinderbücher aus den 1900er und 1960er Jahren gelesen habe und die Halbwertszeit von Medien generell noch wesentlich höher war.
Gerade dieser Faktor scheint mir in der ganzen Debatte noch einer zu sein, der kaum thematisiert wird. Das Fernsehprogramm bestand noch in den 1990er Jahren aus Wiederholungen von Sendungen, die teilweise Jahrzehnte alt waren - Winnetou ist hier nur das plakativste Beispiel. Heutzutage ist es beinahe unmöglich, Sendungen zu sehen, die älter als 10 Jahre sind, weil diese im Geschäftsmodell der Streaminganbieter nicht relevant sind und nicht vorkommen - sehr zum Verdruss von Cineast*innen aller Couleur.
Das hat jedoch nicht nur technische und wirtschaftliche Gründe. Diese haben das Phänomen zwar sicher beschleunigt, für ausschlaggebender halte ich allerdings trotz allem den Wandel von Werten und Normen. Dazu kommt noch ein weiterer in diesem Kontext üblicherweise nicht diskutierter Aspekt: der Tod des Genres. Jedes tote Genre wird stets von einem anderen abgelöst, weil der Bedarf an Unterhaltung nicht verschwindet. Wenn aber klassische Abenteuergeschichten tot sind, durch was wurden sie dann ersetzt? Haben die Leute schlichtweg keine Lust mehr auf Abenteuer? Das ist kaum vorstellbar.
Bevor ich den Vorhang lüftete und meine Antwort gebe, möchte ich eine These in den Raum stellen. Die klassischen Abenteuergeschichten, wie ich sie hier skizziert habe, wurden vor dem angesprochenen Wertewandel - den man gerne unter dem Schlagwort „woke“ fassen kann, so man das denn möchte – wurden zu ihrer Zeit als Fantasygeschichten rezipiert. Sie spielten an exotischen, weit entfernten Orten, die die Fantasie beflügelten und zu denen es keinen realen Bezug gab. Nicht ohne Grund schließlich schrieb Karl May seine Bücher, ohne je in Amerika gewesen oder auch nur einen einzigen Native American gesehen zu haben. Ein realistischer Anspruch war nie verknüpft. Die Geschichten boten einen eskapistischen Fluchtpunkt.
Nur gehört zu unserem Wertewandel auch die Grundlage, dass wir wesentlich vernetzter sind als noch vor 30 oder gar 50 Jahren. Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass wesentlich größere Bevölkerungsschichten fremde Länder sehen konnten und, vor allem, dass wir mit diesen viel stärker vernetzt sind als zuvor. Dank des Internets haben wir ein unendlich viel besseres Bild von großen Teilen der Welt und eine viel stärkere Pluralität an Sichtweisen als in der Nachkriegszeit. Dieses Wissen allerdings basiert auf der realen Welt, die Abenteuergeschichten auf einer fantastischen.
Entsprechend entsteht eine Art kognitiver Dissonanz, in der orientalistische Klischees nicht mehr exotisch, fremd und anziehend wirken, sondern falsch; in der die Abenteuer von Straßenkindern und das Jugendamt informieren lassen wollen anstatt Spannung zu erzeugen; in der züchtige, in Not geratene Edelfräulein die örtliche Frauenbeauftragte auf den Plan rufen und nicht die Fantasie zu beflügeln; in der das Wissen um den Genozid an den amerikanischen Ureinwohner*innen den „letzten Mohikaner“ jeglicher Romantik entkleiden.
Gleichzeitig haben wir eine zumindest scheinbar sauberere und attraktivere Alternative gefunden: Fantasy. Wer einmal einen Blick in die Kataloge der Streaminganbieter wirft und schaut, was dort für Kinder aktuell geboten wird komme wird neben der Masse lizenzierter Produkte vor allem erkennen, dass statt Märchen und Abenteuergeschichten in unserer eigenen Welt Fantasywelten die Hauptrolle einnehmen, auch dann, wenn dies gar nicht offiziell genannt ist: selbst moderne Adaptionen von Grimms Märchen spielen nicht mehr in einer romantisierten Vergangenheit, sondern in einer fantastischen Paralleldimension.
Deswegen ist der Wandel ihn Unterhaltungsmedien hin zu diversen und weg von den klassischen Geschichten und Variationen auch einer, der nicht einer sinistren, woken Weltverschwörung entspringt, sondern schlichtweg gewandeltem Publikumsinteresse und der simplen marktwirtschaftlichen Reaktion darauf.
Links:
- Bohrleute 27: Die Glocken von Santa Fé
- Bohrleute 28: Trigger-happy vom 9€-Ticket bis Winnetou
- Deliberation Daily: Koeppen, das N-Wort und das Abitur
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: