Wir kennen wohl alle den Minderwertigkeitskomplex, das übertriebene Gefühl also der eigenen Unvollkommenheit. Es ist eine tief sitzende Empfindung, unter der die Betroffenen mitunter schwer leiden und um die man sie bemitleiden muss. Dagegen scheint der Leidensdruck bei den Leuten, die von einem Überlegenheitskomplex befallen sind, sich eher in Grenzen zu halten. Im Gegenteil, diese Menschen wirken hoch zufrieden mit sich selbst und den Absurditäten, die sie häufig propagieren.

Der Überlegenheitskomplex bewirkt ein dominierendes, unbegründetes Gefühl, besser zu sein als andere. Zu den Symptomen des Überlegenheitskomplexes gehören beispielsweise:

  • Dinge zu behaupten, die nicht durch die Realität gestützt werden,
  • eine übermäßig hohe Meinung von sich selbst zu haben,
  • unberechtigte Autorität an den Tag zu legen,
  • mangelndes Verständnis für andere zu haben,
  • seine eigene Widersinnigkeit ernst zu nehmen.

Der Überlegenheitskomplex unterscheidet sich von echtem Selbstvertrauen vor allem dadurch, dass letzteres das Ergebnis von tatsächlichen Fähigkeiten, Erfolgen oder Talenten ist. Im Gegensatz dazu beinhaltet der Überlegenheitskomplex eine falsche Zuversicht von Menschen, denen es an Kompetenz mangelt.

Mir kommt es manchmal so vor, als befänden wir uns derzeit mitten in einer Überlegenheitskomplex-Pandemie. Querdenker, Evidenz Ablehner, Impfgegner, Steiner Fanatiker, Homöopathie Anhänger, Naturkost Besessene, etc. - ja, ich weiß, das sind heterogene Gruppen; dennoch gibt es da kaum zu leugnende Gemeinsamkeiten[1] - behaupten Dinge, die nicht durch die Realität gestützt werden. Sie haben fast immer eine übermäßig hohe Meinung von sich selbst. Sie strotzen nur so von Autorität. Sie sind nicht geneigt, auf andere zu hören. Und sie nehmen ihre eigenen Vorstellungen viel zu ernst.

Da kann jemand sein Leben damit verbracht haben, sein Thema zu beforschen und vielleicht sogar als Kapazität anerkannt sein, dem Opfer des Überlegenheitskomplexes ist das einerlei. Denn er kennt sich ja aus -- schließlich hat er sein Thema mehrmals gegoogelt und war vielleicht sogar auf ein, zwei Demos. Wer braucht schon langes Studium oder Expertise, wenn er einen Überlegenheitskomplex hat?

Aber wehe, Sie kratzen ein wenig an der dünnen Oberfläche eines Befallenen! Dann taucht rasch eine Fadenscheinigkeit auf, die den Überlegenheitskomplex als das enttarnt, was er wirklich ist. Gemäß Alfred Adlers Individualpsychologie sind ein Überlegenheitskomplex und ein Minderwertigkeitskomplex eng miteinander verbunden. Adler vertrat die Auffassung, dass eine Person, die sich anderen gegenüber überlegen hält, in Wirklichkeit meist ein Gefühl der Minderwertigkeit verbirgt.[2]

Sollte das etwa heißen, dass Querdenker, Evidenz Ablehner, Impfgegner, Steiner Fanatiker, Homöopathie Anhänger und Naturkost Besessene von Tuten und Blasen keine Ahnung haben? Könnte es sein, dass sie mit ihrer Besserwisserei nur ihre eigenen Unzulänglichkeit kaschieren wollen?

Natürlich ist uns allen nicht wohl, wenn wir Neuland betreten müssen, das große Gefahren bergen könnte. Natürlich wäre es schöner, auf etabliertes Wissen zurückgreifen zu können und nicht ständig dazu lernen zu müssen oder gar völlig im Dunklen tappen zu müssen. Das mögen einige offenbar nicht verkraften und lassen daher ihre mangelnde Kompetenz in einen Überlegenheitskomplex mutieren.

Falls an meinen Mutmaßungen etwas dran ist, dann sollte man vielleicht überlegen, wie man diesen ,bemitleidenswerten Überheblichen' helfen könnte. Das allerdings muss ich anderen überlassen, denn es liegt leider weit außerhalb meiner Kompetenz.


  1. defacto: Gefährliche Heiler - sanft gegen Krebs, aggressiv gegen den Staat | ARD-Mediathek (ardmediathek.de) ↩︎

  2. Praxis und Theorie der Individualpsychologie : Adler, Alfred: Amazon.de: Bücher ↩︎

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