Wenn man die Talkshows einschaltet, sieht man dort oft harsche Kritik an der Ukrainepolitik des Westens im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen: Inflation steigt, Gasknappheit droht, man befürchtet die Eskalation des Konflikts. Was mir an dieser Art Kritiken in letzter Zeit immer öfter auffällt ((typisch für die Debatte finde ich diesen Thread) ist die unterschwellige Prämisse, dass Deutschland beziehungsweise der Westen in diesem Konflikt herumschlafwandelten (eine Metapher, die Christopher Clarke übrigens rundheraus ablehnt). Man kann ja durchaus kritisieren, welche strategischen Schritte hier ergriffen werden (und werden das in den Kommentaren sicher auch tun), aber man sollte grundsätzlich anerkennen, dass hier von den Regierungen konkrete Ziele verfolgt werden. Es macht nur Sinn, über die entsprechenden Strategien zu streiten, wenn man diese Ziele anerkennt. Dann kann man konkret kritisieren, ob diese Ziele sinnvoll sind (erstens) und ob die aktuellen Strategien der richtige Weg sind, sie zu erreichen (zweitens).

Dies wird dadurch erschwert, dass es seit dem Februar 2022 einen oder sogar mehrere deutliche Wechsel in der Strategie gab (beziehungsweise sogar mehrere) und dass Olaf Scholz nicht durch sonderlich stringente Kommunikation auffallen würde. Die Neigung der deutschen Öffentlichkeit, alle Themen in einer riesigen Nabelschau immer auf innenpolitische Probleme zu beziehen, tut dem Ganzen auch keinen großen Gefallen.

Als Russland seine verschärften Aggressionen gegen die Ukraine begann - im Winter 2021/22 - war der weithin geteilte Konsens, dass es sich um eine rhetorische Eskalation handle und Putin allenfalls lokal Aktionen unternehmen würde. Der Truppenaufbau an der Grenze zur Ukraine wurde als Bluff betrachtet. Die Möglichkeit, dass er tatsächlich einen umfassenden Krieg führen würde, hatten die wenigsten auf dem Radar (ich übrigens auch nicht, bevor da der gegenteilige Eindruck einer derartigen Behauptung aufkommt). Im Februar spitzte sich die Lage dann spürbar zu. Die westlichen Analysten sagten allesamt korrekt voraus, dass Putin einen Angriff plane, und hatten sogar den exakten Tag entsprechend bestimmt. Dass nun (wie im oben verlinkten Thread) daraus eine Schuld des Westens konstruiert wird, ist geradezu hanebüchen.

Fakt ist, dass Biden den Krieg ankündigte, bevor er begonnen hatte. Als es dann tatsächlich losging, tat er nichts, um ihn zu beenden. Im Gegenteil : Die USA heizen den Konflikt nach Kräften an, mit einem Lend-Lease Programm wie im 2. Weltkrieg

— Eric B. (@LostinEU) July 26, 2022

Ich möchte an dieser Stelle kurz verweilen. Die CIA beziehungsweise die Biden-Administration haben die Informationen über den russischen Truppenaufmarsch ja nicht publik gemacht, weil irgendein kleiner Beamter einen privaten Blog betreibt und den Kram gepostet hat. Das war eine bewusste Entscheidung. Das Kalkül dahinter ist ziemlich offensichtlich: Putin sollte keine Gelegenheit gegeben werden, den Angriff als Reaktion auf irgendeine ukrainische "Provokation" darzustellen (quasi Sender Gleiwitz reloaded), sondern seine Schuld an der alleinigen Eskalation sollte von Anfang an offenkundig sein. Dieses Kalkül ging, im Rahmen der Möglichkeiten, auf. Ein Narrativ, demzufolge Russland nicht der Angreifer sei, konnte nicht verfangen; die Putinisten verlagerten sich stattdessen von Anfang an auf den aufgezwungenen Krieg.

Auch die Idee, dass früheres Krisenmanagment da völlig anders gewesen sei, ist ahistorischer Unfug:

Diese sogenannten "Geheimdienst-Meldungen" waren Teil des diplomatischen Spiels. Natürlich hatten die den Zweck, Russland unter Druck zu setzen, um Putin eine Niederlage beizubringen. In der Kubakrise verzichtete man auf solche Spielchen. Zum Glück. https://t.co/iiLwddHCE7

— f.luebberding (@luebberding) July 26, 2022

Die Kubakrise begann quasi offiziell mit der Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen durch den amerikanischen UN-Botschafter in einer Vollversammlung der UNO und einer Fernsehansprache Kennedys. Das Ziel war ganz klar, Chruschtschow unter Druck zu setzen und ihm eine Niederlage beizubringen. Diese "Spielchen" waren von Anfang an drin und haben die Krise im Übrigen auch damals verschärft. Lübberding verfällt hier Präsentismus: weil es gut ausgegangen ist, muss alles total clever gewesen sein. Dazu kommt, dass Chruschtschow unter anderem wegen der Kubakrise 1964 aus dem Amt gedrängt wurde. Der Aufbau von Druck hatte also funktioniert (ob Breschnew dann besser war, sei mal dahingestellt). Insofern arbeitete die westliche Politik hier durchaus mit Plan und Strategie und hatte auch entsprechende historische Vorbilder an der Hand.

Als der Krieg dann begonnen hatte, war die einhellige Erwartung, dass er schnell gehen würde - sowohl von russischer als auch von westlicher Seite. Die westliche Reaktion hatte Putin bereits eingepreist: kosmetische Verschärfungen der bereits bestehenden, zahnlosen Sanktionen und ein Theaterdonner auf diplomatischer Bühne. Stattdessen kam es, wie wir wissen, anders: unerwartete ukrainische Kompetenz und Hartnäckigkeit und ebenso unerwartete russische Inkompetenz sorgten für eine klare Niederlage vor Kiew, worauf sich der Krieg auf den Süden der Ukraine verlagerte und dort seither tobt.

Diese unerwartete Zähigkeit der Ukraine veränderte alles. Die Reaktion des Westens viel WESENTLICH härter und entschlossener aus, als vorher von allen Seiten antizipiert, dem Westen eingeschlossen. Dass Russland tatsächlich so umfassend Krieg führen würde - also die Ukraine in ihrer Gesamtheit anzugreifen statt begrenzte Operationen um das Donezk-Becken herum - veränderte die Sicht auf die Geschehnisse praktisch weltweit. Und hier kommt der nächste Schritt, die nächste Änderung der westlichen Strategie.

Anstatt nur Lippenbekenntnisse und zahnlose Sanktionen abzugeben, wie das ursprünglich ziemlich sicher geplant war, verschob sich das Ziel massiv. Ich bin mir unsicher, ob es je ernsthafte Hoffnungen auf einen Totalzusammenbruch Russlands gab - ich würde eher "nein" sagen, aber das ist nur Bauchgefühl - ist unklar, aber im westlichen Diskurs war der Schwung noch schärfer als auf politischer Ebene. Plötzlich wurde ernsthaft diskutiert, Russland durch Sanktionen in die Knie zu zwingen. Sie wurden von einem punitiven Instrument zu einem strategischen. Der Westen wurde dadurch quasi "über Bande" Kriegsteilnehmer in der Ukraine.

Das Ziel der Sanktionen war nun nicht mehr, Russland für sein Verhalten zu bestrafen, sondern ein bestimmtes Ergebnis in einem andauernden Konflikt zu erreichen. Das war eine neue Qualität. Gleichzeitig begann der Westen mit massiven Hilfsprogrammen für die Ukraine (was Bonse nicht falsch als "Lend-Lease" beschreibt; mehr dazu etwa hier). Mittlerweile ist glaube ich klargeworden, dass Russland nicht einfach zusammenbrechen wird. Wie stark Russland von den Sanktionen betroffen ist, ist schwer zu sagen. Die Ökonom*innenzunft ist über diese Frage seit Monaten heftig zerstritten. Unbestreitbar ist der Vorteil, den die Waffenlieferungen der Ukraine bringen. Ohne westliche Unterstützung könnte das Land vermutlich nicht gegen Russland bestehen; wirtschaftlich ohnehin nicht. Die Ukraine ist de facto bankrott und wird nur durch westliche Unterstützung am Leben erhalten. Das ist eine Situation, die das UK aus dem Zweiten Weltkrieg auch nur zu gut kennt.

Natürlich blieb Russland bei alledem nicht untätig. Putin stehen weit weniger Hebel zur Verfügung, dem Westen zu schaden, als umgekehrt, aber er nutzt, was er hat. Erstaunlich wenig erfolgreich sind die russischen Trollfabriken. Bei Brexit und Trump-Wahl waren sie wesentlich erfolgreicher, was einmal mehr zeigt, dass die entschlossene Reaktion des Westens und das klare Framing Russlands als Aggressor clevere Strategie waren (und nicht etwa, die Lübberding insinuiert, ein Fauxpas). Sie haben die Resilienz der westlichen Gesellschaften deutlich gestärkt. Die schärfste Waffe in Putins Arsenal aber ist das Gas, von dem besonders Deutschland dank der jahrzehntelangen verfehlten Politik eines Mega-Bündnisses aus CDU, SPD, LINKEn und FDP, besonders abhängig ist. Wie abhängig ist unter Ökonom*innen ebenfalls sehr umstritten; die Schätzungen reichen von "wird kein angenehmer Winter" zu geradezu apokalyptischen Szenarien vom Zusammenbruch der deutschen Gesellschaft.

Die Reaktion der deutschen Regierung im Besonderen hier ist sehr umstritten. Regierungskritiker*innen wie Bonse, Lübberding oder auch Strobl - und, prominter, Leute wie Varwick, Krone-Schmalz, oder Wagenknecht -, die die westliche Einmischung in den Konflikt ablehnen, empfinden die zu erwarteten wirtschaftlichen Lasten als viel zu hohen Preis für etwas, das sie ohnehin als Fehler betrachten. Sie plädieren für einen Kompromiss mit Russland in irgendeiner Form. Die Regierung hat sich von dieser Vorstellung völlig verabschiedet. Ein grüner Wirtschaftsminister (!) kauft Gas (!!) in Katar (!!!) und lässt Flüssiggas im Eilverfahren weltweit importieren. Wenn das keine Zeitenwende ist, weiß ich auch nicht. Ein erbitterter Streit tobt um die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke (den ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen kann: entweder es hilft kurzfristig, dann spricht nichts dagegen, oder es hilft nicht, und dann ist die Debatte müßig).

Dahinter ist eine klare Strategie erkennbar: Deutschland im Speziellen und der Westen im Allgemeinen wollen sich energiepolitisch unabhängig von Russland machen. Man kann nun darüber streiten, ob das ein sinnvolles Ziel ist, aber wenn die Debatte irgendeinen Sinn haben soll, dann muss man anerkennen, dass es eine dezidierte Strategie ist und die Sanktionen und die Gasknappheit nicht Resultat irgendeines Fehlers sind, den die Bundesregierung in Ignoranz begangen hat. Den Verantwortlichen sind die Folgen ihrer Politik völlig klar. Und erneut: wir können gerne sowohl darüber streiten, ob die Politik sinnvoll ist als auch über die Konsequenzen, die die Politik daraus gezogen hat. Aber was wir nicht tun können ist einfach so zu tun, als würden völlig willkürliche Policies aus einer Art Berliner Lotterie fallen.

Das gleiche gilt für die diplomatische Strategie. Von Beginn an verfolgte der Westen das Ziel, Russland politisch zu isolieren. Der worst case wäre ein breites anti-westliches Bündnis in dieser Frage, mit Waffenlieferungen und Unterstützung Russlands durch China. Das ist (bislang) nicht passiert. Der westliche Ansatz zur Isolierung war erstaunlich erfolgreich, mit der Verurteilung des illegalen russischen Angriffskriegs vor den Vereinten Nationen mit erstaunlich großer Zustimmung (und einer gewaltigen Enthaltungswelle; Russland hatte nur sehr wenige "Nein"-Stimmen auf seiner Seite). Solche Ergebnisse gibt es in der UNO sonst nur, wenn es mal wieder gegen Israel geht.

Zuletzt ist ein klares Zusammenrücken innerhalb der NATO und der EU als Folge des Angriffskriegs gegen die Ukraine erkennbar. Die NATO hat ihre Nordostflanke arrondiert und die Ostsee in einen "Lake NATO" verwandelt, die Militärs werden deutlich aufgerüstet, die Präsenz des Bündnisses in den östlichen NATO-Staaten deutlich ausgebaut, die USA haben ein neues commitment auf dem Kontinent und zahlreiche Konflikte wurden hintenangestellt. Diese Entwicklung ist ein absolutes Desaster für Putin. Selbst wenn er militärisch in der Ukraine gewinnt (was bei weitem nicht ausgemacht ist), so ist die Einigung des vorher so zerstrittenen Bündnisses und Staatenverbundes für ihn eine krasse Niederlage, die alleine rechtertigt, den ganzen Krieg als größten geopolitischen Fehltritt seit mindestens 30 Jahren zu betrachten.

Daher: wenn wir über die westliche Politik und Strategie streiten, dann sollten wir anerkennen, dass es eine solche gibt. Alles andere führt zu wenig, weil eine Debatte darüber, wie doof es ist, dass die Gaspreise steigen, nutzlos ist. Klar ist es scheiße, wenn Unternehmen bankrott gehen, Energiepreise in die Höhe schießen und Menschen deutlich ärmer werden. Aber das passiert ja nicht in einem Vakuum. Die westlichen Regierungen azeptieren diese Ergebnisse (und versuchen sie zu mitigieren) in einem klaren Austausch gegen geopolitische Ziele, in diesem Fall die komplette Abkapselung von Russland und eine deutliche Erhöhung der eigenen Resilienz. Ist es das wert? Who knows. Darüber können wir gerne diskutieren. Aber bitte nicht so tun, als würde Habeck einfach aus Spaß an der Freude den Gashahn abdrehen.

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