Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Why the economic war against Russia has failed

Few people in the West are aware of how badly this aspect of the war is going. Europe has itself paid a high price to effect a partial boycott of Russian oil and gas. UK fossil fuel imports from Russia totalled £4.5 billion in 2021; in the year to January 2023 that was – officially – down to £1.3 billion. In 2020 the EU sourced 39 per cent of its gas and 23 per cent of its oil from Russia; in the third quarter of last year this was down to 15 per cent and 14 per cent respectively. [...] It was not necessarily wrong to declare economic war on Russia. The country has suffered harm from western sanctions, even if nothing like on the scale that we imagined we could inflict. But if the West is thinking that in future it can fight wars purely by economic means, without bombs or bullets, it is badly mistaken. (The Spectator)

Am faszinierendsten finde ich die Handelszahlen mit Russlands Nachbarstaaten. Die Importe Kirgisiens für Autoersatzteile aus Deutschland etwa sind um 4000% gestiegen. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich auszumalen, dass dafür kein kirgisisches Wirtschaftswunder verantwortlich ist. Aber die Hoffnungen über einen Zusammenbruch der russischen Volkswirtschaft als Folge von Sanktionen waren immer schon überzogen. Es braucht auch keinen Zusammenbruch, um Konsequenzen zu haben. Sanktionen heißt, das "long game" zu spielen. Für mich ist die Situation mit der des Brexit vergleichbar: die Remainer malten sich da auch düstere Zusammenbruchsszenarien aus. Realistischer baer ist, was sich abzuzeichnen scheint: ein langsamer Niedergang, eine enshittification der britischen Volkswirtschaft.

Ähnliches wird auch in Russland passieren. Klar kaufen die über Drittstaaten weiterhin Kram, aber glaubt jemand, das passiert ohne Mark-up? Und sicher, sie kriegen manche Sachen aus dem Westen über diese Umwege immer noch. Aber kriegen sie alles, was sie brauchen? Auf "wir importieren was wir kriegen können in Kleinstmengen über Kirgisien" lässt sich keine Wertschöpfungskette aufbauen. Mir scheinen die Abgesänge auf die Wirkungen der Sanktionen verfrüht.

Dazu kommt, dass ich die größte Bedeutung der Wirtschaftspolitik vis-a-vis Russland nie in der Zerstörung der russischen Wirtschaft gesehen habe; das kriegen die wie jedes autokratische Regime auch gut selbst hin. Der relevante Punkt ist die Entkoppelung von der russischen Wirtschaft, die Verringerung von Abhängigkeiten. Im Kalten Krieg importierte der Westen sehr wenig Dinge aus dem Ostblock und war daher unabhängiger. Wenn wir es schaffen, Russland wirtschaftlich ignorieren zu können, ist das bereits ein gewaltiger Erfolg der Sanktionspolitik. Und diesen Teil hat das Wirtschaftsministerium auch ziemlich gut hinbekommen. War natürlich auch nicht so schwer, bedenkt man die geringe Größe der russischen Volkswirtschaft. Derselbe Prozess wird bei China weit diffiziler werden.

2) The War on Poverty Is Over. Rich People Won (Interview mit Matthew Desmond)

Matthew Desmond: [...] Government programs obviously work. I’ve been with people when they receive a housing voucher. They praise Jesus. They fall on their knees. They pray and weep and cry. We have massive amounts of evidence about the benefits of government spending on anti-poverty programs. But poverty is also about exploitation. We have all these anti-poverty programs that accommodate poverty without disrupting it. They’re not eliminating poverty at the root. [...]

Lowrey: Let’s drill down on housing. Talk me through how something wealth-generating for some families is wealth-sapping for others.

Desmond: This is a unique feature of American life. If you go to Germany, a lot of professionals live in social housing. It’s not stigmatized. They’re living shoulder to shoulder with folks that might be in a very different place than they are economically. [...]

Lowrey: We’ve seen large declines in the poverty rate in the past few years, after decades of slower progress. How and why did that happen?

Desmond: During COVID, we saw this incredible, bold relief, unmatched since the War on Poverty and the Great Society. If you look at the extended child tax credit, it dropped child poverty 46 percent in six months. If you look at emergency rental assistance, eviction rates drop to the lowest on record. If you look at incomes of families in the bottom half of the distribution—after the Great Recession, it took them 10 years to recover. This time, it took a year and a half. Night and day. I see this as incredible, incredible evidence of what robust government spending can do. But those things are going away. We’re seeing evictions tick up again. We’re seeing the poverty rate tick up again. That should be troubling. (Annie Lowrey, The Atlantic)

Man muss bei solchen Artikeln immer vorsichtig sein, weil die Lage in den USA wirklich eine fundamental andere ist als in Kontintaleuropa. Die US-Gesellschaft erträgt, wie Desmond das im Interview schön formuliert, wesentlich krassere Armutszustände, als dies die europäischen Gesellschaften tun. Ich möchte hier aber vor allem auf die zwei zitierten Punkte eingehen.

Erstens die Wirksamkeit direkter Hilfen. Ich habe das hier schon öfter angesprochen, aber wer Obdachlosigkeit beseitigen will, muss Obdach bereitstellen. It's as simple as that. Von da an braucht es eine vernünftige Struktur mit Sozialarbeiter*innen, um die Lage der Leute zu stabilisieren, die das nötig haben. Not rocket science. Dafür ist ja Covid auch das beste Beispiel. Da gab der amerikanische Staat direkte Hilfen aus, und lo and behold, sie hatten massive positive Effekte. Wegen der Lust zu strafen ließ man die aber auslaufen, und wenig überraschend ist die Lage jetzt wieder schlecht.

Punkt zwei ist diese Idee, dass in Deutschland Fachkräfte in Sozialwohnungen leben würden. Das zeigt einmal mehr die Gefahr von irgendwelchen "aber in Land X ist es viel besser"-Vergleichen. Nicht nur werden oft genug Äpfel und Birnen verglichen, allzuoft ist es auch schlicht Unfug. Desmond mag ein Experte für US-Armut sein; von Deutschland hat er offensichtlich wenig Ahnung. Der Vergleich wird hier als Brechstange für die eigenen politischen Forderungen genutzt. Das darf man gerne für unsere eigenen Debatten auch im Blick behalten, etwa wenn die Rede auf das Schulsystem (Finnland!), sozialstaatliche Einrichtungen (Skandinavien generell!) oder Einwanderung (Kanada!) kommt, nur um einige zu nennen.

3) The case for rethinking fiscal rules is overwhelming

Are these rules exerting useful fiscal discipline or constraining investment and growth? I believe the latter. They are typically based on the stock of government debt relative to income. We would expect this ratio to vary over time. The greater the challenges facing a nation state, the stronger the case for debt-financed investment in the public goods needed to rise to them. [...] Countries with higher net worth also tend to exhibit greater macroeconomic resilience. This then reduces the burden on the state when adverse shocks strike. Our current debt-based fiscal rules, by constraining public investment, have contributed to a reduction in macroeconomic resilience and a bulging of the safety net following shocks. [...] Adhering to existing fiscal rules risks underinvesting today in tomorrow’s economic and environmental health. As the evidence of the past few decades demonstrates, debt-based fiscal rules dent growth, weaken macroeconomic resilience and amplify the doom loop. Future generations will rightly consider us bad ancestors if we stick with them. (Andy Haldane, Financial Times)

Ich nehme das vermehrte Auftreten solcher Artikel als Zeichen eines Paradigmenwechsels, den ich bereits seit Längerem prognostiziere. Es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis sich das herrschende Paradigma komplett überholt hat, und es bleibt weiterhin unklar, was an seine Stelle treten könnte - die Linke ist bisher nicht mit sonderlich großartigen oder kohärenten Ideen aufgefallen, weswegen anders als bei den letzten beiden Malen eher ein inkrementeller Umbau wahrscheinlich ist. Aber Ausnahme für Ausnahme, Krise für Krise wird das aktuelle Paradigma mehr und mehr an Bedeutung verlieren, davon bin ich überzeugt.

4) Immer wieder im Frühling

Im gleichen Zug legten die Grünen das Fundament für die Affäre Graichen. Sie holten den Energie-Experten als Staatssekretär in die Regierung – einen Mann aus einer Denkfabrik, der zwar schon mal elf Jahre im Bundesumweltministerium gearbeitet hatte, aber keine Erfahrung mit politischen Ämtern mitbrachte. Das kann man machen, Expertise von außen bereichert die Politik. Hilfreich wäre es dann aber, das fehlende Gespür für politische Fallstricke anderweitig auszugleichen: durch dahingehend erfahrene Mitarbeiter, durch enge Aufsicht, durch ausführliche Briefings. [...] Das Tröstliche für Anhänger der Grünen: Es ist eine Lernkurve zu beobachten, auch wenn sie nicht exponentiell nach oben verläuft und sich im Moment sogar wieder nach unten wenden könnte. [...] All das unwidersprochen stehen zu lassen, würde sowohl den Grünen als auch ihrer Sache schaden. Andererseits: In den Abendnachrichten darüber zu jammern, wie gemein doch alle sind, und auf Twitter anzumerken, dass andere Parteien eine viel dickere Skandal-Akte haben – das wirkt nicht sonderlich souverän. Damit kann man die eigenen Reihen schließen. Mehr nicht. (Tobias Schulze, taz)

Der Artikel analysiert in meinen Augen ziemlich gut, woran die Probleme der Grünen liegen. Letztlich ist es eine Unprofessionalität, die ich selbst ja auch schon öfter angemerkt habe. Wenn man von diesen Skandalen überrascht wird und keine Antwort darauf hat, ist das einfach keine gute Grundlagenarbeit. Und dann wird am Nasenring durch die Manege geführt. Es ist die Input-Problematik, die ich in den Kommentaren mit Ralf diskutiert habe: klar gibt es eine Kampagne gegen die Grünen, aber die machen es ihren Gegnern auch echt verdammt einfach. Das lässt sich in meinen Augen nicht wirklich wegdiskutieren. Die FDP hatte seinerzeit in der schwarz-gelben Koalition auch nicht viel freundliche Presse, aber wenn du dazu noch Klopper à la "spätrömische Dekadenz" raushaust, machst du die Sache echt nicht besser. Ähnlich ist es auch hier.

5) So geht es nicht weiter mit der Arbeitszeit von Lehrern (Interview mit Mark Rackles)

In keinem anderen Bereich des öffentlichen Dienstes und ab einer bestimmten Gehaltsstufe auch in keinem privaten Unternehmen würden Beschäftigte so viele unbezahlte Überstunden machen. Warum nehmen Lehrerinnen und Lehrer das hin?

Grundlage der Arbeitsorganisation an Schulen ist ein uraltes System aus dem 19. Jahrhundert, das nie an die Erfordernisse der modernen Pädagogik angepasst wurde. Wirklich festgeschrieben ist in diesem System nur die Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche, die eine Lehrkraft zu erteilen hat, an Gymnasien beispielsweise, je nach Bundesland, 23 bis 27 Unterrichtsstunden, an Grundschulen 27 bis 28,5 Unterrichtsstunden. Alles andere bleibt unbestimmt und hängt davon ab, wie eine Lehrkraft die Arbeit wahrnimmt. [...]

Was für Aufgaben sind es, die außerhalb des Unterrichts stattfinden?

Die größten Belastungsfaktoren stecken im bürokratischen Aufwand, im Erfassen von Daten. Warum muss eine teuer bezahlte Lehrkraft so etwas tun, warum muss sie Aufsichten machen? In anderen Ländern machen das Assistenzlehrkräfte oder Studierende. (Hubertus Vollmer, NTV)

Es ist wie so häufig: die Defizite sind längst bekannt, die entsprechenden Lösungen auch. Das Problem ist, dass diese Lösungen teuer wären. Denn wenn man die Arbeitszeit von Lehrkräften vernünftig reformiert - vor allem im Einklang mit aktueller Gesetzgebung; aktuell ist das Klassenzimmer ja ein rechtsfreier Raum - dann kann das gut dazu führen, dass Lehrkräfte plötzlich weniger oder weniger gut unterrichten. In Hamburg, das als einziges Bundesland ein Wochenarbeitszeitmodell hat, stellte man schnell und wenig überraschend fest, dass Lehrkräfte mehr als die vorgeschriebene Zeit arbeiten. Die Antwort der Landesregierung? Sie sollen halt weniger gut arbeiten. Das kann man natürlich machen; eine sonderlich gute Lösung ist das aber nicht.

Ähnliches gilt für die nicht eben bahnbrechende Erkenntnis, dass Lehrkräfte viel zu viele Aufgaben außerhalb des Unterrichts erledigen, für die sie grotesk überqualifiziert sind und die alle wahnsinnige Zeitfresser sind. Nur: würde man diese Aufgaben ausgliedern, müsste man dafür anderes Personal einstellen. An der Stelle schlägt der Föderalismus gnadenlos zu. Lehrkräfte werden vom Land bezahlt, das restliche Schulpersonal von den Kommunen. Würde man diese Aufgaben also neu verteilen, stiege die Last auf die Kommunen. Man muss kein politischer Crack sein um zu erkennen, wo die Vetos solcher Vorschläge herkommen werden.

Resterampe

a) Ganz guter Artikel zum Kommunikationskampf zwischen Lindner und der Letzten Generation.

b) Die Forschung zeigt, dass Autos für den Einzelhandel bei weitem nicht so wichtig sind, wie das in der Debatte propagiert wird.

c) Momentaufnahme einer Machtverschiebung bezüglich ChatGTP.

d) Die Verbotspartei ist wieder dran.

e) Solare Luftschiffe sehe ich auch als Zukunft des Reisens, aber da ist echt noch long way to go.

f) Ganz interessantes Interview zu den globalen Disparitäten.

g) Ich finde dieses Getue wegen familiärer Beziehungen in den Ministerien nur albern. Egal bei welcher Partei.

h) Sehr guter Artikel zu Robert Habeck, in Ergänzung zum letzten Vermischten. Die BILD-Kampagne läuft indessen weiter. Auch die Welt kann das gut.

i) Mal wieder was zu den Benin-Bronzen.

j) Keine bösen Überraschungen.

k) Es ist so ermüdend. Siehe dazu auch: Deutsche Normalität.

l) Elon Musk jetzt auf der Antisemitismusschiene. Dazu der Kotau vor autoritären Regimen. Champion der Meinungsfreiheit, my ass.

m) Durch Progressiv-Twitter lief gerade die Meldung, dass Strom seit dem Atomausstieg billiger, nicht teurer wurde, und mich ermüden solche Zahlenspielereien wahnsinnig. Strom wird im Frühsommer billiger als im Sommer? Potzblitz! Mal davon abgesehen, dass zwei Monate nach einem Event die Aussagekraft aller solcher Zahlen ohnehin gleich null ist. Und davon abgesehen: es ging nur noch um, was, drei müde Meiler? Natürlich ändert das nichts mehr.

n) Ich fühle mich in meiner Kritik an der Kommunikation der Grünen bestätigt.

o) Das Realignment in den USA ist echt krass.

p) Die Ostdeutschen sind teils echt einfach nur lost.

q) Doppelstandards.

r) Frank Schäfflers Realitätsverlust ist auch beeindruckend.

s) Die NYT hat eine großartige Reportage zu Erben und Ungleichheit.

t) Die intellektuelle Verwahrlosung der Libertären.

u) Die FAZ hat einen Bericht über eine Historiker*innentagung zum Thema 1923.

v) Guter Thread von Jonas Schaible zum Thema Lobbyismus.

w) Oh hey, noch ein Postenvergabeskandal in einem Ministerium der die Springerpresse nicht interessiert.

x) Noch ein guter Artikel zu der Misere der Grünen. Typisches progressives Problem, haben auch die Democrats. Richtig machen können sie es eh nicht.

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