Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags am Donnerstag endete im Chaos, als die AfD ihre Macht demonstrierte und das demokratische System herausforderte. Jürgen Treutler, der Alterspräsident der AfD, zeigte sich respektlos gegenüber den demokratischen Gepflogenheiten und verwehrte anderen Abgeordneten das Wort. Die AfD, die bei der Wahl mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke die stärkste Kraft wurde, nutzte die Gelegenheit, um Zweifel an der parlamentarischen Demokratie zu säen. Die Sitzung wurde viermal unterbrochen, und CDU-Abgeordneter Andreas Bühl warf Treutler vor, eine "Machtergreifung" zu versuchen. Die AfD attackierte die parlamentarische Demokratie mit einer Strategie, die sie seit Jahren verfolgt. Sie greift Institutionen und Parlamente aggressiv an, um ihre autoritären Ziele zu verfolgen. Diese destruktive Haltung war im Thüringer Landtag deutlich zu sehen, wo die AfD ihre Position nutzte, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu behindern. Besonders problematisch ist, dass eine Änderung der Geschäftsordnung, die die Vorschlagsrechte für den Landtagspräsidenten auch anderen Parteien gegeben hätte, von der CDU nicht unterstützt wurde. Diese Entscheidung machte es möglich, dass die AfD allein das Vorschlagsrecht hat. Die AfD verfolgt eine Taktik der Hetze gegen das "polit-mediale Establishment" und nutzt jede Gelegenheit, um Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichte und Institutionen zu säen. Wenn die AfD vor dem Verfassungsgericht unterliegt, wird sie dies als Beweis dafür nutzen, dass die Demokratie in Deutschland nicht funktioniert. Diese rechtsextreme Erzählung verfängt bei vielen Anhängern der AfD und stärkt deren Überzeugung, im Widerstand gegen das "System" zu kämpfen. Die AfD hat zudem angekündigt, ihre neu gewonnene Macht in Thüringen und Brandenburg weiter auszunutzen. In Erfurt wurde bereits deutlich, wie aggressiv-kämpferisch die AfD vorgeht, um demokratische Verfahren zu untergraben. Angesichts dieser Entwicklungen sollten die anderen Parteien in Erwägung ziehen, Verfassungsänderungen durchzusetzen und ein Verbot der AfD ernsthaft prüfen, um die Demokratie vor weiterem Schaden zu schützen. (Ann-Katrin Müller, Spiegel)
In der Debatte um einen Anlauf für ein AfD-Verbot scheinen mir zwei Dinge durcheinander zu gehen. Einerseits hat die politische Situation sich durch die Landtagswahlen im Osten und vor allem das Auftreten der AfD im Thüringer Landtag gewandelt. Der Möglichkeitsraum ist erweitert, das Overton-Fenster hat sich verschoben: es ist mittlerweile für viel mehr Akteure bis hinein in die CDU denkbar, ein AfD-Verbotsverfahren anzustreben (wenngleich ich immer noch nicht das Gefühl habe, dass es eine Mehrheitsposition ist). Aber die juristische Situation hat sich kein Jota geändert und kann sich auch nicht geändert haben; die Gesetzeslage ist schließlich von politischen Stimmungen unabhängig. Ein Verbotsverfahren braucht beides; den politischen Willen und die richtige politische Umgebung, aber andererseits eben auch eine juristische Grundlage. Und die sehe ich aktuell überhaupt nicht. Ich verweise dafür auch nochmal auf meinen Podcast mit Horst Meier.
2) How Congress Gets Its Groove Back
In dem Artikel wird die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA und deren Auswirkungen auf den Gesetzgebungsprozess des Kongresses diskutiert. Die Entscheidung im Fall Loper Bright Enterprises, Inc. hob die bisherige "Chevron-Doktrin" auf, die es Bundesbehörden ermöglichte, unklare Gesetze im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu interpretieren. Nun wird diese Befugnis stärker auf die Gerichte übertragen, was die Macht der Behörden einschränkt und den Gesetzgeber zwingt, präzisere Gesetze zu verfassen. Die Aufhebung der "Chevron-Doktrin" stellt den Kongress vor neue Herausforderungen, da er nun mehr Verantwortung übernehmen muss, um klare und detaillierte Gesetze zu verfassen. Dies könnte jedoch problematisch sein, da der Kongress in den letzten Jahrzehnten seine Ressourcen und Fachkräfte reduziert hat. Der Artikel beschreibt, wie durch die Kürzungen von Newt Gingrich in den 1990er Jahren das Wissen und die Unterstützung in den Ausschüssen und Behörden stark abgenommen haben. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass es Ansätze gibt, die Kapazitäten des Kongresses wieder zu stärken. Reformen, wie eine stärkere Unterstützung durch externe Berater und Organisationen sowie der Aufbau neuer Agenturen, könnten dabei helfen, den Gesetzgebungsprozess effektiver zu gestalten. Der Artikel argumentiert, dass der Kongress sich reformieren muss, um seine Rolle als primärer Gesetzgeber zu verteidigen, anstatt Entscheidungen der Gerichte zu überlassen. (David Dayen, American Prospect)
Ich empfehle Dayens Artikel unbedingt zur kompletten Lektüre (oder zum Anhören, es gibt eine 40-Minuten-Audio-Version). Er ist sehr instruktiv und detailliert. Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ist ein Thema, auf das ich immer wieder zurückkomme. Unser Bundestag etwa ist ein Arbeitsparlament und funktioniert was das angeht verhältnismäßig gut: unsere Abgeordneten arbeiten tatsächlich größtenteils den größten Teil ihrer Zeit als Abgeordnete, also in Ausschüssen, Verhandlungen, Bürger*innengesprächen, Ausarbeitungen von Vorlagen, Anhörungen etc. Deswegen finde ich auch die Größe des Parlaments besser vertretbar. Der US-Kongress dagegen ist keines; die Abgeordneten sind vor allem mit Fundraising beschäftigt. Diese Unfähigkeit des Kongresses ist eine bewusste politische Entscheidung der Republicans in den 1990er Jahren, sie zu zerstören. Und der Democrats, sie nicht wiederherzustellen. Die Früchte dieser Dysfunktionalität erntet man inzwischen. Es besteht nicht nur eine Korrelation zwischen den mittlerweile einstelligen (!) Zufriedenheitsraten mit dem Kongress und seiner Dysfunktionalität. Das ist direkt gekoppelt. Egal, was die Leute in Umfragen sagen, niemand mag eine ineffiziente, nicht funktionsfähige Regierung.
3) Global bescheidener auftreten
Der Artikel thematisiert die Unterscheidung zwischen der Idee des Westens und dem realen Westen. Die Idee des Westens ist eng mit Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verbunden, inspiriert von Ereignissen wie der Französischen Revolution, der amerikanischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz. Diese universellen Ideale spiegeln sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wider. Der reale Westen hingegen war oft im Widerspruch zu diesen Idealen: Kolonialismus, Rassismus und imperiale Ausbeutung prägten die Geschichte westlicher Nationen. Beispiele hierfür sind die Sklaverei in den USA, die Kolonialherrschaft Frankreichs und Englands sowie die deutsche Kolonialpolitik in Namibia. Diese Widersprüche haben es Autokratien wie Russland und China ermöglicht, den Westen zu diskreditieren und sich gegen ihn zu stellen. Der Artikel argumentiert, dass es an der Zeit ist, sich von der Arroganz des realen Westens zu lösen und global bescheidener aufzutreten. In einer multipolaren Welt, in der Macht auf viele Akteure verteilt ist, können sture Blockkonfrontationen wie „West gegen den Rest“ nicht bestehen. Europa müsse sich ökonomisch stärken und neue Partnerschaften mit Ländern außerhalb der traditionellen westlichen Hemisphäre suchen, um global bestehen zu können. Nur durch die Überwindung der Gewalt des realen Westens kann die Idee des Westens als universelles Modell überleben. (Jürgen Trittin, taz)
Einmal abgesehen vom geradezu erschreckend seichten Niveau von Trittins Essay, der sich wohl für deliberativ und irgendwie sehr nachdenklich hält aber hauptsächlich irgendwelche Allgemeinplätzchen in der eigenen heißen Luft backt, finde ich auch die wenige Substanz mehr als wirr. "Der Westen" soll sich nicht als "der Westen" verstehen, weil das arrogant ist, sondern seine Werte gegenüber der Außenwelt ohne die eigene Identität vertreten, weil das was genau ändert? Die Vorstellung, dass eine Nation wie China sich signifikant anders verhalten würde, wenn wir verleugnen, wer wir sind (was Trittin ja nicht mal fordert, bei ihm kommt das alles irgendwie im Gewand des üblichen linken schlechten Gewissens daher und tarnt sich in der Sprache des Realismus), ist völlig absurd. Aber das will er ja nicht einmal. Mir scheint auch, dass Trittin überhaupt nicht verstanden hat, was die Bedeutung des Wortes "universal" ist. Wie um Gottes Willen hören wir auf, universelle Werte zu vertreten, um genau diese universellen Werte zu retten und gar zu stärken? Was für ein inkohärenter Unfug. Da haben die Kritiker*innen einer wertebasierten Außenpolitik wenigstens Kohärenz.
Die FDP stand einst vor der Chance, eine moderne, urbane und zukunftsorientierte Wählerschaft zu gewinnen, als sie mit frischem Image und starker Wahlkampagne 2017 den Wiedereinzug in den Bundestag schaffte. Doch trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage verfehlte sie es, in den entscheidenden Politikfeldern – Wirtschafts-, Bildungs- und Umweltpolitik – zu überzeugen. Insbesondere die wachsende Zielgruppe der aufstiegsorientierten, international ausgerichteten Bürger, die liberale Grundwerte mit Erfolgsstreben verbinden, wurde von der Partei enttäuscht. Statt sich auf diese potenzielle Wählerbasis zu konzentrieren, hat die FDP sich zunehmend ideologisch verengt. Sie setzt auf ein überaltertes, konservatives Klientel, das wenig Interesse an zukunftsweisenden Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung und europäischer Zusammenarbeit zeigt. Diese Engführung ihrer politischen Ausrichtung lässt sie zwischen den Grünen, die die modernen Potenziale ansprechen, und der CDU, die den konservativen Raum besetzt, verkümmern. Die FDP hat sich somit auf eine Zielgruppe eingeschränkt, die faktisch nicht existiert: Menschen, die sowohl erzkonservative als auch modern-liberale Werte vereinen. Ihr drohender Rechtsruck könnte ihr endgültiges Ende bedeuten, da sie damit einen Raum betreten würde, der bereits von anderen Parteien besetzt ist. (Frank Stauss)
Ich bin immer sehr vorsichtig, wenn es darum geht, einer Partei Ratschläge zu geben, die ich ohnehin nicht wählen würde. Aber ich bin weiterhin davon überzeugt, dass der Aufstieg der FDP 2017-2021 vor allem mit dieser Modernisierungsrhetorik zusammenhängt. Die Partei hat ein Image von sich aufgebaut, dass offensichtlich attraktiv war, gerade auch für Jungwählende. Und dieses Image hat sie in der Regierung überhaupt nicht umgesetzt. Und dafür hätte es Möglichkeiten gegeben! Dasselbe Problem haben Grüne und SPD natürlich auch. Mein Gott, ist diese Regierung ein Desaster, es ist echt beeindruckend. Mir scheint auch, dass die historische Erfahrung eher gegen einen erfolgreichen Rechtsruck spricht. Zugegeben geht man dafür ein Jahrhundert zurück, aber die Pulverisierung der liberalen Parteien gegen Ende der Weimarer Republik, besonders das Schicksal der DDP, sollte schon mal Gelegenheit für Introspektive sein. Die hat sich damals scharf nach rechts entwickelt und sogar in "Deutsche Staatspartei" umbenannt, nachdem sie mit einer völkischen Organisation zusammengegangen war. Das Wahlergebnis war so Brandenburg-Niveau. Zu den Grünen hab ich ja letzte Woche genug geschrieben.
5) America is becoming less “woke”
Der Artikel beschreibt den Aufstieg und den Rückgang der „Wokeness“ in den USA, insbesondere seit 2015. Während der Begriff ursprünglich verwendet wurde, um ein Bewusstsein für Rassismus zu schaffen, wurde er zunehmend mit Aktivismus gegen jede Form von Diskriminierung assoziiert. Dies erreichte seinen Höhepunkt zwischen 2020 und 2021, insbesondere nach dem Tod von George Floyd und den #MeToo-Protesten. Der Artikel stellt fest, dass Diskussionen und Maßnahmen zu Themen wie „Diversity, Equity, and Inclusion“ (DEI) seitdem in den Medien, im öffentlichen Diskurs, in der Wirtschaft und der Wissenschaft wieder abgenommen haben. Besonders in Unternehmen und Universitäten werden DEI-Initiativen zurückgefahren, teilweise aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen oder aufgrund des gesellschaftlichen Widerstands. Trotz dieses Rückgangs bleibt das allgemeine Bewusstsein für Diskriminierung höher als vor 2015, und der langfristige Trend zur Verbesserung von Rechten für Minderheiten hält an. (The Economist)
Ich halte diesen Take dazu für ziemlich zutreffend: der Modeanteil ist aufgebraucht, aber der Kern ist selbstverständlich geworden. Weder die Auswirkungen der #MeToo-Bewegung noch das Bewusstsein für die Existenz und die Fragestellungen rund um Transmenschen werden wieder weggehen. Das ist ziemlich normal für diese Trends, und das funktioniert auf der anderen Seite ja sehr ähnlich. Auch die aktuelle Aufregung um Migration wird wieder abnehmen, aber der Kern - der neue Konsens, dass man da irgendwie begrenzenderweise was machen muss - wird bestehen bleiben. Ähnlich ist es bei den woken Themen: es wird sich verschieben, was eigentlich als "woke" wahrgenommen wird; der Rest wird normalisiert. Das ist ja schon zigmal passiert. Die Frauenemanzipation in den 1960er Jahren war auch mal eine radikale Speerspitze, heute bekennen sich eigentlich alle dazu. Als MLK und Konsorten für die Rechte der Afroamerikaner*innen protestierten, waren sie eine radikale Speerspitze und wurden von der Mehrheitsgesellschaft harsch abgelehnt. Heute berufen sich selbst amerikanische Rechtsradikale routinemäßig auf King. Von daher kann das nicht überraschen.
Resterampe
a) Echt traurig, wenn die Welt (!) mehr humanitäre Emotionen in der Außenpolitik hat als die Grünen.
b) Realitäten.
c) Doku zum Trad-Wife-Phänomen.
d) Passt zu der Debatte um Emotionen, die wir hier schon öfter hatten.
e) Interview mit Ilko-Sascha Kowalczuk.
f) Die wirtschaftliche Seite des Nahostkonflikts.
g) Blind spot.
h) Muss man auch mal anerkennen: die sind keine Hisbollah-Fans.
i) Die Arroganz ist schon echt krass.
j) Wie ich immer sage, das ist Merz' offene Flanke und Scholz' große Hoffnung.
k) Die unrühmliche Rolle der EZB in der Inflation.
l) Thread zu den Österreichwahlen.
m) Die ausführliche Spiegel-Reportage zum Absturz der Berliner Zeitung ist auch was für sich. Radikale Millionäre mit zu viel Geld, die sich Medienmacht sichern. Immer dieselbe Scheiß-Geschichte.
o) Die neuen EU-Fiskalregeln würgen die Wirtschaft ab. Weckt mich jemand, der das noch nie vorher gehört hat. Immer denselben Fehler nochmal, "this time is different".
p) Unleash the cops, but just for a day.
q) Israel Tries for a Knockout Blow. Sehr amerikanischer Artikel, kein Kompliment.
r) Guter Artikel in der Welt über Orbans Aufstieg.
s) Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Ich sag es immer wieder: diese Selbstradikalisierungen enden immer gleich. Mal sehen wie lange Anna Schneider noch braucht, bis sie bei NIUS ist. Oder Tichys Einblick.
t) Linke und grüne Ideologen verwechseln den erhobenen Zeigefinger mit echter Politik. Ich zitiere den Teaser: "Das christliche Toleranzgebot gilt auch für die Meinungen anderer, sagt unser Gastautor Manfred Lütz. Das gilt gerade in der hitzigen Diskussion um die AfD und ihre Anhänger. Er fordert deshalb: Wir müssen alle mehr Christentum wagen." Merkt ihr selber, oder?
u) Let us hold Donald Trump to normal standards of conduct. Please. Es ist echt krass.
w) Ich glaube eigentlich nicht, dass Jens Spahn so ein Idiot ist, dass er das ernst meint. Warum also sagt er solchen Quatsch?
x) Guter Punkt.
Fertiggestellt am 02.10.2024
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