Alles schiefgegangen – so muss man die deutsche Impfpolitik zusammenfassen. Geringe Testquote, geringe Impfquote, hohe Kosten; es ist ein Desaster, ein historisches Versagen. Im Angesicht dieser Verfehlungen regiert die Bundesregierung von Lockdown zu Lockdown in bester Behördenmanier: die Pandemie wird verwaltet, nicht bekämpft.

Wie kam es dazu? Und wie kann es weitergehen? Ich wage mich daran, Antworten auf diese Fragen zu geben.

Ein historisches Impfchaos

Die EU hat auf ganzer Linie versagt, so muss man es zusammenfassen. Eine monumental unzureichende Impfstrategie, die wir mit viel Geld, weiter andauernden Freiheitseinschränkungen und tausenden vermeidbaren Opfern bezahlen werden. Deutschland und mit uns viele andere europäische Länder, sind von Israel, den USA und Großbritannien meilenweit abgeschlagen. Während Israel den letzten Lockdown nicht mehr verlängert hat und langsam in eine Normalisierung übergeht, sprechen wir in Deutschland über noch härtere Einschränkungen.

All das, während Deutschland eine deutlich niedrigere Inzidenz pro Millionen Einwohnern als Israel hat (Abb. 1). Während Deutschland bei ca. 90 Neuinfektionen pro Millionen Einwohner liegt, befindet sich Israel mit einer Inzidenz von ca. 400 Neuinfektionen pro Millionen Einwohnern deutlich darüber. Der Trend ist in Deutschland leicht steigend, in Israel ist der Trend steigender Neuinfektionen deutlicher abzusehen.

Abb. 1

Würden wir nicht nach absoluten Zahlen gehen, sondern diese in Relation zur Bevölkerung setzen: Deutschland müsste fast wieder bei Normalbetrieb mit einigen regionalen Ausnahmen sein. Einen solchen systematischen Plan sucht man bei der Politik der Bundesregierung allerdings vergeblich. Die Bundesregierung sagt zwar, man arbeite auf eine möglichst niedrige Inzidenz hin um das Contact-Tracing und die Fallisolation wieder zu ermöglichen, aber genau dafür fehlt die Grundlage. Im Sommer wurden Testzentren nicht ausgebaut, Deutschland hat eine vergleichsweise niedrige Testrate, und die Corona-App bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Die Öffnungen in Israel mögen mit der deutlich höheren Impfquote begründet (Abb. 2) werden. Während Israel eine Impfquote von über 90% aufweisen kann, liegt Deutschland bei knapp 7%. Die deutsche und die europäische Politik muss sich also die Frage gefallen lassen, warum man hier so weit hinterherhinkt.

Abb. 2

Die Gründe dafür sind schnell ausgemacht: Der Impfstoff wurde nicht nur zu spät und zu wenig bestellt, zudem geht man es in Deutschland weiterhin gerne gemächlich an und nimmt sich an den Wochenenden frei. Die Impfstatistik zeigt deutliche Einbrüche an den Wochenenden auf (Abb. 3). In Israel derweil ist der Impfstoff sogar bei Ikea verfügbar. In den USA, das man auch strukturell deutlich besser mit Deutschland vergleichen kann, gibt es den Impfstoff in drive-ins.

Abb. 3

Man kann ebenfalls gut erkennen, dass mit Hinzukommen des Impfstoffes von AstraZeneca die absolute Anzahl der verabreichten Impfdosen gestiegen ist. Der Anstieg auf ca. 40.000 verabreichte Impfdosen bleibt allerdings hinter den Erwartungen zurück, zumal gleichzeitig weniger BioNTech-Impfstoff verimpft wurde. Moderna, die vor allem die USA bevorzugt beliefern, bleibt vergleichsweise niedrig. Alles in allem bleibt die deutsche Impfkampagne damit unambitioniert und sieht auch im internationalen Vergleich nicht sonderlich gut aus. Deutschland fing als eines der ersten Länder weltweit mit dem Impfen an, wurde aber sukzessive von vielen Ländern eingeholt. Wie kam es dazu, dass uns so viele Länder so deutlich abgehängt haben?

Impfnationalismus

Die europäische und die deutsche Impfpolitik wurden dadurch gerechtfertigt, dass man keinen Impfnationalismus hervorbringen wollte. An diesem Ziel war so auch wenig auszusetzen: es ging darum, durch eine gemeinsame Beschaffung ein gegenseitiges Überbieten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu verhindern und somit die Preise vergleichsweise niedrig zu halten. Die Praxis lehrte uns, dass dieser Plan allerdings andere Probleme offenbarte.

Die Beschaffung des Impfstoffes wurde vor allem durch nationale Interessen behindert. So wollte Frankreich dem hauseigenen Impfstoffproduzenten Sanofi einen größeren Anteil am Kuchen verschaffen; nach heutigem Wissen ein Fehler. Mehrere osteuropäische Länder wollten unterdessen beim Impfstoff sparen, allen voran Ungarn. Nun ist die Beschaffung und Verteilung eines Impfstoffes während einer Pandemie genau der Ausgabenposten, an dem man nicht sparen sollte. Der vom deutschen Biotechnologieunternehmen BioNTech geforderte Preis von 54 € pro Impfdosis ist, verglichen mit den Gesamtkosten der Corona-Pandemie, lächerlich gering. Bei einem Preis von 100 € pro Dosis müsste Deutschland 8 Mrd. EUR stemmen; das kostet uns der Lockdown jede Woche. Hier wurde an der völlig falschen Stelle gespart - zum Leidtragen aller.

Die europäische Beschaffung, so gut sie gemeint war, ist genau daran gescheitert. Das Gegenteil von gut gemacht ist eben nicht böse oder schlecht gemacht, sondern gut gemeint. Eine Nachricht, die Hoffnung auf Besserung macht: es sieht so aus, als würde sich die Lage in den nächsten Wochen bis Monaten, zumindest auf Angebotsseite, deutlich bessern (Abb. 4). Durch den immensen Profitanreiz haben die Impfstoffhersteller ihre Kapazitäten ausgeweitet und die Produktion hochgefahren. Sicherlich läuft noch nicht alles perfekt; ärmere Länder außerhalb der westlichen Welt müssen noch deutlich länger warten als wir; aber es bessert sich langsam.

Abb. 4

Die Dritte Welle

Es bleibt vorerst bei dieser Hoffnung. Im Angesicht neuer C-19-Mutanten verschlechtern sich die Aussichten auf baldige Wiederherstellung unserer Grundrechte. Es ist dabei nicht von der Hand zu weisen, dass das schleppende Vorankommen der Impfkampagne die Grundrechtseinschränkungen hinauszögert. Es ist besonders ärgerlich, da wir in diesem Kontext über noch weitreichendere Grundrechtseinschränkungen debattieren. Die Verfehlungen aus dem Sommer: zu wenige Tests, nicht-funktionierendes Contact Tracing, marode und nicht-digitalisierte Infrastruktur und eine langsame Verwaltung holen uns nun ein.

Es wird besonders deutlich, wenn wir uns das Vorankommen der Impfkampagne genauer anschauen. Man könnte meinen, dass wir es nicht besonders eilig hätten (Abb. 5). Es ist ein Skandal, dass die Impfzentren an den Wochenenden nicht geöffnet bleiben, “Ruhe und Gemütlichkeit” sind hier die denkbar schlechtesten Ratgeber. In dieser Ausnahmesituation müssen wir aus dem deutschen Behördendenken heraus: Das Ende der Pandemie lässt sich nicht verordnen, es muss erarbeitet werden.

Das Problem wird deutlicher, wenn wir uns die verabreichten Dosen im Vergleich zur erforderlichen Menge anschauen. Das Ziel, bis zum 21.09.21 70% der Bevölkerung zu impfen, rückt in weite Ferne, da wir zum Erreichen dieses Ziels die Impfquote täglich erhöhen müssten. Da unsere Impfkampagne allerdings nur schleppend ins Rollen kommt, steigt die täglich notwendige Impfquote mit jedem Tag, an dem wir nicht kräftig zulegen.

Anfang des Jahres hieß es noch, die Bundesregierung wolle jedem Bürger ein Impfangebot bis zum Ende des zweiten Quartals machen, inzwischen wurde dieses Versprechen auf das Ende des Sommers verlegt. Wir kommen nur schleppend voran und kommen eigentlich auch kaum noch hinterher. Die noch nicht verwendeten Impfdosen werden auch nicht an Freiwillige herausgegeben, der Impfplan wird beispiellos stoisch befolgt, Abweichungen werden nicht zugelassen. Man könnte die Anzahl der Impfungen rapide erhöhen, unterlässt es aber, da zuerst Risikopatienten und Gesundheitspersonal geimpft werden sollen.

An diesem Ziel ist grundsätzlich nichts falsch, allerdings bereitet die stoische Verfolgung der Impfstrategie auch Probleme: Ein Abweichen vom Impfplan, welches das allgemeine Vorankommen der Impfkampagne beschleunigen könnte, steht quasi nicht zu Debatte. Dass Impfdosen lieber auf Vorrat gelagert werden, anstatt diese schnell in die Breite der Bevölkerung zu bringen, ist die größte Schwachstelle dieser Impfstrategie.

Abb. 5

Auch hier meint man es wieder gut, aber es nur gut zu meinen bringt uns nicht weiter. Anstatt den Impfplan stur weiterzuverfolgen, sollte man ihn öffnen und auch Freiwillige zulassen. Die Priorisierung der Risikogruppen und des Gesundheitspersonals ist richtig und sollte nicht verworfen werden, die Impfkampagne sollte allerdings ausgedehnt werden. Warum bekommt nicht jeder ein Impfangebot, wenn er oder sie einen Arzt aufsucht? Abgesehen von logistischen Flaschenhälsen, die sich langsam auflösen, gibt es keinen Grund dagegen.

Eine Ausweitung und Verschnellerung der Impfkampagne; Impfzentren bleiben am Wochenende auf!; hätte nur Vorteile: schnellere wirtschaftliche Erholung und eine Rückkehr in unsere Sozialleben. Neueste Studien aus Israel belegen die Wirksamkeit des mRNA-Impfstoffes von BioNTech. Eine zeitnahe Normalisierung wird nur durch eine möglichst schnelle Immunisierung der Bevölkerung zu einem politischen Imperativ werden, eine zeitnahe Verschnellerung der Impfkampagne muss das Ziel der deutschen Politik sein.

Leben mit Corona

Allerdings bleibt das eigentliche Problem der dritten Welle bestehen: Es ist unklar, wie die vorhandenen Impfstoffe gegen neue Mutanten schützen. Jeder neue Corona-Mutant kann eine neue “dritte Welle” auslösen. Gerade deswegen ist es umso wichtiger, vom Lockdown-Denken wegzukommen. Ein Land kann man nicht von Ministerpräsidentenkonferenz zu Ministerpräsidentenkonferenz, von Lockdown zu Lockdown regieren. Die Bevölkerung wird man nicht nach jedem neuen Anstieg oder nach jeder Entdeckung eines weiteren Mutanten wieder einsperren können. Aus den Verfehlungen des Sommers; geringe Testkapazitäten, kein Contact-Tracing und eine schwerfällige Verwaltung; wird man Lehren ziehen müssen: regionale Steuerung, Kontaktnachverfolgung (!!!) und eine reaktionsfähige Verwaltung müssen die Politik leiten.

Im Angesicht von Corona plädieren derweil einige für mehr staatliche Koordination, auch um die durch die Epidemie entstandenen Verwerfungen wieder zu beheben. Die Regierung stellt eindeutig zur Schau, dass schon die Ausarbeitung und Koordination einer Impfkampagne eine extrem schwere Aufgabe ist. Der Ruf nach mehr staatlicher Aktivität im wirtschaftlichen und privaten Raum erscheint im Angesicht des schlechten Managements der Corona-Krise paradox. Marc René d’Argenson sagte einst: “Um besser zu regieren, täte es not, weniger zu regieren.” Die Bundesregierung sollte sich an diesen Worten ein Beispiel nehmen. Es ist mitnichten der Fall, dass der Staat über zu wenig Macht verfügt um adäquat auf diese Krise zu reagieren: die Einschränkung der Grundrechte auf unbegrenzte Zeit sollte das beweisen.

Dabei muss das erneute, bzw. die Ausweitung bestehender Grundrechtseingriffe die absolute Ausnahme bleiben. Es ist unklar, inwiefern die Verhältnismäßigkeit im derzeitigen Zustand noch gegeben ist. Corona darf aber unter keinen Umständen zum Präzedenzfall für ausufernden Exekutivfetischismus werden. Besonders im Hinblick auf zukünftige Epidemien und Pandemien oder generell große politischen Aufgaben, wie bspw. den Klimawandel, darf Corona nicht zu einem Absinken der Hemmschwelle für Grundrechtseingriffe führen.

Die Regierung wird eine Strategie erarbeiten müssen, damit das Leben mittel- und langfristig wieder stattfinden kann. Wir befinden uns in einem menschenunwürdigen Zustand, der aufgrund der besonderen Lage der Pandemie hingenommen wird. Dieser Zustand kann und darf kein Dauerzustand werden.

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