Dezemberblues

Obwohl vieles dafür gesprochen hat und ich mir fest vorgenommen hatte, meiner inneren Stimme zu vertrauen, musste ich mir eine erneute persönliche Niederlage eingestehen. Es war mir wieder nicht gelungen. Obwohl ich es mir seit Jahren vornehme! Nun muss ich mir dieses Versagen meinerseits, nicht nur eingestehen, nein, ich muss es auch ertragen lernen. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Ich bin ein Nichts! Ein Loser! Ein Hannebambel! Letzteres ist so ziemlich das Schlimmste, was man über sich sagen kann. Damit diskreditiert man sich, in übelster Weise, von sich selbst. Dieses Wort, was aus dem Hessischen entliehen ist, zeigt die ganze Verzweiflung. Wenn man schon zum hessischen Dialekt greifen muss, dann ist die Lage wirklich fatal. Frei übersetzt, beschimpft man sich selbst damit, als Trottel, Depp oder Neudeutsch als Vollpfosten. Damit ist auch zugleich die höchste Stufe der persönlichen Eskalation erklommen. Wer, vor dem Spiegel stehend, sich so selbst tituliert, der sollte auch die entsprechende Konsequenz daraus ziehen. Doch nur wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, sich selbst die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wenn auch über den Umweg eines Spiegels. Anders ist es auch kaum möglich. Anderen etwas Unerfreuliches in die Fresse zu rotzen, ist bei weitem einfacher und es entbehrt auch nicht einer gewissen Freude, am Formulieren kleiner Beleidigungen und es ist zudem bedeutend einfacher. Verzeihen Sie bitte diese derbe Sprache, meinen kurzen Abstecher ins absolut Vulgäre!
Doch manchmal rebelliere ich gerne gegen meine untadelige Erziehung an. Oftmals ist es auch vollkommen gerechtfertigt.
Da mache ich aus meinem Herzen keine Mördergrube, wie es der Volksmund so schön poetisch ausdrückt. So oder so ähnlich ist meine derzeitige Gefühlslage. Der Dezemberblues hat mich fest im Griff. Eigentlich ist es ja das Vorrecht des November, doch aufgrund der unschönen Entwicklung durch die weltweite Klimakatastrophe, hat sich alles nach hinten verlagert. Der November war auch in diesem Jahr witterungsmäßig völlig ungeeignet, seinen Blues zu entfalten. Da kommt bei mir die Stimmungslage vollkommen durcheinander. Dabei hatte ich mich schon im September darauf gefreut. Aber man kann sich eben auf nichts mehr verlassen.
Nun ist es eben Dezember geworden und ich bin sehr froh, dass es noch vor dem Neuen Jahr aufgetreten ist. Ein Januarblues käme mir nämlich mehr als ungelegen. Denn da habe ich so viele Termine, dass mir für das Ausleben meiner jährlichen Depression nicht die Zeit bleibt. Und wenn es dann in dem Jahr einen deprimierenden November geben sollte, dann hätte ich ja zweimal den Blues in einem Kalenderjahr!
Das würde meine Psyche derart überfordern, dass eine Kurzschlussreaktion nicht auszuschließen wäre. Dann müsste ich mich im Hochsommer ja bereits darauf vorbereiten und einstellen, damit ich gewappnet bin, wenn sie am Horizont auftaucht. Dann hätte die Sonne aber wenig Freude an mir. Von meiner Umwelt will ich gar nicht erst sprechen! Ich bin nämlich in der Lage einen ganzen Biergarten mit meiner Laune anzustecken. Und ich möchte nicht schuld an einem kollektiven Biergartensuizid schuld sein. So etwas wirkt sich schließlich auf meinen Leumund aus. Im November bin ich dann weniger eine Gefahr für meine Mitmenschen. Da verlasse ich meine Wohnung nur sehr selten und wenn, dann nur mit Sonnenbrille, um die Schlange an der Supermarktkasse vor meiner Stimmung zu schützen. Ich würde zwar wahrscheinlich wegen Unberechenbarkeit vor Gericht freigesprochen, aber ein fader Beigeschmack kann dann doch zurückbleiben. Denn eigentlich möchte ich mit meiner Depression andere nicht behelligen.
Sollen sie sich doch ihre Eigene anschaffen. Meine ist nun einmal meine und in der Beziehung ist Geiz geil. Sonst bin ich ja eher großzügig, aber hier geht es um meinen Blues. Ich habe ihn mir ehrlich erworben und bin nicht gewillt zu teilen.
Jeder sei da für sich seines Glückes Schmied!
Ich jedenfalls genieße diese Zeit, eines diesigen nebligem Novembermorgens, aufzuwachen und in einer herrlichen depressiven Grundstimmung den Tag zu verfluchen und mich den Gedanken nach einem spektakulären Suizid hinzugeben. Bisher jedoch nur ein frommer Wunsch, dessen Ausführung genau geplant sein möchte. Ich bin von Hause aus einfach ein Perfektionist und nichts ist mir mehr verhasst, als ein laienhafter Dilettantismus! Es soll schließlich eine einmalige Erfahrung sein, die ich im Leben nicht mehr vergessen werde. Die Krönung meines Daseins!
Ich höre den ganzen Tag Helene Fischer oder Heino, was den Blues erst so richtig zum Blühen bringt. Bei Glühwein und selbstgebackenen Waffeln, male ich mir die herrlichsten Selbstmorde aus und bin jedes Mal hin- und hergerissen, weil ich mich einfach für keine der Alternativen entscheiden kann. Wenn es nicht so endgültig wäre, dann hätte ich längst die ein oder andere Methode schon einmal probeweise versucht. Doch da liegt eben das Dilemma! Und das deprimiert mich dann noch zusätzlich.
Manchmal, wenn ich den Blues so richtig feiern will, dann gehe ich in mein Lieblingscafé und setze mich zu fremden Menschen an den Tisch und deprimiere sie, nur durch meine Anwesenheit. Es ist einfach ein schönes Gefühl, anderen Leuten etwas geben zu können. Geben ist seliger denn nehmen, sagt schon ein häufig zitiertes Buch, was in keinem Hotelzimmer fehlt. Gelesen habe ich es noch nicht, da es, wie ich gehört habe, eine frohe Botschaft verkündet, was meinem Blues sicher nicht guttun würde. So ein hochsensibler  Blues will schließlich gehegt und gepflegt sein, sonst nimmt er Reißaus und ward nicht mehr gesehen. Eine furchtbare Vorstellung!
Was soll ich denn dann den ganzen November über tun?
Damit ich nicht in diese missliche Lage komme, habe ich einen einfachen Trick, der stets funktioniert. Ich lese – und zwar meine Kontoauszüge!
Binnen von Sekunden ist der Blues dann wieder da, meist noch wirkungsvoller als sein Vorgänger. Doch jetzt entschuldigen sie mich bitte. Ich mache heute einen Ausflug. In unserer Nähe gibt es einen Friedwald, wo man naturverbunden unter den Bäumen beigesetzt wird.
Ich möchte nur einmal unverbindlich nachfragen, ob man sich dort auch dazuhängen kann und wie hoch die Kosten sind.
Ich bin ja Selbstversorger und bringe meinen Strick selbstverständlich mit!

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