Die Welt, in welcher wir heute leben, ist nicht nur in und an sich unheimlich komplex geworden, auch die Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen, hat sich entwickelt. Nur noch ein Bruchteil von dem, was wir über die Welt wahrnehmen, geschieht über unsere Sinne, also das, was wir im Alltag sehen und hören, wenn etwas in unserem Dorf oder unserer Stadt vor sich geht, wenn wir einem Geschehnis physisch beiwohnen. Alles Andere nehmen wir nicht direkt über unsere Sinne wahr, sondern als Bilder, Bilder nicht unbedingt im visuellen Sinn, sondern im Sinne der Wahrnehmung, d.h. eine Wiedergabe einer Information, geschrieben, gesprochen, visuell, audiovisuell, etc., welche wir dann anschliessend als solche durch unsere Sinne wahrnehmen. In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel eine Nachricht auf einem Medienportal, ein Foto das jemand uns zusendet oder im Internet hochlädt, eine persönliche Erfahrung die über die sozialen Medien publik gemacht wird, usw., usf..
Während wir gelernt haben, mit den Begrenzungen unserer sinnlichen Wahrnehmung umzugehen (so denken wir z.B. nicht, dass die Erde flach ist, obgleich die augenscheinliche Wahrnehmung darauf hindeutet), so ist es mit der Wahrnehmung bildlich übertragener Informationen nicht ganz so einfach, da wir uns im Grunde darauf verlassen müssen, dass das, was uns unterbreitet wird, auch der Realität entspricht, und nicht eine Verzerrung, Lüge, Bildmanipulation, o.ä. ist. Die technischen Möglichkeiten hierfür sind so ausgereift und unsere Kapazität zur Prüfung so begrenzt, dass wir uns schliesslich in einem einhüllenden Nebel des Zweifels und der Unkenntnis finden, worin die Gewissheit zu einer Erkenntnis, welche wir uns über Jahrhunderte durch Anzweifeln unserer sinnlichen Wahrnehmung und der Entwicklung von Methoden zum Erreichen solcher Erkenntnis angeeignet haben, praktisch auf einen Schlag zu Nichte gemacht wird.
„Das älteste und stärkste Gefühl ist die Angst, die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten“, hat H. P. Lovecraft geschrieben. Es ist diese Angst vor dem Unbekannten, vor diesen neu eingetretenen Zweifel, welche den Menschen dazu treibt, einen Ankerpunkt zu finden, einen Leuchtturm, der ihm den Weg aus diesem Nebel des Unwissens aufzeigen soll. So erklärt sich die plötzliche Hochkonjunktur für alle die, die uns in diesem Nebel vermeintlich Klarheit bieten wollen, indem sie Fakten checken, „fake news“ entlarven und Verschwörungstheorien aufzeigen. Funktionen, die in langen Jahren der Informationsverbreitung niemals nötig waren, obgleich es ebenso möglich gewesen wäre, dass die etablierten Medien Falschheiten verbreiteten. In Abwesenheit einer überwältigenden Masse an Informationen war es kurzerhand dem Individuum überlassen, solche Inhalte selbständig auszusortieren. Als Erich von Däniken 1968 sein bahnbrechendes „Erinnerungen an die Zukunft“ veröffentlichte, wurde er für seine Theorien belächelt, doch man hielt es kaum für notwendig, seine Behauptungen, welche grosse Teile unseres Verständnisses der Geschichte in Frage stellen, systematisch zu widerlegen, und erst recht nicht ihn als eine Gefahr für die Gesellschaft darzustellen. Es ist nicht ein nobles Verantwortungsbewusstsein, welches der Treiber für diese verschiedenen Verkörperungen von „Wahrheitspolizei“ darstellen, sondern einfache marktwirtschaftliche Logik: Angebot und Nachfrage. Auf das Verlangen nach einer Orientierung im Nebel des Unwissens, kommt das Angebot solcher Wahrheitsprüfung. Gäbe es diese Nachfrage nicht, würden auch diese Warner in der Bedeutungslosigkeit untergehen.
Die aggressive Reaktion auf Ansichten oder Behauptungen, die die akzeptierten Auffassungen in Frage stellen, entstammt nicht einer wirklichen Sorge um Gefahren die davon ausgehen könnten, sondern nichts Anderem, als dem Wunsch nach diesem Leuchtturm, welcher einen bequemen Ausweg aus dem Nebel des Unwissens bietet, ohne dass man sich durch diesen Nebel selber hindurch tasten müsste. Die Vorstellung, vor dem grossen Unbekannten zu stehen, ohne einen Vergil der uns über einen sicheren Weg zum Ausgang aus dem Inferno des Unwissens führt, ist für viele zu grauenvoll, um akzeptiert zu werden. Nach Jahrzehnten von relativ unbeschwertem Leben und nie zuvor dagewesenem Wohlstand haben gar zu viele Menschen nicht die Standhaftigkeit, dieses grosse Unbekannte zu konfrontieren. In der Angst, sich im Nebel zu verlieren, begehren sie aufs Ärgste diesen Leuchtturm, und verachten all die, welche mit ihren Fragen, Ideen, Theorien und Informationen den Nebel weiterhin verdichten. Doch das Begehren nach diesem leitenden Licht ist es, welches sowohl Leuchttürme wie auch Irrlichter heraufbeschwört, welche diese Situation ausnutzen und eine falsche Gewissheit bieten, welche willig akzeptiert wird, aber kein wirklicher Ausweg aus der Unkenntnis darstellt, sondern, im Gegenteil, eine weitere Vertiefung in das Konstrukt von Falschheiten.
Es ist letztendlich zwecklos zu erwarten, dass es ein absolutes Geleiten aus der Unkenntnis geben kann, eine göttliche Erleuchtung die auf uns hinab scheint und die Bequemlichkeit bietet, wahrhaftige Erkenntnisse auf einem Silbertablett serviert zu bekommen, ohne die Anstrengung, diese zu erreichen. Der Gedanke ist zwar angsteinflössend, doch schlussendlich ist diese Erde nur von fehlbaren Menschen bevölkert, und nicht von Halbgöttern, Weisen oder Orakeln, welche uns diese Erleuchtung schenken könnten, und selbst Akademiker, Experten oder Studierte, die ohne Zweifel weitreichendes Wissen in sich tragen können, sind nicht frei von den Makeln der Menschlichkeit, von der Fehlbarkeit, dem Irrtum oder der kognitiven Dissonanz.
Der Mensch lebt nun in der Angst, ohne Leuchtturm zu segeln, und sehnt sich nach dem einfachen Ausweg. Doch dieser ist stets nur ein Trugschluss. Schlussendlich kann es nur an jedem selber sein, seine Erkenntnisse in mühsamer Anstrengung selber zu erarbeiten.