Ein paar Gedanken und Anregungen.

„Mein Kind ist in der Trotzphase!“

„Sie / er ist gerade so trotzig!“

Lasst uns bitte nicht mehr von der Trotzphase sprechen. Trotz klingt nach „Ungehorsam“, bewusstem Verhalten, nach viel negativer Wut und Provokation.

Trotz ist von jeher negativ besetzt. Wenn wir als Erwachsene, ganz egal ob als Eltern oder auch als Pädagog:innen aber verstehen, was tatsächlich in einem Kind in dieser Phase passiert, wie wichtig diese Phase in der Entwicklung ist und diese Phase statt Trotzphase „Autonomiephase“ nennen und diese auch als solche verstehen, so können wir unseren Blickwinkel ändern und unsere Kinder viel besser durch diese Phase begleiten.

Ab etwa dem zweiten Lebensjahr (rund um den 18.Lebensmonat herum) entdecken Kinder ihr „Ich“. Sie werden mobiler, unabhängiger, können sich sprachlich immer mehr ausdrücken und sind in der Lage, immer mehr Dinge selbständig auszuprobieren und zu machen.

Fast. So autonom sie sein wollen, so sehr sie sich ausprobieren wollen und dieses Wollen natürlich auch umsetzen möchten, so sehr stoßen sie immer wieder an ihre natürlichen Grenzen. Das Kind möchte die Schuhe unbedingt allein anziehen, aber es klappt noch nicht so recht. Es möchte all die Dinge tun, die wir Erwachsenen doch auch schon allein können und die es so sehnsüchtig auch können möchte.  Aber es will einfach noch nicht so richtig klappen.

Es kann auch noch nicht komplex denken und beispielsweise verstehen, dass ein bestimmtes Spielzeug einem anderen Kind gehört und es das deshalb nicht mit nach Hause nehmen darf. Oder die Süßigkeiten an der Supermarktkasse gekauft und bezahlt werden müssen und das nicht immer gewollt und möglich ist. Oder das Kind möchte sich und ein Bedürfnis oder einen Wunsch ausdrücken, die Erwachsenen verstehen aber nicht, was es möchte und reagieren völlig anders, als das Kind es erwartet und gerade braucht. Das frustriert natürlich ungemein und führt zu dem, was als „Trotz“ benannt wird. Das Kind wird wütend. Es ist trotz immer größer werdendem Wortschatz noch nicht in der Lage, diese Frustration in Worte zu packen. Es schafft es noch nicht, reflektiert mit dieser Frustration umzugehen, ergo weint und tobt es. Irgendwie müssen diese Gefühle eben raus. Es gibt Erwachsene mit einer sehr geringen Frustrationstoleranz, diese Menschen werden bei Frustration ebenfalls sehr schnell wütend. Ein Kind hat aber noch nicht gelernt, mit Frustrationen, Misserfolgen und negativen Gefühlen reflektiert umzugehen. Wenn man also bedenkt, dass es auch Erwachsenen nicht immer gelingt, sachlich mit Frustration umzugehen, ist es fast schon absurd, dies von einem 2-jährigen Kind zu erwarten.

Das Kind wird also nicht trotzig, weil es „ungezogen“ ist. Es wird wütend, weil es den Ehrgeiz hatte, etwas zu erreichen, was am Ende nicht geklappt hat. Es ist überfordert mit der Situation, traurig, vielleicht hilflos und äußert all diese Gefühle, wie es das Alter zulässt: mit Weinen und nicht selten mit einem Wutanfall.

Gut begleitet, wird es diese Situationen im besten Falle immer wieder probieren, bis es irgendwann funktioniert – autonom, ohne Hilfe. Das ist ein sehr großer Meilenstein in der Entwicklung eines Kindes und wir sollten dies absolut positiv bewerten.

Wie können wir unsere Kinder aber nun durch diese Phase samt Wutanfällen begleiten?

  • Fürs Kind da sein. Eine vertrauensvolle, liebevolle Umgebung schaffen und dem Kind signalisieren, dass es immer geliebt, verstanden und begleitet wird, egal wie heftig die Wut ausfallen mag. Dabei aber dennoch ehrlich rückmelden, wenn es einem selbst zu viel wird, allerdings immer in ICH – Botschaften und immer auf die Situation bezogen. Rückmeldung geben, erklären. „Die Situation vorhin war für mich sehr anstrengend“ hat eine ganz andere Bedeutung als „Du Kind bist anstrengend“.
  • Die Situation und die Gefühle benennen. Verständnis zeigen.
    „Ich kann dich gut verstehen“, „Dies (…) würde mich jetzt auch sehr ärgern“, „Das tut mir sehr leid, ich fühle mit dir“
  • Versuchen, mit dem Kind ein Agreement zu finden. „Ich verstehe, dass du jetzt noch weiterspielen möchtest. Wir müssen aber trotzdem nach Hause gehen. Du kannst jetzt noch 2x schaukeln, dann gehen wir nach Hause“. Fairen Deal und etwas, woran das Kind sich orientieren kann, anbieten. „Wir gehen jetzt gleich“ ist für ein Kind oft zu schwammig. Ankündigungen klar und rechtzeitig kommunizieren, so dass sich das Kind darauf einstellen kann. „Wir gehen JETZT“ ohne Chance, das Spiel zu beenden, sich darauf vorzubereiten oder damit auseinanderzusetzen überfordert sehr viele Kinder. Auch wir möchten doch noch gerne das Glas Wein austrinken, wenn der Partner signalisiert, von einer Party nach Hause gehen zu möchten und nicht mit einem „wir gehen jetzt“ aus der Situation gerissen werden.
  • Alternativen finden. „Ich bin auch traurig, dass es heute regnet und wir nicht ins Freibad gehen können. Wir können aber Badeschaum selbst zubereiten und in der Badewanne planschen (einen Kuchen backen, ein Freibadbild malen, was auch immer). Das Kind in die Situation mit einbeziehen. „Lass uns zuhause den Wetterbericht gemeinsam ansehen und überlegen, wann wir stattdessen ins Freibad gehen können“.
  • Realistische Situationen herstellen, die das Kind nicht überfordern und die es im zeitlichen Rahmen schon gut meistern kann. Wenn man es in der Früh eilig hat, sind Schnürschuhe eine echte Herausforderung und sehr unfair, wenn das Kind die Schuhe selbst zu machen möchte. Alternative wären Schuhe mit Klettverschlüssen, die vom Kind selbst bewältigt werden können. Besteht das Kind auf die Schnürschuhe, einen Deal anbieten: du ziehst die Schuhe an, ich binde sie dir aber, denn wir haben es eilig. Am Wochenende kannst du es wieder selbst versuchen.
  • Keine Bitten oder Fragen, wenn eine Ablehnung seitens des Kindes nicht akzeptiert werden kann. „Magst du dir bitte die Schuhe anziehen?“ kann ein ja, ich mag oder ein nein, ich mag nicht zur Antwort haben. Man hat dem Kind eine Frage gestellt und das Kind hat geantwortet. Aufforderungen und Bitten also nur in Frageform stellen, wenn man mit beiden Antworten gut leben kann. Möchte ich als Erwachsener, dass mein Kind beispielsweise im Winter bei minus 10 Grad Schuhe anhat, so muss ich das klar formulieren. „Zieh bitte deine Schuhe an“ ist eine klare Aufforderung und kann so vom Kind auch verstanden werden. Kinder brauchen uns als klare Richtlinien und Kompass und schätzen klare Kommunikation.
  • Kommt man dem Kind in bestimmten Situationen entgegen, so ist es in anderen Situationen oft einfacher, mit dem Kind zu kommunizieren und das Kind „mitzunehmen“. Muss ich zur Arbeit und das Kind in die Kita, habe ich oft keinen Spielraum dafür. Da müssen alle Mitglieder des Systems, also in der Familie, als Team fungieren und leider oft auch funktionieren. Es gibt aber, wenn wir ehrlich sind viele Situationen, da wäre es ohne Probleme möglich, dem Willen und Wunsch des Kindes nach Autonomie nachzugehen. Oma und Opa warten sicher auch noch eine halbe Stunde länger auf den Besuch, wenn es das Enkelkind dafür ganz stolz selbst geschafft hat, die Schuhe anzuziehen. An manchen Tagen muss man nach der Kita schnell nach Hause, da noch viele Aufgaben auf einen warten, an manchen Tagen aber ist es problemlos möglich, 20 Minuten einen Bagger, eine Blume, einen Vogel auf einen Zaun zu beobachten. Heute früh sind meine Bedürfnisse sehr wichtig (Termin auf der Arbeit und keinen Zeitpuffer), am Nachmittag auf dem Nachhauseweg deine.
  • Erlaubt es die Situation, lasst euer Kind sich ausprobieren. Kinder sind geborene Forscher und Entdecker und brauchen (wie wir auch) das Gefühl des Erfolges, um zu wachsen. Bietet nicht gleich Hilfe an. Das beginnt übrigens schon im Babyalter. Ein Baby, das gerade anfängt zu robben, ist unglaublich stolz, ein Spielzeug, das weiter weg liegt, zu erreichen. Über diesen selbst erlangten Erfolg freut es sich viel mehr, als wenn man aus einem Impuls heraushelfen möchte und dem Kind das Spielzeug entgegen reicht.
  • Manchmal sind es nur kleine Stellschrauben, die man drehen kann, wenn man sich die Zeit nimmt, zu hinterfragen. Das Kind weint täglich und bekommt einen Wutanfall, wenn es die Mütze aufsetzen soll?  – Fragt euch, wie wichtig die Mütze tatsächlich ist, also wie kalt ist es; liegt es an Mützen generell, kann man eine Alternative (Basecap, Kapuze etc.) finden, ist es genau diese Mütze, die so nervt, da sie kratzt oder immer ins Gesicht rutscht; möchte das Kind die Mütze selbst aufsetzen und sie nicht einfach aufgestülpt werden und so weiter. Kann man etwas am Ablauf in der Früh ändern, um nicht jeden Morgen Stress zu haben? Kann ich meine Erwartungen herunterschrauben, um die Situation zu entspannen?
  • Kindgerechte Situationen herstellen. Möchte sich das Kind beispielsweise in der Früh selbst anziehen und die Kleidung selbst bestimmen, macht das doch am Abend zuvor und nicht erst in der (hektischen) Früh. Beschränkt die Auswahl auf wenige Outfits und nicht auf den gesamten Kleiderschrank. Kinder sind bei einer zu großen Auswahl oft überfordert (wenn wir ehrlich sind, geht es uns doch selbst oft nicht anders). Beschränkt also in diesem Fall den Rahmen und helft so eurem Kind, eine Auswahl zu treffen.

Das alles ist natürlich nur eine kleine Auswahl.

Worauf ich hinaus möchte: Versucht, die Situationen für das Kind und auch für euch so einfach wie möglich zu halten. Geht mit dem Kind in Kommunikation, nehmt es ernst, nehmt aber auch euch ernst. Bezieht das Kind mit ein. Kommuniziert klar und formuliert eure Bedürfnisse so, dass es das Kind verstehen und kooperieren kann. Versucht, die Beweggründe des Kindes zu verstehen und durch die Frustration / Wut zu begleiten.

Was im Alltag und in der Realität nicht immer möglich und schaffbar ist.  Auch dessen müssen wir uns absolut bewusst sein. Egal, wie tief unsere Kind- und bedürfnisorientierte Haltung in uns verankert ist, es wird Tage und Situationen geben, an denen wir das nicht schaffen und mit uns nicht zufrieden sind. An denen es uns nicht gelungen ist, unser Kind so zu begleiten, wie wir es gerne getan hätten. Wir sind Menschen, keine Lehrbücher. Wichtig in der Begleitung von Kindern ist immer, die eigene Grenze zu kennen und bei sich zu bleiben. Wir gehen als Erwachsene oft darüber hinaus, manchmal bleibt uns nichts anderes übrig. Aber wenn wir diese Grenze benennen können, dem Partner gegenüber, dem Team, wenn man mit Kindern arbeitet und auch den Kindern gegenüber, ist das schon sehr viel wert. Es geht nie darum, perfekt zu sein. Das ist niemand. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um die Grundhaltung. Um die Reflektion, das Verstehen von Verhaltensweisen, egal ob beim Kind oder bei einem selbst. „Mama hatte heute einen schlechten Tag. Ich war unfair zu dir und es tut mir leid, dass ich heute früh so ungehalten mit dir war“. Vermutlich würden wir uns bei unserem Partner / Partnerin / Kollegen / Kollegin entschuldigen. Warum also nicht auch bei unserem Kind? Das ist eine Form von Wertschätzung. Auch Eltern (und auch Pädagog:innen) sind fehlbar, haben schlechte Tage und schlechte Launen und reagieren nicht immer bilderbuchmäßig. Es gibt wieder neue Tage, an denen es besser klappt.

Und irgendwann ist auch die herausforderndste Autonomiephase vorbei. Ganz bestimmt.

Alles Gute. Und gute Nerven. Und viel Schokolade oder was auch immer euch gut tut.

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