Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Warum eine Wehrpflicht für Frauen falsch ist
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) plant, allen 18-jährigen Männern und Frauen in Deutschland einen Fragebogen zu schicken, um deren Interesse und Bereitschaft für den Wehrdienst zu ermitteln. Während Männer verpflichtet sind, den Fragebogen auszufüllen, bleibt dies für Frauen freiwillig. Diese Maßnahme könnte ein erster Schritt zur Wiedereinführung der Wehrpflicht sein, die vor 13 Jahren ausgesetzt wurde. Unionsfraktionsvize Johann Wadephul und andere fordern jedoch eine Gleichstellung der Geschlechter beim Wehrdienst. Pistorius argumentiert, dass eine Wehrpflicht für Frauen eine Grundgesetzänderung erfordern würde, die in der aktuellen Legislaturperiode unrealistisch sei. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), und andere Politiker, wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), unterstützen die Idee einer Wehrpflicht auch für Frauen. Högl betonte, dass es nicht mehr zeitgemäß sei, nur junge Männer in den Blick zu nehmen. Günther nannte eine Wehrpflicht für Frauen in Zeiten der Gleichberechtigung selbstverständlich. Dennoch gibt es Bedenken, Frauen zur Wehrpflicht zu verpflichten, da sie physisch oft unterlegen sind und im Verteidigungsfall möglicherweise nicht gleichberechtigt eingesetzt werden können. Freiwilliger Dienst bleibt eine Option für Frauen, die dies möchten, aber eine Verpflichtung wird als falsch angesehen. Die Diskussion um Gleichberechtigung sollte sich auf Bereiche konzentrieren, in denen diese noch nicht erreicht ist. Frauen sind in vielen Bereichen des Berufs- und Privatlebens benachteiligt: Sie verdienen weniger, sind in Führungsetagen unterrepräsentiert, übernehmen mehr unbezahlte Arbeit und sind häufiger von Altersarmut und häuslicher Gewalt betroffen. Statt einer Wehrpflicht für Frauen könnte der Staat eine Pflichtelternzeit für Väter einführen, um die Gleichberechtigung in der Familienarbeit zu fördern. 14 Monate bezahlte Elternzeit, davon sieben Monate Pflichtelternzeit für Väter, könnte ein Schritt in diese Richtung sein. (Christina Haug, Spiegel)
Ich habe schon im letzten Vermischten angeschnitten, dass ich eine Wehrpflicht nur für Männer für nicht vertretbar halte. Das Argument, dass Frauen ja Kinder bekommen würden, habe ich noch nie für besonders stichhaltig gehalten; nicht, weil Frauen durch Geburten nicht massive Nachteile erleiden würden, sondern weil kein Geburtenzwang besteht (und in einer Demokratie auch nicht bestehen kann, glücklicherweise). Ich finde auch das dahinterstehende Geschlechterbild grotesk veraltet: Männer schießen, Frauen gebähren? Das kann doch nicht der Stand der Debatte 2024 sein.
Haug hat natürlich völlig Recht damit, dass es so etwas wie eine Elternzeitpflicht für Väter bräuchte. Sie meint das natürlich nicht so, sondern will damit nur die Abwegigkeit der Forderung unterstreichen, aber das ist ja genau der Punkt: Frauen erleiden durch Geburt und Familie massive Nachteile. Die gesellschaftliche Aufgabe muss sein, hier für Gleichheit zu sorgen. Ob es dazu eine solche Pflicht braucht sei einmal dahingestellt, aber ja: es darf keine Regelungen geben, die irgendwelche Geschlechterideologien rechtlich betonieren.
2) Die Bundeswiderspruchsministerin
Am Montagnachmittag präsentierte Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in der Bundespressekonferenz den nationalen Bildungsbericht, doch dominierte das Thema der Entlassung ihrer Staatssekretärin Sabine Döring und die damit verbundene Prüfaffäre die Diskussion. Stark-Watzinger betonte, sie habe den umstrittenen Prüfauftrag gegen Lehrende, die einen propalästinensischen Protest unterstützten, weder erteilt noch gewollt. Dennoch bleibt unklar, was Stark-Watzinger über die Prüfungen wusste und ob ihre eigene harte Kritik an den Lehrenden diese auslöste. Sabine Döring, eine Professorin mit Schwerpunkt Ethik, wurde beschuldigt, den Prüfauftrag ohne Wissen der Ministerin erteilt zu haben. Stark-Watzinger distanzierte sich von Dörings Handlungen und betonte, dass sie erst kürzlich von dem Vorgang erfahren habe. Ihre Erklärungen und die Kritik an den Wissenschaftlern in der "Bild"-Zeitung werfen jedoch Fragen auf, die sie bisher nicht zufriedenstellend beantwortet hat. Politisch ist die Situation für Stark-Watzinger und die FDP brisant, da Bildung ein zentrales Thema für die Partei ist. Innerhalb der Ampelkoalition gibt es gemischte Reaktionen: Während die Union Rücktrittsforderungen stellt, zeigen sich SPD und Grüne moderater, verlangen aber dennoch Aufklärung und Gespräche mit den betroffenen Wissenschaftlern. Stark-Watzinger lehnt einen Rücktritt ab und betont, dass sie keinen Anlass dazu sehe. Die Affäre bleibt jedoch ein erheblicher Belastungstest für ihre Amtsführung und das Vertrauensverhältnis zu den Wissenschaftlern. (Deike Diening/Florian Gathmann/Christian Teevs/Severin Weiland, Spiegel)
Ich möchte an der Stelle auf zwei Dinge hinweisen. Erstens, Anne Spiegel ist für weit weniger zurückgetreten. Genauso wie Scholz' dauernd auf niedriger Flamme brennender Wirecard-Skandal oder Wissings Föderungschaos im Ministerium (von Scheuer oder Spahn mal ganz zu schweigen) zeigt sich immer wieder, dass Minister*innen üblicherweise nicht wegen irgendwelcher schlechter Politiken oder Korruption oder so etwas zurück, sondern wegen persönlicher Verfehlungen (es sei denn, die Korruption ist eindeutig personalisierbar wie seinerzeit Özdemirs Bonusmeilen). Auffällig ist, dass Rücktritte üblicherweise wegen Kleinscheiß passiern, nicht wegen der größeren Sachen. Die sind schwerer zu durchschauen und auf ein verständliches Level zu bringen. Ähnliches wird auch Starck-Watzinger helfen: das Thema ist sehr abstrakt. Ihr nicht eben sonderlich ehrenwerter oder glaubwürdiger Versuch eines Bauernopfers mag daher funktionieren.
Auf der anderen Seite belegt der Skandal einmal mehr, was ich schon lange sage: Cancel Culture ist nichts Neues, sondern nur ein neuer Name, und es wird von allen Seiten und immer gemacht. Das Canceln von ungenehmen Meinungen findet immer irgendwelche Begründungen, wenn es die eigene Seite tut, und ist immer verwerflich, wenn es die Gegenseitee macht. Nirgendwo wird das aktuell so deutlich wie bei der Gazakriegsdebatte. Hier entdecken gerade zahllose konservative Krieger der Meinungsfreiheit, dass es eben doch Meinungen gibt, die man verbieten und unterdrücken sollte.
3) Horror – Das (in Deutschland) unterschätzte Genre
In Deutschland wird das Horrorgenre in Buchhandlungen und Mediatheken stark vernachlässigt, während Krimis dominieren. Die deutsche Literatur bevorzugt etablierte Krimi-Formate und zeigt wenig Interesse an anderen Genres. Im Gegensatz dazu bieten die USA eine breite Vielfalt an Genres und Subgenres, was auf einen größeren Buchmarkt und höhere Aufgeschlossenheit zurückzuführen ist. Horror ist in deutschen Buchhandlungen kaum zu finden und wird von großen Verlagen ignoriert. Nur wenige Kleinverlage wie Festa und Buchheim widmen sich diesem Genre. Stephen Graham Jones ist eine der wenigen Ausnahmen, deren Werke ins Deutsche übersetzt wurden. Er kombiniert traditionelle Slasher-Elemente mit Themen wie Leben im Reservat und Rassismus. Tananarive Due thematisiert in ihren Romanen Rassismus und Sklaverei und verbindet diese mit packenden Geschichten. Die Anthologienreihe "World Horror Stories" von Valancourt Books zeigt, dass Horror weltweit präsent ist und neue Perspektiven ins Genre einbringt. Das Horrorgenre bietet somit spannende Möglichkeiten, sich literarischen Geistern zu stellen und die Vielfalt der Literatur zu entdecken. (Gerrit Wustmann, 54books)
Ich bin ja absolut kein Horrorfan; es gibt nur wenige Genres, mit denen ich weniger anfangen kann (ich hab viel zu viel Angst). Aber der allgemeine Punkt aus diesem Artikel interessiert mich grundsätzlich: die Genre-Armut in Deutschland. Denn das betrifft ja nicht nur Romane, wo der Krimi (gerne mit regionalem Einschlag) unangefochten herrscht. Auch im Fernsehen sind wir ja eine "Tatort"-Nation (ein Ritual, das ich absolut nicht nachvollziehen kann, aber jedem das seine). Kein Wunder, dass international so wenig deutsche Werke relevant sind. Mir fiele noch als besonders wenig vertretenes Genre die Science Fiction ein, da haben Deutsche irgendwie auch eine Aversion dagegen. Fantasy haben wir bellitristisch viel, während im Fernsehen hier auch gar nichts geht. Ich glaube, das liegt auch viel an den Öffentlich-Rechtlichen und dem System der Filmförderung, das extrem inzestuös unterwegs ist und ständig den gleichen Mist produziert, vor allem Krimis und Historienschmonzetten.
4) 35 ausländische »Gefährder« seit 2021 abgeschoben
Laut BKA sind in Deutschland etwa 500 islamistische »Gefährder« bekannt, einige in Haft, andere im Ausland. Von den 129 ausländischen »Gefährdern« ohne deutschen Pass, die sich derzeit in Deutschland aufhalten, wurden seit 2021 nur 35 abgeschoben. Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach einem tödlichen Angriff in Mannheim die Abschiebung von Schwerstkriminellen und »Gefährdern« nach Afghanistan und Syrien in Aussicht gestellt. Das Innenministerium prüft, ob diese Abschiebungen über Nachbarstaaten möglich sind. Gefährder sind Personen, denen die Polizei schwere politisch motivierte Straftaten oder Terroranschläge zutraut. Von den 146 in der Arbeitsgruppe »Status« bekannten Gefährdern sind 60 aus Syrien, 13 aus dem Irak und zwölf aus Tadschikistan. Von diesen 146 leben 129 mutmaßlich in Deutschland, wobei 39 einen asylrechtlichen Schutzstatus haben, 30 nicht abgeschoben werden können und bei 22 der Asylantrag abgelehnt oder widerrufen wurde. Sahra Wagenknecht kritisierte Scholz als »Vielredner und Wenigtuer« und forderte konsequentere Abschiebungen. Auch der AfD-Abgeordnete Leif-Erik Holm unterstützte dies. Laut Justizministerium waren Ende März 2023 insgesamt 24.259 Nichtdeutsche in deutschen Haftanstalten. (Spiegel)
Die populistische Forderung nach "massenhafter", "schonungsloser" oder "im großen Stil" vorgenommener Abschiebung trifft immer wieder hart auf die Realität des liberalen Rechtsstaats einerseits (man kann nur das eine oder das andere haben) und die Tatsache, dass zum Abschieben zwei gehören (jemand muss die Leute ja auch aufnehmen) andererseits. Man sieht das gut am hier in der Welt beschriebenen Positivbeispiel BaWü: selbst hier sind die absoluten Zahlen sehr überschaubar. Mir scheint das vor allem ein Talking Point zu sein, weil es einfach keine Möglichkeit gibt, den markigen Worten Taten folgen zu lassen. Und mir ist unklar, inwieweit es hilfreich sein soll, ständig unerfüllbare Forderungen rauszuhauen. Gleichzeitig muss man aber etwas gegen "Gefährder" machen - dieses Dilemma tut aktuell nichts, als ständig staatliche Handlungsunfähigkeit zu demonstrieren. Zu diesem Thema gibt es in der Financial Times auch diese großartige Kolumne von Stephen Bush.
5) Europe must prepare for five years of radical change
Der Artikel hebt drei Hauptthemen hervor, die die europäische Agenda in den nächsten fünf Jahren dominieren werden: die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, die Konsolidierung der europäischen Verteidigungsindustrie und die Erweiterung der EU.
- Wettbewerbsfähigkeit steigern: Europa muss angesichts der aggressiven Industriepolitik Chinas und des US-Inflation Reduction Act schnell aufholen. Eine europäische Strategie sollte auf drei Säulen basieren: Vollendung des Binnenenergiemarktes, Schutz des europäischen Marktes und verstärkte Investitionen in Infrastruktur und Forschung und Entwicklung (F&E).
- Europäische Verteidigungsindustrie reorganisieren: Die EU muss ihre Produktionskapazitäten für militärische Ausrüstung erweitern, um besser auf Bedrohungen reagieren zu können. Dies erfordert eine koordinierte Zusammenarbeit der Unternehmen in der EU, um die Armeen effizient auszurüsten.
- Erweiterung der EU: Um zukünftige Erweiterungen erfolgreich zu gestalten, sind Reformen notwendig. Dies betrifft insbesondere das EU-Budget und die Governance. Die Erfahrungen des Vereinigten Königreichs seit dem Brexit zeigen die Bedeutung harmonisierter Handelsregeln für die EU-Wirtschaft.
Zusätzlich wird betont, dass die EU ein größeres Budget benötigt, um ambitionierte Ziele zu erreichen. Mögliche Finanzierungsquellen umfassen private Finanzierung, öffentlich-private Partnerschaften und die Erhöhung der Eigenmittel der Union, etwa durch eine Digitalsteuer oder Zölle. (Laurence Boom, Financial Times)
Wie so häufig teile ich hier die Botschaft völlig, allein, ich sehe keine politische Realisierbarkeit. Selbst unter besseren politischen Umständen - nehmen wir die 2000er oder 2010er Jahre - als Europa noch weitgehend von zweifelsfrei demokratischen Parteien regiert wurde, brachte keine Einigkeit oder Handlungsfähigkeit auf diesen Gebieten (man denke an das Drama der Vertragsreformen in den 2000er Jahren). Wie mit einer Georgia Meloni oder möglicherweise bald Marine Le Pen irgendetwas davon auch nur in den bescheidenen Strukturen, die aktuell durch die EU gedrückt werden, möglich sein soll, ist mir völlig schleierhaft. Die besten Aussichten hat hier doch die Vollendung des Binnenmarkts und der Schutz des europäischen Markts, weil beides innerhalb der institutionellen Logik der EU liegt. Aber Förderung von R&D? Ein eigenes Budget mit eigenen Mitteln? In zwanzig kalten Wintern nicht.
Resterampe
a) Gute Nachrichten vom Wirtschaftsstandort Deutschland.
b) Thou shalt display the Protestant version of the Ten Commandments — if you’re a school in Louisiana.
c) Genocide and the floating pier. So wahr.
d) The life of Maynard K. Sehr lesenswert.
e) Bob Blume hat einen schönen Artikel zu kreativen Arbeiten als alternative Prüfungsform mit Beispielen und Vorlagen.
f) Bei der Verkehrspolitik hat sich dieses Land echt nicht alle.
g) Nils Minkmar hat einen schönen Artikel zur Lage in Frankreich.
h) Betrugsmasche mit Klimazertifikaten.
i) Yes.
Fertiggestellt am 20.06.2024
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