Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) The Putative Defenders of Liberal Education Are Destroying It

But the right-wing approach to liberal education and the Western tradition is as skewed as the notion among some academics that teaching the classics is tantamount to promoting white supremacy and European domination. In the presumption that the Western canon represents a single perspective, and in other surprising ways, elements of the radical right and the radical left seem to agree. And they are wrong. Only a censored and denatured liberal-arts curriculum can be employed in the service of ideological conformity. In the same way that liberal education does not have specific vocational and professional goals in view, it must also not have predetermined ideological or theological end points. To the extent that it is political, it is so because it cultivates self-determination, freedom of opinion, and personal agency. [...] That canon should be understood not as an inherited fixture but as a process requiring continuous revision and examination. Liberal education, like all other formal education, requires a degree of restriction. Selecting a canon should be the province of neither politicians nor corporations, but of faculty on the ground who are passionate about and dedicated to educating the next generation of citizens. [...] At the high-school level, rigid testing regimes promulgated by vendors like the College Board and the erosion of teacher autonomy disincentivize liberal intellectual habits such as questioning received wisdom, skepticism of authority, and creative exploration. (Annie Abrams, The Atlantic)

Ich stimme Abrams voll zu. Sowohl die radikallinke Idee einer einzigen Lesart der Geisteswissenschaften als auch die Idee einer "unpolitischen" Basisversion sind Unfug. Wir haben ad nauseam die Exzesse der woken Linken durchdiskutiert, und die Kritik hat durchaus ihre Berechtigung. Was demgegenüber etwas zu kurz kommt ist die konservative Vorstellung, dass es eine "reine", "objektive" Form der Geschichte (oder anderer Geisteswissenschaften) gäbe. Die progressive Kritik daran - dass die Mehrheitsmeinung letztlich auch die objektive Wahrheit sei und nicht nur eine Abbild herrschender Machtverhältnisse, Normen und Vorstellungen - ist ja ebenso korrekt. Abrams' Punkt, dass einen fixen Kanon vorzugeben eine (haha) fixe Idee ist, unterstütze ich ebenfalls nachdrücklich. Gerade hier könnte ein fruchtbarer Wettbewerb der Ideen entstehen, mit eigenen Schwerpunktsetzungen nach den Spezialkenntnissen und Vorlieben.

2) Das Leben ist eine Baustelle

Insofern ist die Aussage von Olaf Scholz nicht unkorrekt, die Investitionen in den Klimaschutz könnten das Wachstum erhöhen und Arbeitslosigkeit werde in den kommenden Jahren wahrscheinlich kein großes gesellschaftliches Problem mehr sein. Man kann anderer Meinung sein, aber man kann sie nicht so einfach wissenschaftlich widerlegen. Meinungen sind keine Fakten. Was sich aber mit ziemlicher Sicherheit sagen lässt: Das neue Wirtschaftswunder wird sich anders anfühlen als das alte.  [...] Wie nach dem Krieg wird es also in Deutschland genug zu tun und damit wahrscheinlich auch genug Arbeit für alle geben. Aber ein großer Teil dieser Arbeit wird dafür aufgewendet werden müssen, das Land nach dem Stillstand der vergangenen Jahrzehnte fit zu machen für eine klimaneutrale Zukunft. Es geht jetzt erst einmal darum, den Wohlstand zu erneuern, wie es Wirtschaftsminister Robert Habeck formuliert hat. Nicht unbedingt darum, ihn zu vermehren. Jedenfalls nicht auf einer gesamtwirtschaftlichen Ebene (eine gerechte Verteilung der Lasten zum Beispiel durch steuerpolitische Maßnahmen ist natürlich weiterhin möglich). Man kann es auch so sagen: Wir arbeiten jetzt, damit unsere Kinder einmal in einem Land leben, in dem die Bahn pünktlich kommt und noch genug Strom aus der Steckdose. (Mark Schieritz, ZEIT)

Den Gedanken halte ich für durchaus relevant. Das Potenzial für Wirtschaftswachstum sehe ich auch, und ich denke, Schieritz liegt auch richtig darin, dass er von investitions- statt konsumgetriebenem Wachstum spricht. Was mich aber mehr als verwundert ist die Vorstellung, dass das beim "letzten Wirtschaftswunder" anders gewesen sei. Gerade die 1950er und früheren 1960er Jahre waren massiv von Verzicht zugunsten des "später", vom Gedanken an dem "wir arbeiten, damit unsere Kinder es besser haben", geprägt. Gerade mit dieser Zeit würde der Vergleich deswegen tragen.

3) Fünf Ideen für eine bessere Bundeswehr

Die Diskussionen um mögliche Verbesserungen für die Bundeswehr kreisen seit Jahren immer wieder um ähnliche Fragen: Braucht es nur viel mehr Geld und alles wird gut? Muss der legendäre Planungsstab im Verteidigungsministerium wieder her? Erlebt die Wehrpflicht doch noch ein Comeback? Soll das Beschaffungsamt weg oder braucht es radikale ​‚Wunderheiler‘ von außen? Könnten die Inspekteure zurück ins Ministerium gehen oder gibt man besser viel mehr Verantwortung raus aus dem Ministerium zur Truppe? Braucht es doch noch einmal langwierige Fachkommissionen und akribische Bestandsaufnahmen? Seit der ​„Zeitenwende“ verging nun bereits mehr als ein Jahr. Hier sind fünf Ideen für eine bessere Bundeswehr: [...] Mehr militärisch üben und sich weniger selbst verwalten. Mehr Truppe und weniger Stäbe. Mehr konkrete Ergebnisse, statt sich den eigenen komplizierten Prozessen unterwerfen. Mehr ungeschminkte Ehrlichkeit statt abgeschliffener, vorgeübter Vorträge. Mehr Übernahme persönlicher Verantwortung statt ​„melden macht frei“ – das ist die Richtung für eine bessere Bundeswehr. Mehr als ein Jahr nach der äußeren Zeitenwende sind wir damit spät dran. In der Bundeswehr, in Ministerium und Truppe ist das Potenzial für eine innere Zeitenwende jedoch sehr groß. Was jetzt zählt: Dieses Potenzial endlich freisetzen und nutzen. (Nico Lange, 49Security)

Je mehr ich über die Probleme der Bundeswehr lese, desto mehr ist es mein Gefühl, dass diese eine Art Mikrokosmos dessen abbilden, was in Deutschland strukturell problematisch ist: zu wenig Verantwortlichkeit, zu überbürokratisiert an den falschen Stellen, zu großer Fokus auf der Darstellung und zu wenig auf der Substanz und damit einhergehend  eine Fehlallokation an Mitteln. Denn die Bundeswehr hat ja den größten Wehretat Europas, trotz allem. Die Franzosen geben in etwa so viel Geld aus wie wir, und deren Militär ist wesentlich funktionaler UND die leisten sich die nicht eben billige force de frappe. Da ist einfach systemisch irgendwas im Ungleichgewicht.

Gleichzeitig hat die Bundeswehr dasselbe Problem wie alle anderen Bereiche auch: das zu reformieren ist harte Kärnerarbeit. Das ist nichts, das sich mit einer Agenda2010 lösen ließe, also einem großen Reformwerk, das das bestehende System über den Haufen schmeißt und ein neues schafft, weil es um eine Myriade kleiner Baustellen und Verwaltungsstrukturen geht. Und wenn Verwaltungsstrukturen in etwas gut sind, ob in öffentlichen Institutionen oder in Unternehmen, dann darin, nicht genehme Veränderungen zu blockieren.

4) Schrei nach Tempolimit

Man kann dieses Verbrenner-Hintertürchen realistisch nennen, doch ist in den Reihen der FDP gleichfalls eine beunruhigende Tendenz zum messianischen Denken erkennbar. Es richtet sich mit großem Optimismus auf einen synthetischen Kraftstoff von geringer Energieeffizienz, der, wenn alles gut geht, in Chile oder anderswo wegen geringer Stromkosten grün und etwa so günstig wie deutscher Sprit erzeugt werden könnte. Doch ist der Idee von diesem Wunderstoff entgegenzuhalten, dass, würde man das wesentlich energieeffizientere Elektroauto mit ebenfalls besonders günstigem Strom, zum Beispiel aus Nordafrika, versorgen – der Abstand zu den E-Fuels wieder hergestellt wäre. [...] Doch der Minister, der die Zahlen schon vorab kannte, sprach und handelte weiter, als ob es das Klimaschutzgesetz nicht gäbe, als ob das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2021 die Politik nicht darauf verpflichtet hätte, durch einen konsequenten Klimaschutz die Lebensqualität auch der kommenden Generationen zu sichern. [...] Die FDP geriert sich als konsequente Sparpartei – Sparsamkeit und Haushaltsdisziplin müssen aber auch für das CO2-Kontingent gelten. Mit der Tempofreiheit aber lebt Deutschland deutlich über seinen Verhältnissen. [...] Verabschiedet man sich beim Auto von der zwanghaften Fixierung auf den Individualverkehr, steigt man konsequent ein in den Sozialverkehr, benötigt man wesentlich weniger Fahrzeuge auf den Straßen, ein weiterer Ausbau wäre überflüssig. Der Güterverkehr allerdings bleibt die klimatechnische Achillesferse einer wohlhabenden Industrienation wie Deutschland. [...] Die Verkehrsdiskussion muss nach der miserablen Treibhausgasbilanz von Volker Wissings Sektor viel offener, komplexer und radikaler in Bezug auf die möglichen Konsequenzen geführt werden. Die Strategie der FDP, Besitzstände möglichst nicht anzurühren und lieber an den Wunderkraftstoff zu glauben, der alle Probleme der Verkehrspolitik auf einmal löst, ist zu riskant und daher unsolidarisch gegenüber kommenden Generationen. Mit Technologiefreiheit ist es nicht getan. Die neuen Zahlen des Umweltbundesamtes zeigen, dass am strikten Energiesparen kein Weg vorbeiführt. Unterdessen sind in der FDP die ersten Stimmen laut geworden, die einen flexibleren Umgang mit den Vorgaben des Klimaschutzgesetzes fordern. (Uwe Ebbinghaus, FAZ)

Ich sage es immer wieder: Wir brauchen mehr Realismus im Klimaschutz. Aktuell ist das einfach Traumtänzerei. Leute inszenieren sich als Pragmatiker*innen, indem sie sich hinstellen und darauf verweisen, dass Pläne, die irgendwann 2035 oder danach greifen sollen, negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben werden. Natürlich werden sie das. Aber wir haben keine Wahl. Die Klimakrise wird uns diese Veränderungen aufzwingen, weil ihr die innenpolitischen Zwänge der FDP genauso egal sind wie die Kohle-Nostalgie der SPD oder die Parteispenden durch die Autoindustrie für die CDU.

Was das Thema angeht: ich halte die Fixierung auf den Invidiualverkehr im Kern für richtig, aber der Sektor ist trotzdem eigentlich nicht die Hauptbaustelle. Davon abgesehen sind viele Einwände - Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur etc., etwa - zwar richtig. Aber was mich fuchsig macht ist, dass die als Legitimation für Nichtstun genommen werden (genauso wie die befürchteten wirtschaftlichen Verwerfungen), anstatt anzufangen. Wenn Wissing korrekt feststellt, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur gerade nicht mit den Notwendigkeiten für das Verbrenner-Aus schritthält, ist das ja durchaus korrekt. Und was ist sein Plan, das zu ändern? Er legt einfach die Hände in den Schoß. Diese Unernsthaftigkeit ist es, die mich kirre macht.

5) Schwierigkeitsgrade – “Gamer” und Exklusivität

Die Idylle der frühen Gaming- und eines guten Teils der Retro-Kultur lebt nicht nur, aber auch von der Abwesenheit von allen, die gerade in den 90ern und 00ern nicht als klassische “Gamer” galten: Frauen, People of Color, behinderte Menschen, queere Menschen – eigentlich alle, die eben keine weißen, ablebodied, cis Männer waren. [...] Digitale Spiel(e)kultur, so das gängige Narrativ, war nicht immer das Baumhaus toxischer Nerds, als das Gaming lange galt und häufig immer noch gilt. Stattdessen wurden (Tele-)Spiele als eine Art Spielzeug für die ganze Familie vermarktet – wie etwa auch Brettspiele. [...] Die 90er Jahre waren auch die Zeit, in der Spielzeug im Allgemeinen immer stärker gegendert wurden, Informatik und ganz allgemein alles mit Computern – ursprünglich einmal eine klare Frauendomäne, als es da noch keinen Ruhm zu holen gab – hatte sich schon mit den 70er und 80er Jahren als Männerdomäne selbst neu erfunden und auch andere Nerd-Nischen wie etwa Pen & Paper wurden mehr und mehr mit Klischees von einer Form von pickeliger, sozial unbeholfener Männlichkeit verknüpft, wie sie sich auch in digitaler Spielkultur spiegelte. [...] Ironischerweise waren es keine Gewalt- oder Killerspieldebatten, die “den Gamer” der 80er und 90er Jahre tatsächlich bedrohten und schließlich seinen Untergang einläuten sollten. Diese Diskussionen verliefen sich mit der Zeit weitgehend, auch weil die Forschung nach wie vor keine direkte Kausalität zwischen digitalen Spielen und Amokläufen herstellen kann. [...] Was stattdessen deutlich gefährlicher für die Könige des Baumhauses wurde, waren andere Dinge – MySpace, Facebook, Apple und Nintendo. [...] Mitten in dieser Bedrohung eines möglichen Verbots veränderte sich jetzt auch noch einmal komplett, wer denn nun wo und wie spielte und damit am Medium im Allgemeinen teilhaben konnte und “durfte”. 2006 veröffentlichte Nintendo mit der Wii eine Konsole, die ganz gezielt wieder die gesamte Familie ansprechen sollte. [...] Nintendo wollte nun wieder, dass die gesamte Familie Spiele spielte und deshalb die Wii im Gegensatz zu anderen Konsolen kaufte. Facebook wollte, dass man seine halbe Freundesliste zu FarmVille einlud, weil das seine User*innen auf der Seite hielt. Und mit Smartphones und Tablets waren jetzt auch Zeitfresser, die sich aber in kleine Sessions einteilen ließen und so bald ihren Entwickler*innen-Studios viel Geld einbringen sollten, für immer mehr Menschen jederzeit greifbar. Spiele im Allgemeinen waren inzwischen vieles, aber garantiert nicht mehr exklusiv. Sie waren endgültig zum Massenmedium geworden. (Aurelia Brandenburg, 54Books)

Ich könnte noch endlos viel mehr aus dieser Geschichte der Gaming-Kultur zitieren, aber die obigen Ausschnitte schienen mir die zentralsten. Lest aber unbedingt den ganzen Artikel, der ist es absolut wert. Dass aber das Gaming quasi aus einer vergleichsweise "elitären" Ecke in den Mainstream vorgedrungen ist, hatte zwangsläufig gewisse Verwerfungseffekte zur Folge. Das war und ist immer so. Dass der Umstoß wie so häufig durch Marktkräfte hervorgerufen wurde - die richtige Erkenntnis, dass mit der ganzen Bevölkerung mehr Geld zu verdienen ist als mit einem kleinen Subsegment - und eben nicht irgendwelche finsteren woken Verschwörungen verantwortlich sind, halte ich da auch noch mal für relevant. Dasselbe passiert ja in der Konsensmaschine Disney auch.

Resterampe

a) Gute Diskussion über die Definition von "woke".

b) Sehr lesenswertes Interview zum Mord in Freudenberg.

c) Topp-Beispiel dafür, dass nicht alle Versäumnisse der letzten zwei Jahrzehnte Merkel zuzuschreiben sind.

d) Sehr schöne Zusammenstellung zum Thema "geschlechtergerechte Sprache in Schulen".

e) Längere Spiegel-Reportage über die Blockade der FDP im Europaparlament zum Verbrenner-Aus. Mich erinnert das wahnsinnig an 2010ff. Gleiche ideologische Sackgasse.

f) Die Geschichte von Sharon Stone ist geradezu Irrsinn und zeigt, wie notwendig #MeToo und Konsorten waren und immer noch sind.

g) Guter Thread zum Thema "Singularität des Holocaust".

h) Die sieben größten Probleme der Energiewende.

i) Interessante Bewertung von Lincolns Reconstruction und Bewertung seiner Präsidentschaft.

j) Gedanken zur Zukunft Israels. Siehe dazu auch das hier.

k) Sehr guter Punkt zur Debatte um die Herkunft von Covid.

l) Zwei Punkte zu diesem Lindner-Interview: a) Wie verschoben ist das Weltbild, wenn Investitonen in Kinder keine Zukunftsinvestition sind? Und b): Wow, hat sich die FDP mit dem "Sondervermögen" ein Ei gelegt.

m) Weil wir es von Glück und Geld hatten: hier wird der Unfug wieder verbreitet.

n) Jon Stewart nimmt Larry Summers auseinander. Genau das ist das nötige Framing.

o) Eine vollkommen korrekte Würdigung von Master&Commander.

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