Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Big government is back. How will we pay for it?
Auf dem Jackson Hole Symposium äußerte Professor Barry Eichengreen von der University of California düstere Prognosen hinsichtlich der während der Pandemie und der Finanzkrise angehäuften öffentlichen Schulden. Er und der IMF-Ökonom Serkan Arslanalp argumentierten, dass diese Schulden in absehbarer Zukunft nicht signifikant abnehmen werden, da das Wirtschaftswachstum wahrscheinlich nicht ausreicht, um sie zu reduzieren, und Regierungen eher dazu neigen, die Ausgaben zu erhöhen, anstatt sie zu kürzen. Dies stellt den Konsens über kleinere, weniger interventionistische Regierungen infrage, der seit den 1980er Jahren vorherrscht. Faktoren wie die Pandemie, der Übergang zu grüner Energie und geopolitische Spannungen haben zu mehr staatlichem Eingreifen in entwickelten Volkswirtschaften geführt. Die Finanzierung dieser Interventionen stellt jedoch eine Herausforderung dar, da höhere Kreditkosten es bereits verschuldeten Ländern erschweren, die Anleihemärkte zu nutzen. Die Erhöhung von Steuern ist politisch heikel, und es könnte untragbar werden, jüngere Arbeitnehmer zu besteuern, um Leistungen für ältere Bürger zu finanzieren. Die Rückkehr des fiskalischen Aktivismus erfordert eine Überprüfung der Fiskalpolitik, möglicherweise einschließlich neuer Einnahmequellen und Vermögensteuern. Diese Änderungen in der Besteuerung haben Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, die fiskalische Glaubwürdigkeit und die gesellschaftliche Gerechtigkeit. (Emma Agyemang/Chris Giles, Financial Times)
Ich prophezeie schon seit längerem einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Die Quadratur des Kreises, auf der einen Seite keine zusätzlichen Schulden aufnehmen zu wollen und niemanden durch höhere Steuern zu belasten, den aktuellen Leistungsstandes des Staates beizubehalten (was abseits der Rhetorik völliger Konsens ist) und gleichzeitig Zukunftsaufgaben angehen zu wollen, kann auf Dauer nicht aufrechterhalten werden. An irgendeiner Stelle müssen Anpassungen vorgenommen werden. Ich halte es immer noch für wahrscheinlicher, dass dies auf dem Feld der Schuldenbegrenzungen geschehen wird, aber auch Steuererhöhungen sind grundsätzlich ein heißer Kandidat. Woran ich überhaupt nicht glaube, das ist eine signifikante Senkung der Ausgaben. Das ist weder praktikabel noch politisch durchsetzbar.
2) Union will Abgaben für Arbeitnehmer und Steuern für Unternehmen deckeln
Die Spitze der Unionsfraktion im Bundestag, angeführt von Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, hat ein Maßnahmenpaket zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft vorgeschlagen. Dieses Paket beinhaltet Vorschläge zur steuerlichen Entlastung von Bürgern und Unternehmen sowie zur Förderung von Investitionen und Energieausbau. Die Union fordert eine Investitionsoffensive, die Wirtschaft, Klima und Energie verbindet. Eine "Belastungsbremse" soll die Sozialabgaben bei 40 Prozent deckeln. Überstunden und Arbeit im Rentenalter sollen steuerfrei sein. Die Gesamtsteuerbelastung von Unternehmen soll bei 25 Prozent gedeckelt werden. Die Union strebt einen Strompreis von unter 20 Cent pro Kilowattstunde an und fordert eine Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum. Die Netzentgelte sollen halbiert werden. Zudem sollen steuerliche Anreize für private Investitionen geschaffen und unnötige Bürokratie abgebaut werden. Die Union plant auch Anreize, um ältere Arbeitnehmer länger im Berufsleben zu halten, indem bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei verdient werden können. Die Unionsfraktion hofft offenbar, dass diese Vorschläge ihre Umfragewerte verbessern, die seit Monaten unter der 30-Prozent-Marke liegen. (Handelsblatt)
Das ist ein hervorragendes Beispiel für die an dieser Stelle oft beklagte Tendenz, Politik zu entpolitisieren. Um der ganzen Absurdität noch die Spitze aufzusetzen fordert die FDP eine "Subventionsbremse". Mich wundert ehrlich gesagt, das die LINKE oder SPD nicht schon längst eine Steuersenkungsbremse und die Grünen eine Bremse für irgendetwas anderes gefordert haben (mir fehlt gerade die Fantasie für das passende Beispiel). Es ist eine völlige Absurdität und führt die gesamte Demokratie ad absurdum. Selbstverständlich hat der Vorschlag der CDU genauso wie der der FDP keine Chance auf Umsetzbarkeit; es ist allen Beteiligten auch klar, dass das reines Wahlkampfgetöse und dummes Geschwätz ist. Aber auf der anderen Seite ist immer die Gefahr, dass die Dummschwätzer irgendwann ihren eigenen Unsinn glauben und dann eine Schuldenbremse ins Grundgesetz schreiben.
3) Die Automatisierung und doppelte Sinnlosigkeit von Korrekturen
In einer Weiterbildungsveranstaltung wurde gezeigt, wie DeepL Write Texte orthografisch, grammatikalisch und stilistisch korrigieren kann. Im Vergleich zur manuellen Korrektur durch Menschen sind KI-Tools wie DeepL Write genauer und automatisieren den Korrekturprozess. Dies führt dazu, dass das manuelle Korrigieren von Texten, auch in der Schule, zunehmend sinnlos wird, obwohl es für viele Lehrkräfte nach wie vor eine unverzichtbare Fleiß- und Pflichtübung darstellt. Björn Nölte wies in einem Vortrag darauf hin, dass Korrekturen wenig zur Kompetenzentwicklung beitragen. Er verwies auf eine Studie von John Truscott, die zeigte, dass Korrekturen einen geringen positiven Effekt auf die Schreibgenauigkeit haben, wenn überhaupt. Als Alternative schlägt der Autor vor, Schülerinnen und Schülern Hinweise auf Fehlerquellen zu geben und sie dazu aufzufordern, diese in Zukunft zu vermeiden. Zudem empfiehlt er den Einsatz von Tools wie DeepL Write, um Texte selbst zu überarbeiten und Fehler zu eliminieren. Dies ermöglicht es Lehrpersonen, mehr Zeit für gezieltes Feedback zu verwenden und den Schülerinnen und Schülern zu helfen, korrekte Texte zu verfassen. Insgesamt betont der Autor, dass die manuelle Korrektur von Texten in vielen Fällen nicht sinnvoll ist und alternative Ansätze effektiver sein können. (Philippe Wampfler, Schule Social Media)
Es ist ein typisches Zeichen für etwas, woran das Schulsystem schon seit langem krankt: der Mangel an einer Umsetzung oder auch nur Anerkennung von Forschungsergebnissen. Die Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Didaktik produzieren permanent wertvolle Erkenntnisse - wobei es nach wie vor einen eklatanten Mangel an empirischen Belegen gibt, weil viel zu wenig Mittel für empirische Forschung im eigentlichen Unterricht zur Verfügung stehen - die überhaupt keine Beachtung finden. Die Studie von Truscott ist da nur ein besonders prägnantes Beispiel: wir Lehrkräfte verbringen einen unglaublichen Anteil unserer Arbeitszeit damit, komplett sinnlose Korrekturen anzufertigen, die nicht nur nicht rezipiert werden, sondern potenziell sogar schädlich sind. Es gibt zahlreiche solche Baustellen im Bildungssystem, wo aus reiner Tradition, weil man es halt immer schon so gemacht hat, und aus der lautstarken wie unwissenden Überzeugung der Öffentlichkeit, der Schüler*innen, der Eltern und auch der Lehrkräfte selbst eine Anpassung nicht möglich ist. Ein anderes solches Gebiet sind Hausaufgaben: ihre Wirksamkeit ist zumindest hochgradig fraglich, vor allem in der Form, in der sie im Allgemeinen praktiziert werden. Und dennoch werden sowohl Schüler*innen als auch Eltern jahraus, jahrein damit gequält.
Trotz wirtschaftlicher Turbulenzen und einer abnehmenden Anzahl von offenen Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben viele Unternehmen Schwierigkeiten, ihre sogenannten "Blue-Collar-Jobs" zu besetzen. Diese Jobs erfordern überwiegend körperliche Arbeit und umfassen Bereiche wie Handwerk, Industrie, Einzelhandel und Dienstleistungen. Laut einer Analyse von Forsa im Auftrag von onlyfy by Xing sehen sich 93 Prozent der befragten Unternehmen mit Problemen bei der Besetzung offener Stellen konfrontiert. Die Gründe für den Fachkräftemangel sind vielfältig: 83 Prozent der Unternehmen gaben an, dass es generell zu wenig Arbeitskräfte auf dem Markt gibt. 62 Prozent klagten über unzureichende fachliche Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber, und 55 Prozent nannten hohe Gehaltsansprüche der Kandidaten als Herausforderung. Die Dauer der Stellenbesetzung beträgt bei 44 Prozent der Unternehmen drei bis sechs Monate. Besonders betroffen sind der Dienstleistungssektor und die Industrie. Gleichzeitig sind 37 Prozent der Blue-Collar-Arbeitnehmer offen für einen Jobwechsel, und 21 Prozent sind unzufrieden mit ihrer aktuellen beruflichen Situation. Besonders die Generation Z zeigt eine hohe Wechselbereitschaft. Die Unzufriedenheit der Arbeitnehmer resultiert aus hoher Arbeitsbelastung, Gehaltsfragen und zwischenmenschlichen Problemen am Arbeitsplatz. Jobsicherheit, ein attraktiver Standort und gutes Führungsverhalten sind für die Arbeitnehmer entscheidende Faktoren bei der Wahl eines neuen Arbeitgebers. Die flexible Arbeitszeitgestaltung ist ebenfalls von großem Interesse. Hassler betont, dass die Bedürfnisse der Blue-Collar-Arbeitnehmer in der Diskussion um den Fachkräftemangel stärker berücksichtigt werden sollten, da sie die Mehrheit des Arbeitsmarktes ausmachen. Unternehmen müssen attraktiver werden, um den Fachkräftemangel zu bewältigen. (Rendrikje Rudnick, Business Insider)
Ich finde diese Betrachtung des Fachkräftemangels immer wieder merkwürdig. So ist eine der großen Schlussfolgerungen, die hier im Artikel gezogen wird, dass Unternehmen attraktiver für Bewerber*innen werden müssen. Nur: das mag natürlich dem individuellen Unternehmen helfen, aus einem begrenzten Pool einen größeren Anteil abzubekommen, es löst aber nicht das gesamtwirtschaftliche Problem des Mangels. Dieses lässt sich nur beheben, indem in den jeweiligen Mangelbranchen ausgebildet wird. Gerade hier allerdings bestehen seitens der Unternehmen seit vielen Jahren große Defizite. Diese Eigenverantwortung der Unternehmen für die Heranbildung des Nachwuchses wird viel zu wenig thematisiert; Stattdessen besteht eine merkwürdige Anspruchshaltung der Wirtschaft gegenüber dem Staat, dass dieser für gut ausgebildeten Nachwuchs zu sorgen habe, der den Unternehmen sozusagen schlüsselfertig zur Verfügung steht. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch dieser Gastartikel im Spiegel. Auffällig ist zudem als Nebenbemerkung, wie verbreitet Probleme mit der pünktlichen Zahlung des Gehalts zu sein scheinen. Wenn Unternehmen nicht einmal das hinbekommen, brauchen sie auch nicht über Fachkräftemangel zu meckern.
Der Leitartikel im SPIEGEL behandelt die Affäre um Hubert Aiwanger, den stellvertretenden Ministerpräsidenten Bayerns und Vorsitzenden der Freien Wähler. Aiwanger hat Vorwürfe zurückgewiesen, dass er in den 1980er Jahren an der Verbreitung eines antisemitischen Hetzblatts beteiligt war. Die Medien, darunter die Süddeutsche Zeitung und der SPIEGEL, haben darüber berichtet und forderten Aiwanger auf, die Vorwürfe zu klären. Aiwanger hingegen bezeichnete dies als eine Kampagne gegen ihn und versuchte, das Vertrauen in die Medien zu untergraben. Der Leitartikel argumentiert, dass Aiwanger nicht daran interessiert sei, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern vielmehr versuche, das Vertrauen in die Journalisten zu zerstören. Die Affäre dreht sich um Antisemitismus und Hass gegen Juden, ein ernstes Thema, bei dem Aufklärung von großem Interesse wäre. Aiwanger habe jedoch die Chance zur Aufklärung vertan und versuche stattdessen, das Vertrauen in die Medien zu untergraben. Die AfD profitiere von solchen Angriffen auf die Medien, da sie ihre eigene Ideologie verbreiten könne und Menschen in rechten Blasen isolieren könne. Der Artikel betont die Notwendigkeit, das Vertrauen in die Medien aufrechtzuerhalten und kritisiert den Missbrauch des Begriffs "Kampagne", um Zweifel an den Medien zu säen. (Dirk Kubjuweit, Spiegel)
An den Rändern links wie rechts ist die Ablehnung „der Medien“ bereits seit Langem, wenn nicht sogar schon immer, ein zentraler Teil der politischen Strategie und der eigenen Identität. Ich erinnere mich noch an meine eigene deutlich linke Phase, in der ich davon überzeugt war, dass die „Mainstream-Medien“ alle effektiv gleichgeschaltet, nicht vertrauenswürdig und in einem permanenten Kampagnenmodus seien. Die NachDenkSeiten hatten darauf ja quasi ihre ganze Existenz aufgebaut. Heute kriecht diese Haltung zunehmend in das bürgerliche Spektrum. Was früher einmal den Rändern vorbehalten war, ist bei der CDU zunehmend offizielle Strategie geworden. Das Feindbild Medien, ganz besonders natürlich dass der Öffentlich-Rechtlichen, ist absolut besorgniserregend und passt leider ins Muster der rechten Kräfte weltweit. Es ist zerstörerisch für die Demokratie und wird am Ende, wie Kubjuweit hier beschreibt, auch nur denjenigen nützen, die die Demokratie ablehnen. Die Bürgerlichen rufen hier Geister, die sie nicht mehr loswerden werden.
Resterampe
a) Das tolle an den ÖRR ist, dass sich sowohl Rechte als auch Linke darüber beklagen können. Was eher für eine mittige Ausrichtung spricht, die halt vieles abdeckt.
c) Das Scheitern der Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien.
d) Kann es sein, dass die deutsche Autobranche echt ganz schön viel Einsatz auf eFuels legt? Wenn das nicht klappt, wird ihr Abstieg noch dramatischer als ohnehin.
e) "Everything is bad, I'm doing fine." Echt weird.
f) Mal wieder mehr empirisches Material für die mittlerweile sattsam bekannt beste Strategie gegen Obdachlosigkeit, die wegen der Lust zu strafen nicht gemacht wird. Hier noch mehr zum Thema.
g) Es geht aufwärts mit der US-Wirtschaft. Bidenomics works.
h) Ich hab vor einer Weile mal einen Artikel mit Ariane über toxische Weiblichkeit geschrieben; der Podcast hier greift das Thema auf.
i) Der Podcast zum Thema Clankriminalität ist spannend.
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