Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Jetzt muss die CDU das Klima retten

Der Artikel vom 26. September 2023 im "Spiegel" beschäftigt sich mit der aktuellen Klimapolitik und dem Versagen bei der Bewältigung der Klimakrise. Es wird festgestellt, dass Deutschland sich in einer Phase der Resignation befindet und die Klimaziele nicht erreicht werden. Der Sommer war von extremen Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen geprägt, was auf den Klimawandel zurückgeführt wird. Die Grünen werden als klimapolitischer Motor gesehen, aber ihre politische Wirkung scheint begrenzt zu sein. Die Hoffnung liegt nun auf der CDU und CSU, die aufgrund ihrer etablierten Strukturen in Kommunen und Gemeinden eine bessere Voraussetzung für die Förderung von Klimaschutz vor Ort haben. Es wird betont, dass die Union als Volkspartei die Möglichkeit hat, die Klimaschutzbemühungen zu unterstützen, ohne ideologische Widerstände auszulösen. Der Artikel schließt mit dem Appell an die progressiven Kräfte, die Union als Partner für mehr Klimaschutz zu gewinnen und Klimaschutz als Heimatschutz zu verkaufen. Es wird darauf hingewiesen, dass selbst die vernünftigste Klimapolitik heute auf Ablehnung stoßen würde, wenn sie von den Grünen umgesetzt würde, und dass die Union eine wichtige Rolle spielen kann. (Kurt Stukenberg, Spiegel)

Es ist die alte Theorie von „Only Nixon can go to China“. Nachhaltige Veränderungen beziehungsweise Abrupter Wandel des Status Quo muss von der Partei kommen, die bisher den Status quo verteidigt hat. Und die CDU sind nun einmal die Bremser beim Klimawandel, relativ egal, welcher Theorie der besten Bekämpfung der Klimakrise man folgt. Es bleibt allerdings weiteres Problem bestehen, dass die Thematik politisch ihn mit den Grünen verknüpft ist. Klimaschutz gilt als ein grünes Thema, bei dem der Partei die mit Abstand höchsten Kompetenzwerte zugebilligt werden (fast 40% gegenüber maximal 15% und meist weniger bei allen anderen Parteien). Dieser Eindruck ist ein Problem, weil die Klimakrise kein parteipolitisches Thema ist. Wenn allerdings jeglicher Klimaschutz als ein Einknicken vor den Grünen empfunden wird, Hallo ist das genauso ein Hemmschuh, Cortana wie werden jede Bewegung in der Migrationspolitik als Einknicken gegenüber der AfD gilt. Wie man aus dieser Dynamik herauskommt, bleibt offen. Die anderen Parteien müssen allerdings vermutlich deutlich schärfer ihr eigenes Profil beim Klimaschutz herausstellen und dem Thema Bedeutung beimessen.

2) "Die deutsche Industrie jammert mir zu viel" (Interview mit Adam Posen)

Adam Posen, Leiter des Peterson Institute, einem unabhängigen Thinktank in Washington, D.C., äußert sich zur wirtschaftlichen Lage Deutschlands in einem Interview. Er sieht die kurzfristige Perspektive nicht so pessimistisch und lobt Deutschlands Widerstandsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen. Allerdings räumt er ein, dass die mittelfristigen Prognosen weniger positiv aussehen, insbesondere in Bezug auf die Veränderungen in der Industrie. Posen betont, dass Deutschland sich nicht nur auf die Industrie konzentrieren sollte, da der Anteil der Industrie an Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum abnimmt. Er fordert eine Diversifizierung der Wirtschaft und einen Fokus auf Dienstleistungen sowie Investitionen in Forschung und Entwicklung. In Bezug auf staatliche Unterstützung für die Industrie warnt Posen davor, dass staatliche Eingriffe nicht effektiv sind und junge, gut ausgebildete Menschen dorthin ziehen, wo sie die besten Chancen haben. Er schlägt vor, dass staatliche Mittel besser in Fortbildungen für Arbeitnehmer oder den öffentlichen Nahverkehr investiert werden sollten. Posen lehnt die Idee eines niedrigen Industriestrompreises ab und warnt vor den Umweltkosten und einem möglichen Subventionswettlauf. Stattdessen schlägt er vor, das Geld in Fortbildungen oder den öffentlichen Nahverkehr zu investieren. Er betont auch die Bedeutung einer entschlossenen Reaktion der EU auf das US-amerikanische Investitionsprogramm, den Inflation Reduction Act (IRA), mit Zöllen und Anti-Dumping-Maßnahmen, anstatt auf Subventionen zu setzen. Posen warnt jedoch davor, dass die USA möglicherweise mit Zöllen reagieren könnten, aber er glaubt, dass die USA eher dem Druck nachgeben werden. Abschließend kritisiert Posen das unilaterale Vorgehen der USA im IRA und argumentiert, dass dies die Verfügbarkeit und den Einsatz grüner Technologien weltweit beeinträchtigt und nationale Champions schafft. Er warnt davor, den Globalen Süden im Klimaschutz zu vernachlässigen und sieht die Notwendigkeit einer transnationalen Vereinbarung zur Begrenzung staatlicher Unterstützung. (Marlies Uken, ZEIT)

Subventionen sind politisch gesehen glaube ich in derselben Kategorie wie der Bürokratieabbau: in der Theorie sind alle dafür, in der Praxis desertieren die Truppen dann jedes Mal von der Front. Subventionen haben im konkreten Fall üblicherweise kaum entschlossene Gegner, aber sehr, sehr entschlossene Befürworter mit großer politischer Macht, gegen die sich zu stellen keinerlei elektoralen Wert hat.

Was die neuen Entwicklungen im internationalen Handelsregime angeht, stimme ich Posen völlig zu. Ich habe ähnliche Argumente in den vergangenen Monaten ja auch immer wieder gebracht: der alte Washington Consensus scheint gerade durch eine sanfte Rückkehr von nationaler Schutzpolitik gegenüber der eigenen Industrie und Versuchen, strategische Rivalen von bestimmten Wirtschaftsfeldern auszuschließen, abgelöst zu werden. Wie positiv diese Entwicklung ist, ist fraglich: nicht ohne Grund schließlich ging man Jahrzehnte davon aus, dass möglichst schrankenloser Handel die niedrigstmöglichen Preise bedingt. Das bleibt auch sicherlich richtig, nur scheint sich die Priorität Weg von niedrigsten Preisen hin zu anderen Zielen zu verlagern. Ob diese erreicht werden können und dann den Tradeoff gegebenenfalls wert sind, wird sich zeigen müssen.

3) Gratis ist hier gar nichts

Maria Gomez, eine Arbeiterin bei Ceva Logistics, einem Dienstleister für den Onlineversandhändler Zalando, spricht über die extremen Bedingungen, denen sie und ihre Kollegen ausgesetzt sind. Sie müssen täglich mindestens 41 retournierte Kleidungsstücke pro Stunde bearbeiten. Bei Nichterfüllung droht eine schriftliche Verwarnung, und nach drei Verwarnungen steht die Kündigung im Raum. Der Druck hat kürzlich zugenommen, als das zu erreichende Stundensoll von 39 auf 41 erhöht wurde. Der Betrieb in Neuendorf beschäftigt rund 500 Arbeiter, wovon 96 Prozent Frauen sind, viele ohne Schweizer Pass. Gomez und andere, die über einen Personalverleih angestellt sind, fordern mehr Planungssicherheit, da ihre Arbeitspläne kurzfristig veröffentlicht und spontane Absagen häufig sind. Eine weitere Herausforderung ist die niedrige Bezahlung, insbesondere für diejenigen, die nicht direkt angestellt sind. Temporäre Angestellte haben einen Mindestlohn gemäß Gesamtarbeitsvertrag, während Festangestellte niedrigere Löhne ohne GAV akzeptieren müssen. Der Arbeitskampf, der von der Gewerkschaft Unia unterstützt wird, hebt die prekären Bedingungen hervor, denen die Arbeiter bei Ceva Logistics ausgesetzt sind. (Lukas Tobler, WOZ)

Im Unterleib des Kapitalismus findet sich glaube ich immer eine Sparte, die die unsichtbaren Hilfsdienste für das reibungslose Funktionieren des sichtbaren Gesamtsystems auf Basis von Ausbeutung bis hin zu Menschenrechtsverletzungen organisiert. Wir sind es gewohnt, dass dies außerhalb unserer eigenen Grenzen passiert, ob nun T-Shirts in Bangladesch von kleinen Kindern zusammengenäht werden oder Sklaven in Westafrika unsere Schokolade pflücken. Es ist auf eine perverse Art folgerichtig, schutzlose Migrant*innen im eigenen Land unter massiver Dauerdrohung auszubeuten. Man importiert gewissermaßen die illegalen Zustände ins eigene Land. Das ist ein Beispiel für die Folgen eines permanenten Rechtsbruchs, von dem ich im Artikel über Migration gesprochen habe. Deswegen ist so etwas wie das Lieferkettengesetz auch so wichtig, weil es versucht, diese übel an der Wurzel zu bekämpfen und es darüber auch leichter macht, den Import solcher Methoden zu verhindern, weil man sie nicht irgendwo anders stillschweigend duldet.

4) Brandenburger Tor: Warum die Historikerin Hedwig Richter dafür ist, die Farbe dranzulassen (Interview)

Hedwig Richter, eine Historikerin, verteidigt die Besprühung des Brandenburger Tors durch Klimaaktivisten der "Letzten Generation". Sie sieht die Aktion als moralisch begründeten Protest, der auf die Untätigkeit in Bezug auf den Klimawandel aufmerksam machen soll. Richter betont, dass die eigentliche Bedrohung nicht von den Jugendlichen ausgeht, sondern von einer Gesellschaft, die den Klimawandel ignoriert. Sie findet die Reaktionen auf die Aktion übertrieben und sieht darin eine Ablenkung von wichtigen Klimazielen. Der Druck von außen sei notwendig, um die Demokratie zu schützen und auf die Verantwortung jedes Einzelnen hinzuweisen. Trotz Gegenwind bleibt sie standhaft und betrachtet die Diskussion als Teil des Ziels der Aktion. (Susanne Lenz, Berliner Zeitung)

Es ist für mich interessant, von einer geschätzten Wissenschaftlerin eine Argumentation für die Aktionen der Letzten Generation zu hören. Die Argumente Hedwig Richters haben auch etwas für sich; gleichwohl bleibe ich der Überzeugung, dass die Aktionen der Letzten Generation kontraproduktiv und albern sind und ihr Ziel schon deswegen verfehlen, weil sie in keinem performativen Bezug zur Klimakrise stehen. Wo ich voll bei Richter bin ist die geradezu absurde Konzentration auf die Letzte Generation in der Reaktion des bürgerlichen Deutschland, die von einem Eskalationswillen und einer geradezu fiebrigen Abwehrhaltung geprägt ist, die in keinem Zusammenhang zur Größe und Wirkungsmacht der Bewegung steht. Ohne diese Gegenreaktion würde die Letzte Generation völlig verpuffen, weil sie überhaupt nicht in der Lage wäre, den Alltag signifikanter Größen von Menschen zu beeinflussen. In anderen Worten: Sie ist ein Medienphänomen, groß gemacht durch jene, die sie am meisten ablehnen und die daraus tägliche Energie beziehen. Darin erinnert sie an die Dynamik der AfD. Man könnte grundsätzlich die Behörden einfach ihre Arbeit machen und das bestehende Strafrecht anwenden lassen, während man die Leute gleichzeitig so gut es geht ignoriert. Der Spuk hätte sich schon längst.

5) Die Parabel von Merz und Merkel

Die CDU befindet sich in einem Identitätsstreit nach dem Abschied von Angela Merkel. Unter dem Vorsitz von Friedrich Merz suchte die Partei ein konservativeres Profil, doch seine Äußerungen wurden mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert. Die von Merz eingeleitete Neuausrichtung stößt auf Widerstand, da sie teilweise an Positionen der AfD erinnert. Die Autorin betont, dass Merz' Mangel an Takt und Anstand sowie die Sehnsucht nach einer Volkspartei in polarisierten Zeiten die Gründe für den Widerstand sind. Angela Merkel wird als Gestalterin einer vielfältigen CDU gelobt, die unterschiedliche Positionen zusammenführte. Die Frage, ob eine scharfe Profilierung mit einer echten Volkspartei vereinbar ist, wird aufgeworfen, während Merz aufgefordert wird, von einer Kanzlerkandidatur abzusehen. (Susanne Beyer, Spiegel)

Auch wenn Beyer behauptet, das habe niemand vorhersehen können: sorry, ich habe das immer prognostiziert. Angela Merkels Strategie der absoluten Konfliktvermeidung und permanenten Positionierung in der Mitte durch Neutralisierung jeglichen Aufregungsgehalts war der maßgebliche Faktor, warum sie sich so lange an der Macht hatte halten können. Dies scheint mir etwas zu sein, das ihre Kritiker*innen nie verstanden haben. Selbstverständlich gab es innerhalb der CDU ein Bedürfnis nach einer „reineren“ Politik; das ist in politischen Organisationen immer so. Die Basis fühlt sich grundsätzlich von der Spitze verraten, besonders wenn diese in Regierungsverantwortung ist, und wünscht sich eine klarere Profilierung. Nur reicht die Basis einer Partei niemals aus, um gute Wahlergebnisse zu erreichen. Merz bespielt seit seiner Wahl zum Vorsitzenden aber weitgehend die Basis, er predigt zu den Konvertierten. Damit betreibt er die gegenteilige Strategie Merkels: statt asymmetrische Demobilisierung betreibt er symmetrische Mobilisierung. Diese allerdings ruft genauso Abwehrkräfte wie eigene Leute hervor. Ob er da mit einem Netto-Plus herauskommt, bleibt abzuwarten.

Resterampe

a) Als Nachtrag zu der Habeck-Diskussion mit Stefan Pietsch: mir scheint das Potenzial weiter zu existieren.

b) Niemand blockiert so effektiv wie die FDP, die blockiert sich auch selbst.

c) Echt gruselig.

d) Spiegel-Artikel von 1980, dessen Bedeutung für heute sich schnell erschließt.

e) Die Gesetzeslage zu Kinderpornografie ist so unendlich kaputt. Solche Scheiße passiert, wenn man reflexartig immer nur Gesetze verschärft ohne nachzudenken.

f) Why we haven't had a woman president.

g) Sind Unternehmer etwa schuld an der Inflation? Siehe auch beim Spiegel.

h) Wahre Worte.

i) Das amerikanische Justizsystem ist echt kaputt.

j) Spannender Artikel über die aktuelle Krise im Kosovo.

k) Have Republicans Learned Nothing From the War on Terror?

l) Die deutsche Mitte. Nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht den Hinweis.

m) Faschismus muss wieder peinlich werden.

n) Elon Musk versucht ja gerade, sich zugunsten der AfD in die deutsche Politik einzumischen. Gleichzeitig passiert das hier.

o) Ich habe "Ernstfall - Regieren am Limit" in einem kurzen Thread rezensiert.

p) Diese Opfererzählung von Konservativen ist echt faszinierend.

q) Albrecht von Lucke hat was zur AfD.

r) Wie umfassend "Refugees welcome" war, wird gerne verdrängt.

s) Noch ein Beispiel für diese völlig abstruse Debatte um Pullfaktoren.

t) Und die FDP blockiert ERNEUT die Kindergrundsicherung. Mal sehen, mit welchem Argument das dieses Mal keine Blockade ist...

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